Die ostjüdische Einwanderung und die Wohnungsfrage

Aus: Die Einwanderung der Ostjuden - Eine Gefahr oder ein sozial-politisches Problem
Autor: Senator, David Werner Dr. (1896-1953) Sozialarbeiter und Politiker, Verwaltungsbeamter und Vizepräsident der Hebräischen Universität Jerusalem, Erscheinungsjahr: 1920
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Ostjuden, Einwanderung, Einwanderer, Deutschland, Russland, Polen, Progrome, Gewalt, Krieg, Vertreibung, Wohnungsnot, Gründe, Not, Elend, Arbeitsplätze, Flüchtlinge, Solidarität, Glaubensfreiheit, Religion, Nächstenliebe, Wahrheitsliebe, Berichterstattung, Medien, Wahrheit, Öffentlichkeit, Kultur, Parteien, Gerechtigkeit
Die durch den Krieg eingetretenen Verhältnisse haben zu einer außerordentlich ungünstigen Gestaltung des großstädtischen Wohnungsmarktes, besonders in Berlin, geführt. Kein Zweifel, dass die zum Teil sehr schwierige Lage ein behördliches Eingreifen rechtfertigte und notwendig machte. Wenn man nun objektiv den Gründen dieser Wohnungsnot nachgeht, wird man als solche vor allen Dingen die Einstellung fast jeglicher Bautätigkeit während 6 Jahren, die durch die Gründung neuer Haushalte infolge Verheiratung notwendige Vermehrung des Wohnungsbedürfnisses und die außerordentliche Inanspruchnahme von Wohnräumen für Bürozwecke finden. Selbstverständlich aber kann und soll nicht geleugnet werden, dass auch der Zuzug zahlreicher Ausländer eine große Belastung darstellt, besonders in den Fällen, wo dieselben infolge des schlechten Standes der deutschen Valuta imstande sind, ohne Rücksicht auf die hohen Preise ganze Etagen für eine geringe Personenzahl zu mieten, wie es im Berliner Westen vielfach der Fall ist.

Nachdrücklichst aber muss Verwahrung eingelegt werden dagegen, dass die an sich nur einen kleineren Teil der zugezogenen Ausländer darstellenden ostjüdischen Einwanderer nun auch noch, wie schon der Schuld an allen andern Missständen angeklagt, für die trübe Lage des Wohnungsmarktes verantwortlich gemacht werden. Wenn bei den unter den Ausländern des Berliner Westens zahlreichen Russen, die zum Teil aus politischen Rücksichten — Organisierung des Kampfes gegen die Sowjetrepublik Russland usw. — in Berlin Aufenthalt genommen haben, sich auch eine Anzahl Juden befindet, die ihrem ganzen sozialen Habitus nach zum russischen Kulturkreis bereits gehören und an die man auch bei den Beschuldigungen gegen die ,,Ostjuden" gar nicht denkt, so wird nichts dagegen einzuwenden sein, dass man hier eine übermäßige Inanspruchnahme von Wohnräumen energisch verhindert. Ganz anders aber liegen die Dinge in Bezug auf die Massen der ostjüdischen Einwanderer, die man ausschließlich im Auge hat, wenn man von der ungeheuren Belastung des Wohnungsmarktes durch die Ostjuden spricht. Wie leichtfertig bei dieser ganzen Frage Beschuldigungen aufgestellt werden, ohne die nötigen Beweise zu haben, beweist die Tatsache, dass man allen Ernstes behauptet hat, die armseligen, vor den Pogromen bzw. der Einziehung zum Militär flüchtenden, durch vielstündige Arbeit ihr Leben fristenden jüdischen Handwerker nähmen zwar zur Zeit ihrer Ankunft in Berlin im Scheunenviertel Wohnung, verzögen aber schon wenige Monate nach ihrer Ankunft in den Westen und belegten die Paläste des Kurfürstendamms, Besondere Erhebungen, die das Arbeiterfürsorgeamt durch seine Beamten hat machen lassen, haben wie jedem einsichtigen, mit den Verhältnissen nur einigermaßen vertrauten Beurteiler von vornherein klar war, die völlige Haltlosigkeit dieser Behauptung erweisen. Selbst die schon im Frieden in Berlin wohnenden Ostjuden denken gar nicht daran, ihr Viertel, in dem sie als in einem Stück Heimat fest verwurzelt sind, zu verlassen; erst recht bleiben die während des Krieges und nach der Revolution neu Eingewanderten der Gegend treu, wo sie zuerst nach ihrer Ankunft in Berlin die werktätige Hilfe ihrer Glaubens- bzw. Stammesgenossen empfangen haben und wo für ihre religiösen und kulturellen Bedürfnisse in der von der Heimat her vertrauten Weise gesorgt ist.

