§ 9. Polen nach der ersten Teilung

Am Vorabend der durch die Revolution von 1789 hervorgerufenen Krise im Leben der west-europäischen Juden, befand sich das große jüdische Zentrum in Polen in einem Zustande politischer und gesellschaftlicher Auflösung. Es war dies der Moment zwischen der ersten (1772) und der zweiten (1793) Teilung Polens. An dem ungesunden Organismus der Polnischen Republik wurde die erste Vivisektion vorgenommen: Russland nahm sich Weißrussland, Österreich Galizien, Preußen Pommern und einen Teil der Provinz Posen. Damit wurde auch der kompakte Organismus der polnischen Judenheit zerstückelt. Ein Teil dieser eigenartigen, in sich geschlossenen Masse wurde mit einem Male zum Gegenstande der „Reformexperimente“ im Laboratorium Joseph II.; der andere sah sich in die Rolle der ,, Geduldeten“ in der Staatskaserne Friedrichs II. versetzt, der die polnischen Provinzen viel lieber ohne die jüdische Bevölkerung genommen hätte; der dritte Teil geriet unter die Botmäßigkeit Rußlands, das sich bis dahin auch mit dem Vorhandensein eines Häufleins Juden innerhalb des kleinrussischen Grenzgebietes nicht befreunden konnte. Das nach der chirurgischen Operation des Jahres 1772 übriggebliebene zusammengeschrumpfte Zentrum der polnischen Judenheit machte auf seine Weise die Krämpfe des im Todeskampfe liegenden Staates, dem noch zwei Teilungen bevorstanden, durch. Das sterbende Polen warf sich hin und her und rang nach einem Lebenselixier in den Reglementen des Ständigen Rates, in den Reformen des Vierjährigen Reichstages (1788 bis 1791). Im Zusammenhang mit den allgemeinen Reformen machte sich das Bedürfnis nach der Heilung des alten Gebrechens — der Lösung der Judenfrage — fühlbar. Die Finanzkommission des Vierjährigen Reichstags zog Erkundigungen über die Zahl der jüdischen Bevölkerung in Polen nach der ersten Teilung und über deren wirtschaftliche und kulturelle Lage ein; hier sind die Ergebnisse der offiziellen Untersuchungen, wie sie uns in den Ermittelungen eines der Kommissionsmitglieder, des Geschichtsschreibers Tadeusz Czacki, der die jüdische Frage studierte, vorliegen:

Nach den offiziellen Angaben zählte die jüdische Bevölkerung von Polen und Litauen gegen das Jahr 1788 ungefähr 617.000 Seelen; auf Grund einer ganzen Reihe von Berichtigungen weist Czacki mit Recht darauf hin, dass die wirkliche Zahl der Juden, die sich aus Erwägungen fiskalischer Natur der offiziellen Registrierung entzogen hatten, wenigstens die Ziffer 900.000 erreichte. Dies entspricht beinahe dem glaubwürdigen Hinweis Butrimowiczs', des Mitgliedes der „jüdischen Kommission“ am „Vierjährigen Reichstag“, dass die Juden in Polen ein Achtel der gesamten Bevölkerung (8.790.000) ausmachen. Infolge der zu jener Zeit stark eingebürgerten Sitte, frühzeitige Ehen zu schließen, vermehrte sich die beinahe eine Million zählende jüdische Bevölkerung sehr rasch. Aber eben diese Sitte war es, die die erhöhte Sterblichkeit der jüdischen Kinder und die zunehmende Kränklichkeit der jungen Generation zur Folge hatte. Die Schulbildung der Kinder beschränkte sich auf das Studium des religiösen Schrifttums, insbesondere des Talmuds. Der in jüdischen Händen befindliche Handel verteilte sich auf dreiviertel der Gesamtausfuhr und ein Zehntel der Einfuhr. Für seinen Lebensunterhalt verwendete der jüdische Kaufmann nur die Hälfte dessen, was der christliche Kaufmann verbrauchte, und daher war auch der jüdische Handelsmann in der Lage, seine Waren zu mäßigeren Preisen abzusetzen. Sieht man von Groß-Polen ab, so bildeten die Juden in der Provinz die Hälfte aller Handwerker. Unter den Handwerkern überwogen Schuhmacher, Schneider, Kürschner, Goldarbeiter, Zimmerleute, Steinmetze und Barbiere; im ganzen Lande gab es nur 14 Familien, die Ackerbau trieben. Es kam nur selten vor, dass ein von einem Juden erworbenes Vermögen in seiner Familie einige Generationen hintereinander verblieb. Es lag dies an den häufigen Zahlungseinstellungen und an der Neigung zu gewagten Unternehmungen. Die gesamte jüdische Bevölkerung bestand zu einem Zwölftel aus „Müßiggehern“, d. h. aus Leuten, die keine bestimmte Beschäftigung hatten ; zu einem Sechzigstel aus Bettlern.


