§ 7. Italien

Im Ghetto der Stadt Rom blieb ein dichter Extrakt des Geistes des Mittelalters erhalten. Die päpstliche Regierung wies einigen Tausend Juden am niedrigen, schlammigen Ufer des Tibers ein kasemattenartiges Viertel zu und stellte an ihnen qualvolle Experimente an. Am Ende des 18. Jahrhunderts, als die durch die Angriffe der Vernunft bedrohte Kirche sich im Kriegszustande befand, erreichte die Härte dieser Experimentatoren ihren Höhepunkt. Es hatte den Anschein als wolle man sich an den erdrückten, eingeschüchterten Bewohnern des römischen Ghetto für die Verunglimpfung der Kirche im Lande Voltaires und der Enzyklopädisten rächen; unter diesem Häuflein von Ungläubigen fahndete die Kirche nach Proselyten, gleichsam um ihre Verluste in der Herde der Gläubigen zu ersetzen.

„Das Edikt über die Juden“ (Editto sopra gli Ebrei), das im Jahre 1775 durch den Papst Pius VI. erlassen wurde, gehört zu den unmenschlichsten Akten in der Geschichte der Menschheit. In den 44 Paragraphen dieser „Verfassung des Ghettos“ konzentrierte sich das aus verschiedenen Bullen und Kanons zusammengetragene Schlangengift des römischen Katholizismus. Die Juden durften außerhalb des Ghettos nicht wohnen.


Am Tage war es ihnen gestattet, sich in ihren Angelegenheiten in die Stadt zu begeben, aber daselbst zu übernachten war ihnen unter Androhung einer Geldbuße und körperlicher Züchtigung untersagt. Die Pförtner an den Toren des jüdischen Viertels durften von 9 Uhr nachts an niemand hinein und hinauslassen. Außerhalb des Ghettos durften die Juden keine Geschäfte betreiben; nur in seltenen Fällen wurde es ihnen freigestellt, außerhalb des Ghettos oder in dessen Nähe ein Geschäft zu eröffnen. Unter keinen Umständen durften die Juden sich in der für den Sommeraufenthalt bestimmten Umgebung der Stadt niederlassen, und wäre es nur, um frische Luft zu atmen. Ein Jude durfte in den Straßen Roms keine Wagen benutzen. Die Juden beiderlei Geschlechts waren verpflichtet, immer und überall, außerhalb und innerhalb des Ghettos, „ein gelbes Abzeichen zwecks Unterscheidung von den andern“ zu tragen. Die Männer nähten sich diesen gelben Fetzen an ihre Mützen, die Frauen an ihren Kopfputz, wobei es den einen wie den anderen untersagt war, das Abzeichen durch ein Tuch oder eine Binde zu verdecken; wenn aber ein Jude in einer gewöhnlichen, nicht „vorgeschriebenen“ Mütze aus dem Hause trat, so musste er sie in Händen tragen und entblößten Hauptes einhergehen. Für die Übertretung dieser Vorschriften wurden die strengsten Strafen ,,nach Ermessen“ festgesetzt. Den Juden war untersagt: an Christen Fleisch und Milch zu verkaufen, ihnen Passahbrot (Mazzes) zu geben, sie als Diener und Ammen anzustellen, christliche Hebammen beizuziehen, Christen in ihre Synagoge einzuführen, mit ihnen zu essen, zu trinken, zu spielen, selbst sich mit ihnen in Häusern, Gasthäusern und Straßen zu unterhalten — dies alles unter Androhung von körperlicher Züchtigung und Geldbußen für beide Teile. Vor dem „verderblichen“ Einfluss der Ghettobewohner wurden besonders jene von ihren unglücklichen Brüdern, Schwestern und Kindern bewahrt, die in die Falle der katholischen Missionare gerieten und im „Katechumenenhause“ wie in einem Gefängnisse saßen. Unter der Androhung einer Geldbuße von 300 Skudis, der Galeerenstrafe und „anderer körperlicher Züchtigungen nach Ermessen“ war es den Juden untersagt, sich diesen Katechumenenhäusern oder der Kirche zur Verkündung Maria zu nähern. Jedem Juden, der einen flüchtigen Katechumen oder Neubekehrten bei sich beherbergte, drohte die Folterbank. Für die Wiederbekehrung dieser zum Judentum wurden die Schuldigen mit Gefängnis, Einziehung des Vermögens und Galeerenarbeit bestraft. Dem intimsten geistigen Leben der Juden wurden Fesseln angelegt. Gegen die „gottlosen, verdammten talmudischen, kabbalistischen und anderen Schriften, die voller Irrtümer und Verunglimpfungen der christlichen Sakramente sind“, waren acht grimmige Paragraphen gerichtet. Solche Schriften — d. h. alle jüdischen Schriften, abgesehen von Gebetbüchern und der Bibel — durften die Juden weder bei sich haben, noch lesen, verkaufen, verschenken u. dgl. Kein Jude hatte das Recht, irgendein Buch in hebräischer Sprache ins Land zu bringen, zu kaufen oder als Geschenk in Empfang zu nehmen, ohne es vorher der Zensur des Pater Maestro am apostolischen Hofe in Rom und der Bischöfe und Inquisitoren an anderen Orten unterbreitet zu haben. Auf die Übertretung dieses Verbots stand eine siebenjährige Gefängnisstrafe. Als ein Hohn auf die heiligsten Gefühle des Menschen erscheint das über die Juden verhängte Verbot, ihre Toten bei angesteckten Kerzen, unter Verlesung von Psalmen und sonstigen religiösen Zeremonien zu beerdigen, auf den Gräbern ihrer Verstorbenen Gedenksteine zu errichten und an diesen Aufschriften anzubringen. Neue Synagogen durften im Ghettogebiet nicht gebaut werden, aber auch alte zu restaurieren war verboten. An christlichen Feiertagen durften die Ghettobewohner in ihren Häusern nur bei geschlossenen Türen arbeiten. Dem Rabbiner stand es nicht frei, die den geistlichen Stand kennzeichnende Tracht zu tragen: er musste die übliche Kleidung der Laien tragen. Die Rabbiner waren verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Juden zu den Predigten der katholischen Missionare in festgesetzter Zahl erscheinen, denn die „Predigt ist das beste Mittel, die Juden zu bekehren“. Die geistlichen Hirten des Judentums wurden angehalten, ihre eigene Herde in den Rachen der Wölfe zu treiben — zu solcher raffinierten Grausamkeit verstiegen sich die Verkünder der „Religion der Liebe“. Schließlich befiehlt der Papst, das „Judenedikt“ an allen Straßen und Palästen Roms und an den Synagogen innerhalb des Ghettos zur genauen Kenntnisnahme anzuschlagen. Dieser Befehl wurde am 20. April des Jahres 1775 vollzogen — und die römischen Einwohner drängten sich um die riesigen Bekanntmachungen, die die Paragraphen der päpstlichen „Judenverfassung“ enthielten.