Die Art nämlich der ostjüdischen Siedlung — und in dieser Hinsicht ist ja die jetzige Ostjudensiedlung in Berlin keine neue Erscheinung — ist einer Zerstreuung über die Verschiedenen Stadtviertel gar nicht günstig. Es ist eine allgemein bekannte Tatsache — und die Ostjudenviertel New-Yorks und Londons sind die bisher bekanntesten Beispiele — , dass zum Teil aus den oben erwähnten Gründen auch in den Ländern, wo von einer jüdischen Massensiedlung eigentlich nicht gesprochen werden kann, eine räumliche Konzentrierung der ostjüdischen Einwanderer stattfindet. Zu den angeführten Gründen, die in der Psychologie und den eigenartigen Kulturverhältnissen der ostjüdischen Massen liegen, kommt die überall, wo Einwanderer in dem Einwanderungsland schon Stammesangehörige vorfinden, in Erscheinung tretende Tatsache, dass die neuen Einwanderer sich zunächst an ihre Stammesgenossen wenden, bzw. in ihrer Nähe Wohnung nehmen. So entstanden sogenannte „Kolonien" oder „Quartiere".

Der enge Zusammenhang nun, in dem durch die religiöse und kulturelle Bindung die neueingewanderten Ostjuden mit der alten ostjüdischen Siedlung in fast allen Fällen stehen, hat seinen großen Einfluss auf die Wohnungsbedürfnisse und Wohnungsverhältnisse der neueingewanderten Ostjuden. An sich sind zweifellos entsprechend der eigentümlichen Zivilisation der Herkunftsländer die Wohnungsansprüche der Ostjuden geringer als die der entsprechenden deutschen Bevölkerungsschicht, Wenn auch der Bericht des Polizeipräsidenten Ernst an den Minister des Innern, der von einer durch die unglaublichen Wohnungsverhältnisse der Ostjuden für Berlin drohenden Seuchengefahr spricht (was freilich nicht hindert, dass in demselben Bericht gegen die Ostjuden Anklage erhoben wird, dass sie die Wohnungsnot verschuldet hätten), in dieser Hinsicht übertrieben ist, so muss doch festgestellt werden, dass allerdings die Wohnungsverhältnisse der Ostjuden im allgemeinen, an deutschen Verhältnissen gemessen, schlechte sind. Erhebungen des Arbeiterfürsorgeamtes haben ergeben, dass Wohnungen, bestehend aus Stube, Kammer und Küche für sechs und mehr Personen häufig sind, dass nur in ganz seltenen Fällen man die Belegziffer von zwei Personen für ein Zimmer unterschritten findet. Diese Wohnungsverhältnisse haben sich durch die in den letzten Jahren erfolgte Zuwanderung natürlich schwieriger gestaltet, da aus den oben erwähnten Gründen der größte Teil der Zugewanderten in den von den früher Eingewanderten inne gehabten Wohnungen noch beherbergt wird, ohne dass durch diese Art der ,,Zwangseinquartierung", die alle behördlichen Maßnahmen in den erheblich geräumigeren Wohnungen des Westens bisher nicht haben durchführen können, eine Belastung des Wohnungsmarktes eintrat. Aber ein generelles Verbot, an Ausländer möblierte Zimmer und Schlafstellen abzugeben, stört gerade jene reicheren Ausländer nicht, die in den mondänen Stadtvierteln tatsächlich die Wohnungsnot verschärfen; diese reicheren Leute aus aller Herren Länder, die man den ostjüdischen Flüchtlingen ohne jede Berechtigung anzuhängen pflegt, sind ohne weiteres in der Lage, dem Verbot auszuweichen und sich genügend viel Zimmer in den großen Hotels und Pensionen zu beschaffen. Anders ist es mit den armen Flüchtlingen, die, wie wir sahen, die allgemeine Wohnungsnot kaum nennenswert beeinflussen. Jedes derartige Verbot trifft besonders die ostjüdischen Durchwanderer, die auf der Reise nach Amerika befindlich, in Deutschland auf ihre Papiere bzw. Schiffskarten warten; es trifft aber auch ebenso eine große Anzahl von Arbeitern, die mittellos oder mit geringen Mitteln arbeitswillig und arbeitsfähig nach Berlin gekommen sind und eine gewisse Zeit warten müssen, bis es gelingt, sie in Arbeit zu bringen. Sie sind der schamlosesten Ausbeutung ausgeliefert, wie ein Bericht über Herbergen in Berlin aus dem Korrespondenzblatt des Jüdischen Arbeiteramtes besagt.*) Der Bericht, der über geradezu skandalöse Zustände unterrichtet — werden doch Stühle zu Preisen von 2 bis 3 M. pro Nacht vermietet, dünne Schnitten trockenen Brotes für 0,60 M, an die Arbeiter abgegeben — ist recht lesenswert. Hier Abhilfe zu schaffen, ist naturgemäß eine der dringendsten Aufgaben des Arbeiterfürsorgeamtes. Die Anführung der genannten Tatsachen aber müsste wohl hinreichend davon überzeugen, dass diese armen zusammengepferchten Menschen nicht für die Wohnungsnot verantwortlich gemacht werden können. Mit wenig Worten ist hier noch auf die Beschuldigung der Seuchengefahr, die in dem Bericht des Polizeipräsidenten Ernst aufgebracht wird, zu entgegnen. Es dürfte der Hinweis genügen, dass im ganzen Ostjudenviertel trotz der äußersten Beengtheit und einer damit zusammenhängenden Unreinlichkeit sich im Kriege keine Seuchen ergeben und auch bis jetzt ein Auftreten von Seuchen und epidemischen Krankheiten nicht gezeigt hat.