Zu diesen Ergebnissen der offiziellen Zählungen und anderweitigen Beobachtungen muss hinzugefügt werden, dass eines der Hauptgewerbe der Juden zu jener Zeit die „Schankwirtschaft“ war. Auf den Gütern der Gutsherren stand die Schankwirtschaft in einem engen Zusammenhange mit der Pacht- und Herbergswirtschaft. Zugleich mit der Verpachtung verschiedener Zweige der Landwirtschaft (Molkerei, Weideplätze, Wald u. dgl.) ging an den Juden auch das „Recht der Propination“, d. i. des Branntweinbrennens und des Ausschankes in den Dorfschenken und Herbergen über. Diese Beschäftigungen brachten den Juden zu Konflikten mit den Bauern, mit den an die Scholle gefesselten leibeigenen Bauern, den in die Schenke nicht der Wohlstand, — sondern die bittere Not trieb, in die ihn der schwere Frondienst brachte. An der Tür der Schenke wurde das letzte Stadium der bäuerlichen Verelendung besiegelt, und daraus entstand natürlich die Anschauung, dass der jüdische Schankwirt den Sandmann ruiniere. Diese Beschuldigung wurde gegen die Juden von jenen Gutsherren, Verfechtern der Leibeigenschaft erhoben, die in der Tat die ganze Verarmung ihrer bäuerlichen Sklaven verschuldeten, und aus ihrem an die Juden verpachteten Rechte der Propination die meisten Vorteile zogen. Das Schankgewerbe übte auf die Juden einen demoralisierenden Einfluss aus. Die Lage des Pächters zwischen dem verschwenderischen, selbstherrlichen Gutsherrn und dem zu Boden gedrückten leibeigenen Bauern war nicht beneidenswert. Für den Gutsbesitzer war der Pächter ebenfalls nur ein Knecht, mit dem er nicht besser, als mit dem leibeigenen Bauer umging. Nicht selten traf es sich, dass der Pächter für den schlechten Zustand der Wege und Brücken vom Gutsherrn Prügel bekam; gar oft kam es vor, dass der Gutsherr im Trunke den Pächter und dessen Familie verhöhnte. Im Tagebuche eines Gutsbesitzers aus Wolhynien vom Jahre 1774 finden wir beispielsweise solche Aufzeichnungen: „Der Pächter Herschko bezahlte mir nicht die aus früheren Terminen bereits fälligen 91 Taler. Ich sah mich daher genötigt, das Geld zwangsweise einzutreiben. Nach dem Vertrage steht mir im Falle der Nichtbezahlung das Recht zu, ihn samt Frau und Kindern für beliebig lange einzusperren, bis er mir die Schuld bezahlt. Ich ließ ihm Fesseln anlegen und ihn in einen Schweinestall sperren, aber seine Frau und seine Bachurim (erwachsene Kinder, Burschen) ließ ich in der Herberge zurück; nur den jüngsten Sohn Lejser nahm ich zu mir auf die Meierei und befahl, ihn im Katechismus und in den Gebeten zu unterrichten.“ Man zwang den Knaben, das Zeichen des Kreuzes zu machen und Schweinefleisch zu essen; und nur die Ankunft von Juden aus Berditschew, die die Schuld des ruinierten Pächters bezahlten errettete den Vater vom Gefängnis und den Knaben von der gewaltsamen Taufe.

