§ 6. Frankreich

In Frankreich bestand vor der Revolution für die Juden ein „Ansiedelungsrayon“: die Provinz Elsaß (außer der Stadt Straßburg) und ein Teil von Lothringen (die Städte Metz und Nancy). Das ganze übrige Territorium des Reiches war den Juden entweder völlig verschlossen oder nur in beschränktem Maße zugänglich. Die Nachkommen der spanischen Juden, die Sephardim, bewohnten den Süden Frankreichs — die industriellen Zentren Bordeaux und Marseille, die Bretagne und Bayonne. Nachdem sie in diese Gebiete anfangs unter dem Deckmantel der ,,Marranen“ oder ,, neuen Christen“ eingedrungen waren, streiften sie in der Folge die äußere Hülle von sich ab und zwangen die Regierung, das bereits Geschehene anzuerkennen. Hatte sich aber die zentrale Regierung mit der Tatsache des Aufenthaltes der Juden in den verbotenen Gebieten abgefunden, so taten die Lokalbehörden, die Munizipalitäten und die kaufmännischen Zünfte ihr Möglichstes, um „die sich auf ungesetzlichem Wege Aufhaltenden“ aus allen den Zentren zu verdrängen, in denen sich ihre Handelskonkurrenz der christlichen Kaufmannschaft fühlbar machte. Im Jahre 1773 erwirkten die christlichen Kaufleute von Nantes beim König einen Erlass, der die Ausweisung der jüdischen Kaufleute aus dieser Stadt verordnete. Infolge eines Rechtsstreites, den der Metzer Jude Créange mit zwei Beamten aus Brest führte, verfügte das Parlament von Rennes, „den Juden Créange und alle sich gegenwärtig in der Bretagne aufhaltenden Juden nach ihren ständigen Wohnsitzen auszuweisen“, und zwar innerhalb zweier Wochen. Feste Wurzeln hatte nur die große jüdische Kolonie in Bordeaux gefasst, die vorwiegend aus Großkaufleuten und Bankiers bestand, welche Finanzoperationen mit dem königlichen Hofe unterhielten. Unter Ludwig XVI. errangen die Juden von Bordeaux das Recht, auf dem ganzen Territorium Frankreichs zu wohnen und Handel zu treiben (1776). Die königliche Schatzkammer hatte davon keinen Schaden: hunderttausende von Livres wurden für die Vorrechte eingezahlt, und im Jahre 1782 brachten die dankbaren Juden von Bordeaux mehr als 60.000 Livres zusammen und kauften dafür ein Kriegsschiff, das sie dem König zum Geschenk machten. Ein anderes jüdisches Zentrum hatte sich in Avignon erhalten, das noch kurz vor der großen Revolution unter der Botmäßigkeit der römischen Päpste stand. Hier herrschten mittelalterliche Verhältnisse: die Juden bewohnten ein besonderes Viertel (carrière des juifs) und standen unter der Aufsicht der päpstlichen Inquisition; Jesuiten und Dominikanermönche erschienen im Ghetto und hielten an Sabbaten in der Synagoge Predigten über die Heilsamkeit des Christentums und die Verderblichkeit des Judentums. Nicht selten geschah es, dass kleine Judenkinder entführt, in Klöster gebracht und zum Christentum bekehrt wurden, ungeachtet aller Proteste der unglücklichen Eltern.

Die Hauptmasse der französischen Judenheit konzentrierte sich in den nordöstlichen Provinzen des Königreichs — im Elsaß und einem Teil von Lothringen *). In den zwei Städten Lothringens, in Metz und Nancy nebst Umgebung, war die Zahl der Juden streng normiert: in der ersteren auf 480 Familien, in der zweiten auf 18o. Von Zeit zu Zeit pflegte eine Säuberung vorgenommen zu werden: die auf dem Wege des natürlichen Zuwachses oder der geheimen Einwanderung hinzugekommenen überzähligen Familien wurden vertrieben. Am Ende des 18. Jahrhunderts bildete das Ghetto von Metz dasselbe düstere Nest von Ausgestoßenen, wie zu Beginn des Jahrhunderts: dieselbe Enge und derselbe Schmutz eines abgeschlossenen Viertels, dieselben ruinierenden Steuern für das Wohnrecht (droit d'habitation; eine jährliche Abgabensumme im Betrage von 20.000 Livres wurde noch in den ersten Jahren der Revolution zugunsten der Nachkommen des Herzogs Brauca und der Gräfin Fontaigne erhoben), die demütigende Abgabe zugunsten der lokalen Pfarrkirchen, und dann — das Verbot, sich in der Stadt an Sonn- und Feiertagen zu zeigen u. dgl. m. — alles wie im Frankfurter Ghetto, abgesehen von einigen Variationen.