Dennoch hat naturgemäß, um eine, wenn auch noch so geringe Belastung des Wohnungsmarktes durch die ostjüdischen Einwanderer zu verhindern bzw. einzuschränken, die jüdische Selbsthilfe einzusetzen und zwar ist dieses möglich, ohne dass der Vorwurf erhoben werden kann, dass es sich nun eben mal wieder zeige, dass die Juden nur für ihre Glaubens- bzw. Stammesgenossen gesorgt hätten. Denn wie die ostjüdischen Gassen als Wohnstraßen für die deutschen Arbeiter kaum in Betracht kommen, so ist es auch möglich, durch die jüdische Selbsthilfe Räumlichkeiten freizumachen, die sonst zur Wohnungsbeschaffung nicht herangezogen werden könnten. Das Arbeiterfürsorgeamt hat, nachdem es seit seiner Reorganisation im März 1920 nunmehr alle großen jüdischen Organisationen und Verbände umfasst, sich mit Energie der Wohnungsbeschaffung angenommen. Seine Bemühungen beginnen bereits jetzt bedeutende Erfolge zu zeitigen. Das alte Krankenhaus der jüdischen Gemeinde in der Auguststraße soll zu einer großen Herberge umgewandelt werden. Die Errichtung von Baracken auf der jüdischen Gemeinde gehörigen Terrains ist vorgesehen. Bisher als Volksküchen dienende Räume werden, der großen Notlage Rechnung tragend, freigemacht, um Raum zu bieten für das Aufschlagen von Pritschen und anderen Schlafgelegenheiten, Endlich ist sogar die Heranziehung von Synagogenräumen geplant und in Angriff genommen. Es ist anzunehmen, dass durch alle diese vom Arbeiterfürsorgeamt unternommenen Maßnahmen, mit denen Hand in Hand der Ausbau der bisherigen Herbergen und ihre Reorganisierung geht, eine Entlastung herbeigeführt wird, um den geringen Druck, den die ostjüdische Einwanderung auf den Wohnungsmarkt etwa doch ausübt, noch erheblich zu vermindern.

*) Vergl. auch das Ostjudenheft der „Neuen jüdischen Monatshefte", März 1920, Berlin, Verlag der , „Neuen jüdischen Monatshefte", Seite 259—261.

greiser Jude aus dem Osten Europas

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junge jüdische Frau

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