Was drängte die jüdische Masse zu diesem niedrigen Gewerbe der Pacht- und der ländlichen Schankwirtschaft? Die Juden, die ein Achtel der gesamten polnischen Bevölkerung ausmachten, gaben die Hälfte aller Handwerker ab und drei Viertel der Vermittler im Ausfuhrhandel (in der Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte: Holz, Flachs, Fellen und Rohstoffen). Aber alle diese Beschäftigungen reichten augenscheinlich nicht aus, den Lebensunterhalt zu sichern. Die Zünfte und Gilden, in denen sich nicht wenige Deutsche befanden, nahmen ebensowenig in Polen, wie im Westen jüdische Handwerker und Handelsleute in ihre Organisationen auf, wodurch ihr Tätigkeitsbereich äußerst eingeengt wurde. Von diesen Kleinbürgern und Kaufleuten, die in der Zusammensetzung der Munizipalitäten überwogen, hing es in den meisten Städten ab, ihren jüdischen Konkurrenten das Recht auf Handel und Gewerbe zu verleihen und zu versagen. Es hat der Anschein, als sei die Reichstagsverfassung vom Jahre 1768, die die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden in den Städten unter die Kontrolle der Munizipalitäten stellte, von diesen letzteren diktiert worden: „Sintemal die Juden den Städten und den städtischen Bürgern unerträgliches Unrecht antun und die Nahrungsmittel entziehen . . . beschließen wir: dass die Juden in allen Städten und Städtchen, wo sie keine besonderen, von der Verfassung bestätigten Vorrechte besitzen, sich gemäß den mit den Städten geschlossenen Verträgen aufzuführen haben, ohne sich dabei, unter Gefahr harter Strafen, große Rechte anzueignen.“ Selbstverständlich gingen alle solche ,,Verträge“ seitens der christlichen Geschäftsleute auf die gesetzliche Unterbindung oder Einschränkung der jüdischen Konkurrenz hinaus. Auf diese Weise drängten die Urheber der Reichstagsverfassung, die Gutsbesitzer und Städter, selber die Juden aus den Städten hinaus und trieben sie auf das Gebiet der ländlichen Pacht- und Schankwirtschaft.

Die nach der ersten Teilung Polens erlassene Reichstagsverfassung vom Jahre 1775, die das oberste Regierungsorgan, „den ständigen Rat“ (Rada nieustajaca) instituierte, erhöhte den Betrag der von den Juden zu erhebenden Kopfsteuer (von zwei auf drei Gulden von jeder Seele beiderlei Geschlechts, mit den Neugeborenen beginnend), zugleich machte sie den Versuch, die jüdischen Eheschließungen gesetzlich zu normieren, wenn sie auch dabei nicht nach dem harten westeuropäischen Muster verfuhr. Den Rabbinern wurde untersagt, Ehen unter solchen Personen zu schließen, die keine vom Gesetze erlaubte Beschäftigung, sei es Gewerbe, Handel, Ackerbau oder eine Anstellung, hatten, und die nicht imstande waren, die Quelle ihres Lebensunterhaltes anzugeben. Übrigens wurde dieses Gesetz in der Praxis des Lebens niemals angewandt.