So war das Regime beschaffen, unter dem die im römischen Ghetto zusammengedrängte, 7.000 Seelen zählende jüdische Gemeinde leben musste, abgesehen von den in den übrigen Gegenden des Kirchenstaates und im päpstlichen Avignon verstreuten Juden. Dupaty, der im Jahre 1783 Rom besuchte, schrieb, dass die Lage der Juden dort schlimmer als irgendwo anders wäre. ,,Man fragt: wann werden die Juden Christen werden? Ich aber frage: wann werden die Christen tolerant werden? Christen, wann werdet ihr aufhören, die Rolle der Pächter der göttlichen Gerechtigkeit zu spielen?“ . . . Ein schwarzes Heer von Mönchen verbreitete abscheuliche judenfeindliche Schmähschriften, die den Fanatismus der Katholiken schürten. Tätlichkeiten gegen die Juden in Rom auf offener Straße, oft von Plünderungen und Totschlag begleitet, waren an der Tagesordnung. Wenn ein Jude an einer Kirche vorbeiging, wurde nach ihm mit Steinen geworfen, und er wurde oft verwundet. Einmal geschah es, dass ein Stein einen einäugigen Juden traf, der infolgedessen gänzlich erblindete (1789). Wo es sich um Neubekehrte handelte, da erreichten die gegen die Juden gerichteten Gewalttätigkeiten eine ganz besondere Intensität. Im Frühjahr 1787 erklärte sich ein Jude bereit, zum Christentum überzutreten. Als er in das Asyl für die Neubekehrten (casa) gebracht worden war, erklärte er, dass zwei in verwandtschaftlichem Verhältnis zu ihm stehende elternlose Knaben im Ghetto zurückgeblieben seien. In der Tat hielten sich die Knaben bei ihren nahen Verwandten auf. Als die Kunde in die Gemeinde drang, dass die päpstlichen Argusse nach den Knaben fahndeten, um sie auf gewaltsamem Wege zu taufen, beeilte man sich, sie zu verstecken. Nun verhaftete die römische Polizei sechzig jüdische Knaben, sperrte sie ein und befahl, die Ältesten der jüdischen Gemeinde auf die Folterbank zu spannen. Die unglücklichen Waisen mussten schließlich ausgeliefert werden. Ungeachtet des verzweifelten Widerstandes des ältesten Knaben, wurden sie gewaltsam zum Taufbecken geschleppt. Den Versuch, sie zu retten, musste die Gemeinde mit einer großen Kontribution büßen. Die römischen Juden teilten diesen Fall ihren Glaubensgenossen in Berlin und andern Orten mit.