Das alte Polen hatte keine besondere ,,Ansiedelungszone“ für die Juden; ihnen war bloß der Aufenthalt in einigen „privilegierten“ Städten verboten. Zu diesen Städten gehörte auch die Hauptstadt Warschau. Von jeher war es den Juden verboten, in Warschau einen ständigen Wohnsitz zu haben; es war ihnen nur gestattet, in der Zeit der Reichstagstagungen zu kommen, in der die Jahrmärkte abgehalten wurden. Die Verfassung vom Jahre 1768 bestätigte diese „alte Sitte“ der zeitweiligen Zulassung der Juden nach Warschau, was sie als „allgemein nützlich und als Mittel gegen die Teuerung“ begründete, welche letztere sich immer als Folge des Ausbleibens jüdischer Konkurrenz zeigte. In der Hauptstadt bürgerte sich folgende Ordnung ein: Zwei Wochen vor der Eröffnung des Reichstags ließ der Kronmarschall der Stadt durch Posaunenstöße verkünden, dass es den ankommenden Juden gestattet sei, Handel und Gewerbe zu treiben, und zwei Wochen nach Abschluß der Landtagstagung wurde, ebenfalls durch Posaunenstöße kundgegeben, dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, wo die Juden die Stadt zu verlassen haben; die Zögernden wurden durch polizeiliche Gewalt aus der Stadt gejagt. Am nächsten Tag kehrten jedoch die Fortgejagten als Neuangekommene unter verschiedenen Vorwänden zurück und hielten sich dort einige Wochen auf, indem sie die Aufseher durch Bestechungen für sich gewannen. Nun führte der Kronmarschall Lubomirski eigene Erlaubniskarten zum Preise von je einem Silbergroschen ein, die jeder neu ankommende Jude zu lösen hatte und die ihn zu einem fünftätigen Aufenthalte in der Hauptstadt berechtigten; ohne eine solche Karte wagte kein Jude sich auf der Straße zu zeigen. Und bald zeigte es sich, dass diese Aufenthaltsgebühren dem Marschall eine jährliche Einnahme von ungefähr 200.000 Gulden (polnische) sicherten. Als einige hohe Beamte, die im Besitze vieler Viertel der Stadt Warschau waren, die Möglichkeit sahen, sich auf Kosten der jüdischen Rechtlosigkeit zu bereichern, gestatteten sie den Juden, für eine bestimmte Vergütung auf ihren Besitztümern hinter dem Wall zu wohnen. Und so kam es, dass sich eine ganze Ansiedelung bildete, die unter dem Namen das „Neue Jerusalem“ bekannt war Die christlichen Kleinbürger der Stadt Warschau erhoben ein Jammergeschrei: sie forderten die strikte Anwendung des Gesetzes, das den ständigen Aufenthalt der Juden in Warschau verbot. Lubomirski ergriff harte Maßnahmen gegen die Juden, ohne dem Einspruch der hochgestellten Hausbesitzer und selbst der Fürsprache des Königs irgendwelche Beachtung zu schenken : am 22. Januar 1775 wurden die Juden aus Warschau vertrieben, ihre Wohnungen im Neuen Jerusalem wurden zerstört, und alle ihre Waren nach dem Zeughaus und den Kadettenkasernen geschafft und ausverkauft. Das war ein harter Schlag für die handeltreibende jüdische Bevölkerung, die sich auf diese Weise vom politischen und kommerziellen Zentrum des Landes abgeschnitten sah. Man war wieder gezwungen, sich mit den vorübergehenden Aufenthalten für die kurze Dauer der Landtagstagungen zu begnügen ; mit der Zeit aber stellte sich das frühere Umgehen des Gesetzes wieder ein. Auf eine vom Magistrat erhobene Klage hin ging die Administration im Jahre 1784 von neuem daran, Warschau von den Juden zu säubern. Vom Ende des Jahres 1788, als die Tagung des Vierjährigen Reichstags begann, erfuhr die Lage eine Veränderung. Die Juden gelangten schließlich zur Einsicht, dass, da die Tagung des Reichstags ununterbrochen dauerte, auch ihr Wohnrecht in der Hauptstadt keiner Beschränkung durch irgendwelche Frist unterliegen konnte. Und so sammelte sich in Warschau eine jüdische Bevölkerung von ein paar Tausend Seelen an, die sich im Zentrum der Stadt niederließen. Dieser Umstand hatte gegen die Neuangekommenen die Entrüstung der Kleinbürger und des Magistrates heraufbeschworen, was in der Folge zu einem blutigen Zusammenstoß führte (im Jahre 1790 ; s. weiter unten, § 42).

So kämpften Gesetz und Leben gegeneinander; das Leben wandelte das Gesetz, welches den Bedürfnissen und Anforderungen des ersteren stracks zuwiderlief, in eine Fiktion um; aber das Gesetz rächte sich zuweilen am Leben durch plötzliche Schläge. In die acht Millionen Seelen zählende Masse der polnischen Bevölkerung drang die Million Juden wie ein Keil ein, der sich unmöglich wieder hinausdrängen ließ, nachdem er ursprünglich die Lücke der fehlenden handelsindustriellen Klasse ausgefüllt und im Laufe der Jahrhunderte dem Volke der Adligen und der leibeigenen Bauern als befestigende Klammer gedient hatte. Jetzt suchte ihn ein anderer Keil hinauszudrängen — das christliche bürgerliche Element; aber dieses vermochte ihm nicht beizukommen. Die Judenheit war schon allzueng mit dem wirtschaftlichen Organismus Polens verwachsen, dem sie in nationaler und geistiger Hinsicht fremd blieb. Darin lag die ganze Tragik der jüdischen Frage in Polen zur Zeit der Teilungen. Das durch die Katastrophe des Jahres 1772 aufgerüttelte Polen drängte nach Reformen. Es entstanden zwei Lösungsmethoden der jüdischen Frage: die eine repressiver Natur, vom alten Geiste der Szlachta durchdrungen, die andere verhältnismäßig liberal, im Geiste „der gewaltsamen Aufklärung“ des Kaisers Joseph II. Die erste fand in dem Reichstagsentwurf von Zamoiski (1787 — 1780), die andere in den dem reformatorischen Vierjährigen Reichstag (1789) vorgelegten Entwürfen des Butrimowicz und Czacki ihren Ausdruck.

„Der ruhmgekrönte Exkanzler (Andrej Zamoiski)“ — sagt ein polnischer Historiker, ,,arbeitete das Reglement eher in der Absicht aus, die Juden loszuwerden, als in der Absicht, sie mit dem Volksorganismus (Polen) gewaltsam zu verschmelzen.“ Das Reglement Zamoiskis trägt einen polizeilich-kanonischen Charakter. Den Juden wird das Wohnrecht nur in jenen Städten gewährt, wo sie auf Grund ehemaliger Vereinbarungen mit den Munizipalbehörden zugelassen werden; was die anderen Städte anbetrifft, so dürfen sie sich dorthin begeben, nur um die daselbst stattfindenden Messen und Märkte zu besuchen. In den Städten müssen sie in besonderen Straßen wohnen, in völliger Absonderung von den Christen. Jeder erwachsene Jude ist verpflichtet, sich bei der lokalen Behörde zu melden und den Beweis zu erbringen, dass er entweder Händler ist, der über ein Vermögen von nicht weniger als tausend (polnischen) Gulden verfügt, oder Handwerker, Pächter und Landarbeiter. Wer nicht imstande ist, seine Zugehörigkeit zu einem dieser vier Berufe nachzuweisen, ist verpflichtet, binnen eines Jahres das Land zu verlassen; und wer es nicht freiwillig tut, unterliegt der Verhaftung und Einsperrung. Des Ferneren schließt der Urheber des Entwurfes, dem Beispiel alter kanonischer Vorschriften folgend, die Juden von all jenen finanziellen und wirtschaftlichen Funktionen aus, durch die sie sich eine Macht über die christliche Bevölkerung erringen können, wie z. B. von Staatspachten und Steuereintreibungen, und verbietet ihnen, christliche Dienstboten zu halten Die Juden dürfen nicht zwangsweise getauft werden, aber die schon getauften Juden müssen von ihrer früheren Umgebung abgesondert und isoliert werden; nur in Gegenwart von Christen dürfen sie mit ihren früheren Glaubensgenossen zusammenkommen. Dieser Entwurf Zamoiskis gefiel der katholischen Geistlichkeit so gut, dass der Plotzker Bischof Schembek sich bereit erklärte, unter ihn seinen Namen zu setzen. Nachdem sich Zamoiski auf diese Weise mit kirchlich-polizeilichen Bürgschaften versehen hatte, konnte er dem Geiste der Zeit einen mageren Tribut entrichten, indem er nämlich in sein Projekt das Prinzip der Unantastbarkeit der Person und des Vermögens der Juden aufnahm. Den durch drakonische Maßregelungen an Händen und Füßen gebundenen Juden brauchte aber niemand mehr anzutasten.