Die zu Tode gemarterte römische Gemeinde fasste endlich im Jahre 1786 den Beschluss, sich an den Papst Pius VI. mit der flehentlichen Bitte zu wenden, ihre Lage zu erleichtern. In der vom Gemeinderat des Ghettos dem Papst unterbreiteten Denkschrift werden alle dem Ghetto auferlegten Steuerbelastungen (in dem langen Steuerregister figurieren unter anderem auch die schändliche „Karnevalsteuer“ und die Gebühren zugunsten des „Katechumenenhauses“) alle Gewerbe- und Betätigungseinschränkungen und die dem Juden auf Schritt und Tritt zuteil werdenden öffentlichen Demütigungen aufgezählt. Die Verzweiflung der Bittsteller machte sich in dem folgenden, an den Papst, den Verfasser des Edikts von 1775 gerichteten naiven Appell Luft: ,,Eure Heiligkeit möchte sich erheben und von der Höhe ihres Thrones einen Blick auf das unten liegende Ghetto werfen, auf dieses unglückselige Überbleibsel Israels, das doch auch das Volk Eurer Heiligkeit ist und das unter Tränen und Flehen die Hände zu Eurer Heiligkeit ausbreitet!“ Der Papst Pius VI. ließ sich durch diese Bitte erweichen und setzte eine spezielle, aus sieben Mitgliedern bestehende Kommission ein, um diese Beschwerden zu untersuchen. Diese Kommission hatte es mit der Erfüllung ihres Auftrages nicht besonders eilig, und noch im Jahre 1789 war sie damit beschäftigt, die von den Juden vorgelegte Denkschrift zu prüfen. Die Beratung der heiligen Väter führte natürlich zu nichts. Eine andere Macht war es, bei der die Seufzer der gemarterten Ghettos einen Widerhall fanden: es war die aus dem revolutionären Frankreich marschierende siegreiche Armee, die in Rom eindrang, den Papst vertrieb und die Fahne der Republik im Zentrum des despotischen Kirchen- und Polizeistaates erhob.

Die Lage der jüdischen Gemeinden an anderen Orten Italiens bot ein zwar nicht so düsteres, aber immerhin unerfreuliches Bild. Viele Provinzen befanden sich in der politischen Einflusssphäre Österreichs oder Spaniens, d. h. zweier Staaten mit einer scharf ausgeprägten klerikalen Richtung in der Judenfrage. Der Einfluss der europäischen Reformen des Kaisers Josephs II. konnte nur in solchen an Österreich eng angrenzenden Punkten wie Triest, zum Ausdruck kommen, und auch dies nicht im Sinne einer Verbesserung des staatsbürgerlichen Lebens der Juden, In den großen Handelsstädten Italiens gestalteten sich die Beziehungen zu den Juden unter dem Einflüsse von Kompromissen mit den entsprechenden Munizipalbehörden. Die wichtige kommerzielle Rolle, die die Juden in der Hafenstadt Livorno spielten, nötigte die betreffende Munizipalbehörde, mit der jüdischen Gemeinde zu rechnen, und die Munizipalverfassung des Jahres 1780 musste den Juden das Recht gewähren, ihre eigenen Abgeordneten in den Stadtrat zu wählen. Hier wie in Florenz hielten sich die Juden ungestört außerhalb des Ghettos auf. Die durch die Wachsamkeit der konservativen Regierung der Republik sorgsam behütete alte Ordnung des Ghettos von Venedig sträubte sich gegen jeden neuen Einfluss, trotzdem die venezianischen Juden als Exporteure und Bankiers auf industriellem Gebiet eine bedeutende Rolle spielten. Was die anderen Gegenden anbetrifft, z. B. die Herzogtümer Piemont und Modena, so wurde hier die Lage der Juden durch das kanonische Recht bestimmt; die klerikal gesinnten Regenten waren bestrebt, die Lebensordnung in den jüdischen Gemeinden möglichst nach dem Vorbilde des römischen Ghettos zu gestalten.