Einen anderen Standpunkt vertrat der Verfasser der in Warschau im Jahre 1782 unter dem Titel: „Über die Notwendigkeit einer Judenreform in den Landen des polnischen Reiches“ erschienenen Schrift. Der Verfasser, der sich hinter dem Pseudonym „Namenloser Bürger“ versteckt, verficht kein reaktionäres System, sondern eine utilitär-aufklärerische Reglementierung. Auf religiösem Gebiet lässt er den Juden die Unantastbarkeit ihrer Dogmen, hält es aber für nötig, gegen ihre „schädlichen Gebräuche“, die zahlreichen Feiertage, die Speisegesetze usw. zu kämpfen. Es sei erforderlich, die Kahalautonomie einzuengen und sie auf die rein religiöse Sphäre zu beschränken, damit die Juden keine Republik in der Republik bilden. Um die Juden mit dem polnischen Volke zu verschmelzen, müsse man sie dazu anhalten, die polnische Sprache in ihrem Handelsverkehr zu gebrauchen und den „Jargon“ aufzugeben, und den Druck von Büchern in hebräischer Sprache, wie deren Einfuhr aus dem Auslande zu verbieten. Was die wirtschaftlichen Verhältnisse anbetrifft, so könne man den Juden das Handwerk, den ehrlichen Handel und die Landwirtschaft erlauben, müsse ihnen aber verbieten, Herbergen und Schankwirtschaften zu halten. Man sieht, dass der Entwurf des „Namenlosen Bürgers“ die „Unschädlichmachung“ der Juden auf dem Wege einer gewaltsamen Verschmelzung anstrebt, wie das vorangehende Projekt des Zamoiski auf dem der gewaltsamen Isolierung. Der auf diese Weise „unschädlich“ gemachte Jude konnte dem Christen in den Rechten gleichgestellt werden. Ein Einfluss des österreichischen Systems Josephs II., der die „Besserung“ der Juden auf dem Wege der gewaltsamen ,, Aufklärung“ und Verschmelzung mit der einheimischen Bevölkerung als einer notwendigen Bedingung für ihre Gleichstellung mit der übrigen Bevölkerung zu erreichen suchte, ist in diesem Entwürfe unverkennbar. Das Projekt scheint in den von den Ideen des XVIII. Jahrhunderts beherrschten Kreisen der polnischen Gesellschaft Anklang gefunden zu haben. Die kleine Schrift des „Namenlosen“ erschien im Jahre 1785 in zweiter Auflage, und im Jahre 1789 wurde sie zum dritten Male vom Abgeordneten des Vierjährigen Reichstags Butrimowicz herausgegeben, der sie mit eigenen Nachträgen versah. Dieser Ausgabe entnahm Butrimowicz in der Folge das Material zu seinem Projekt der „jüdischen Reform“, das er der Kommission des Landtags vorlegte (1790), der unter dem Lärm der großen französischen Revolution tagte (s. weiter unten § 41).

Wie war die innere Lebensgestaltung der eine Million zählenden jüdischen Masse in Polen zu jener Zeit beschaffen? Auch hier bietet sich unseren Augen ein trauriges Bild des Zerfalls. Die soziale Verwesung, die giftigen Zerfallsprodukte des verwesenden Leichnams Polens drangen auch in das jüdische Leben ein und brachten dessen einst so festen Grundpfeiler ins Wanken. Die nationale Hochburg der Judenheit, die autonome Gemeinde ging zusehends aus den Fugen. In den südwestlichen Gebieten (Podolien, Wolhynien und in dem an Österreich abgetretenen Galizien) erlitt sie einen schweren Stoß durch das große religiöse ,, Schisma“ des Chassidismus ; die Spaltung der Gemeinde in zwei einander feindliche Parteien, und die Starrheit der chassidischen Mehrheit, die sich zu einer gesellschaftlichen Organisierung unfähig erwies und den Befehlen der Zaddikim blind gehorchte, führten zu einem Zusammenbruche der Kahalorganisation. Was die nordwestlichen Gebiete betrifft (Litauen und das an Russland abgetretene Weißrussland), wo die sich an die Rabbiner anlehnende Kahalpartei die Oberhand über die chassidische gewann, unterlag die Kahalorganisation dem allgemeinen Entartungsprozess, der Polen zur Zeit der Teilungen ergriff. In der Ausbeutung der armen, arbeitenden Volksmasse stand die jüdische Plutokratie den polnischen Gutsherren keineswegs nach; wie die polnische Geistlichkeit, so hielten es auch die Rabbiner mit den Reichen. Die weltliche und geistliche Oligarchie, die in den Kahalorganisationen schaltete und waltete, drangsalierte die Gemeinde durch eine empörend ungleichmäßige Verteilung der Staats- und Gemeindesteuern, indem sie die schwersten Lasten den unvermögenden Gesellschaftsschichten aufbürdete und sie an den Rand eines völligen Ruins brachte; die „Parnessim“ (die Vorsteher der Kahalorganisationen) und die Rabbiner wurden nicht selten des Wuchers, der Erpressung und der Unterschlagung der für Gemeindezwecke bestimmten Summen überführt.

Der von der Kahaloligarchie ausgeübte Druck erreichte einen derartigen Grad von Härte, dass die bedrängten Massen sich oft an die christlichen Behörden mit Beschwerden gegen die Satrapen ihres eigenen Stammes wandten, ungeachtet des traditionellen Verbots, das ,, Gericht der Fremdstämmigen“ anzurufen. Die Bevollmächtigten eines Teiles der jüdischen Gemeinde von Minsk, Vertreter des einfachen Volkes, vornehmlich der Handwerker — beschwerten sich im Jahre 1782 beim Litauischen Schatztribunal gegen die Kahal Verwaltung, die ,,die Minsker Gemeinde“ vollständig zugrunde richtete: Die Kahalsleute hätten viele eingezahlte Abgaben unterschlagen und für sich verwendet; sie erpressten von den Armen mittels des ,,Cherems“ (Bannfluches) Steuern, um dieses durch saure Arbeit erworbene Geld zu unterschlagen; die Kläger fügten hinzu, dass sie für ihren Versuch, die Missetaten des Kahals vor der Behörde aufzudecken, auf Verfügung der Kahalsvorsteher mit Verhaftung, Einsperrung und Stellung an den Pranger in der Synagoge (den Synagogenpranger nannte man „Kuna“) bestraft worden seien. In der Hauptstadt Litauens, Wilna, die durch ihre gelehrten Rabbiner und ihre Geburtsaristokratie weit und breit bekannt war, entstand eine Spaltung im Schöße der Gemeindeoligarchie selbst. Hier zog sich ein Zerwürfnis zwischen dem Rabbiner Samuel Wigdorowicz und dem Kahal, oder richtiger zwischen der Rabbiner- und der Kahalpartei an die zwanzig Jahre hin. Der Rabbiner wurde der Bestechlichkeit, Trunksucht, Rechtsbeugung und des Meineides angeklagt. Der Streit zwischen dem Rabbiner und dem Kahal wurde zunächst von einem Schiedsgericht und von einem Kongress litauischer Rabbiner untersucht; da aber die Zwistigkeiten und die Aufregung in der Stadt kein Ende nehmen wollten, wandten sich beide Parteien an den Wojewoden (Herzog) Radziwill, der sich auf die Seite des Kahals stellte und den Rabbiner des Amtes enthob (1785). Das zwischen diesen einander befehdenden Mächten stehende einfache Volk war dem Kahal, dessen Missbräuche und Gewaltakte in der Tat jedes Maß überschritten, bei weitem feindlicher gesinnt. In den folgenden Jahren (1786 — 1788) wurde der Bevollmächtigte des einfachen Volkes von Wilna, Simon Wolfowicz zum Kämpfer und Märtyrer für die Sache seiner Wähler. Vom Kahal verfolgt, versah er sich mit einem „eisernen Brief“ des Königs Stanislaus August, der ihm und dem einfachen, durch die Tyranei des Kahals „völlig zugrunde gerichteten Volk“, die Unantastbarkeit der Person und des Vermögens sichern sollte. Dies hinderte jedoch die Kahalverwaltung nicht, über Simon den „Cherem“ zu verhängen und seinen Namen in das „schwarze Buch“ einzutragen. Der Wojewode aber, der es mit den Kahalsatrapen hielt, warf den widerspenstigen Volkstribun ins Gefängnis von Nieswiz (1788). Der Eingekerkerte verfasste daselbst ein Sendschreiben an den Vierjährigen Reichstag über die Notwendigkeit der Grundreform des jüdischen Gemeindelebens und der Beseitigung der auf dem Volke lastenden Gewalt des Kahals. Dieser zwischen dem Kahal, dem Rabbiner und dem einfachen Volke tobende Kampf erschütterte bis auf den Grund die jüdische gesellschaftliche Organisation in Litauen kurz vor dessen Angliederung an das Russische Reich. Einer der wenigen freisinnigen Rabbiner jener Zeit schildert in düsteren Farben das Gebaren der Gemeindeoligarchie: „Die Führer (die Rabbiner und die Vorsteher) verzehren die Abgaben des Volkes und trinken Wein für die Geldbußen; über alle Steuern verfügend, setzen sie diese fest und verhängen den Cherem (über die Ungehorsamen); die Entschädigung für ihre Tätigkeit in der Gemeinde nehmen sie sich sowohl in offener wie geheimer Weise, mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln; keine vier Ellen durchschreiten sie ohne Bestechung, und die Armen tragen das Joch . . . Die Gelehrten schmeicheln den Reichen; und die Rabbiner selbst verachten einander: die dem Studium der Thora (des Talmuds) obliegen, verachten alle diejenigen, die sich mit Mystik und Kabbala beschäftigen, und das gemeine Volk verbindet die Urteile beider Parteien und sagt, dass alle Gelehrten sich blamieren . . . Den Reichen ist die Gunst der (polnischen) Gutsherren wertvoller als das Wohlwollen der Besten und Ehrlichsten (unter den Juden); der Reiche ist nicht darauf stolz, dass der Gelehrte ihm Ehre erweist, sondern darauf, dass der Fürst ihn in seine Gemächer einführt und ihm seine Schätze zeigt.“ In den wohlhabenden Klassen ist die „Putzsucht“ verbreitet; die Frauen tragen Perlenschnüre und bunte Gewänder. — Die Erziehung der Jugend in den Chedarim und den Jeschiboth entartete immer mehr. Von elementaren Wissenschaften allgemeinbildenden Charakters konnte hier nicht die Rede sein; die Schule trug einen rein rabbinischen Charakter. Die talmudische Scholastik schärfte die Gehirne, aber da sie kein reales Wissen bot, verbreitete sie nur Unsinn. Der Chassidismus entriss diesem Reiche des Rabbinismus ein weites Terrain, aber auf dem Gebiete der Schule erwies er sich ohnmächtig, etwas Neues zu schaffen. In der religiösen und nationalen Stimmung der Gesellschaft bewirkte der Chassidismus tiefgreifende Veränderungen, aber diese Veränderungen zogen den Juden nach rückwärts in die Tiefen mystischer Beschaulichkeit und eines dem Verstände und jedem Versuche einer Gesellschaftsreform feindlichen blinden Glaubens hinein. In den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, als sich im jüdischen Deutschland das Panier der kampfeslustigen Aufklärung emporschwang, wurde in Polen und Litauen ein erbitterter Kampf zwischen den Chassidim und Misnagdim geführt, ein Kampf, der das Bewusstsein der von der polnischen Judenheit erlebten politischen Krise erstickte, wie auch den vom Westen ausgehenden Mahnruf zur Aufklärung und Reform übertönte. Das Gespenst der Aufklärung, das von Deutschland herüberschielte, löst hier Furcht und Schrecken in beiden Lagern aus, wie das Gesicht des Teufels. Der „Berliner“ wird zum Synonym des Abtrünnigen. Die Salomon Maimons müssen nach Deutschland flüchten, um die Welt der neuen in Polen verbotenen Ideen kennen zu lernen.