*) Nach der Volkszählung von 1784 gab es im Elsaß 19.524 Juden; zu dieser Zahl wären noch viele Juden hinzuzurechnen, die infolge der strengen Wohnrechtsgesetze nicht registriert worden sind. Rechnet man die 480 jüdischen Familien, die nach der gesetzlichen Norm in Metz, und die 180 Familien, die im Kreise von Nancy wohnten (insgesamt etwa 4000 Seelen) hinzu, so erhält man für die gesamte jüdische Bevölkerung von Elsaß-Lothringen die Zahl 40.000. In ganz Frankreich gab es am Vorabend der Revolution von 1789 etwa 50.000 Juden (vgl. Glaser, Geschichte der Juden in Straßburg 1894, S. 81 — 82 und die anderen am Schlusse des Bandes zu diesem § angegebenen Quellen).

Die jüdische Bevölkerung vom Elsaß war über zweihundert Städte und Dörfer zerstreut, aber in der Hauptstadt, Straßburg, war den Juden der ständige Aufenthalt verboten. Ein altes Privilegium, das die Stadt zur Zeit des schwarzen Todes (1349) erhalten hatte, gab dem Magistrat das Recht, keinem einzigen Juden den Zutritt zu gewähren — und gegen dieses Vorrecht erwiesen sich selbst die den Juden freundlichen Bemühungen der Könige ohnmächtig. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde den Juden der Aufenthalt in Straßburg gestattet, aber nur auf der Durchreise, um zu übernachten, geschäftshalber, für einige Tage und mit jedesmaliger besonderer Genehmigung der Polizei. Dabei musste jeder Ankömmling eine ganze Reihe demütigender Prozeduren durchmachen; am Stadttor entrichtete er einen für Vieh festgesetzten Passierzoll (péage corporel, dem deutschen Leibzoll entsprechend); in den Besitz des Passierscheines gelangt, durfte er nur in einige, eigens für diesen Zweck bestimmte Herbergen einkehren, und die Polizei passte auf, dass er nach Ablauf der ihm gewährten Frist die Stadt verließ. Charakteristisch ist die polizeliiche Verordnung, die in Straßburg im November 1780 erlassen wurde: „Die Richter der Polizeikammer haben bemerkt, dass einige Bürger sich unterstehen, vom Gelderwerb verlockt und ohne die schlimmen Folgen zu bedenken, an Juden Zimmer und Wohnungen in ihren Häusern zu vermieten, was eine sehr gefährliche Annäherung und Vertraulichkeit zwischen den Christen und der jüdischen Nation bewirkt und den alten Reglements, die jedem Juden ausdrücklich verbieten, unter dem gleichen Dache mit Christen zu wohnen, strikt zuwiderläuft. Um diesen durch seine Folgen so gefährlichen Mißbrauch abzustellen, verbieten wir allen Bürgern unter Androhung einer Strafe von 150 Livres, den Juden Häuser, Geschäfte oder irgendwelche Räume zu vermieten. Wir befehlen (den Bürgern), die Juden, die bei ihnen zu mieten begehren oder um Nachtquartier bitten, an die Orte zu schicken, die ihnen gestattet und hierfür bestimmt sind . . . Damit niemand sich auf die Nichtkenntnis dieser Verordnung berufen kann, verordnen wir, sie in zwei Sprachen zu drucken und anzuschlagen.“ Straßburg, der Mittelpunkt des „Ansiedlungsrayons“ vom Elsaß, blieb auf diese Weise den Juden verschlossen ebenso wie es später im russischen Ghetto die Stadt Kijew war. Spezielle Herbergen für zugereiste Juden, die ,,Treibjagd“ der Polizei gegen die sich ungesetzlich Aufhaltenden — dies alles machte die Stadt am Rhein der Stadt am Dniepr zur Zeit der „alten Ordnung“ ähnlich. Wie eifrig dafür gesorgt wurde, die Stadt Straßburg vor einer „Judeninvasion“ zu bewahren, ist aus der folgenden Episode zu ersehen. Ein reicher Jude, der königliche Heereslieferant, Herz Cerf-Berr aus Bisheim bemühte sich bei den Stadtbehörden um die Erlaubnis, während des Winters in Straßburg zu verbleiben, da die Wege durch umherstreifende Räuber unsicher gemacht seien und es gefährlich wäre, in Geschäften nach der Stadt zu fahren und von dorther zurückzukehren. Die Behörde verweigerte die Erlaubnis. Da intervenierte der bekannte Staatsmann, der Herzog Choiseul, der in einem an den Stadtrat gerichteten Schreiben nachwies, dass der Aufenthalt eines unter wachsamer polizeilicher Aufsicht stehenden jüdischen Kaufmannes während des einen Winters keinen Schaden anrichten könne. Und nur dem Drucke des allmächtigen Ministers nachgebend, ließen die lokalen Behörden den Berr in Ruhe. Einige Jahre nach diesem Ereignis mussten sie sich eine schärfere Abweichung von dem mittelalterlichen Reglement gefallen lassen. Als Entgelt für die dem Heere und der Regierung erwiesenen Dienste erteilte der König dem Cerf-Berr und seiner Familie ein Naturalisationspatent und das unbeschränkte Wohnrecht im ganzen Lande. Der Stadtrat von Straßburg, das Berr zu seinem Wohnsitz wählte, suchte ihm anfangs den Erwerb von unbeweglichen Gütern möglichst zu erschweren, fügte sich aber schließlich doch, wenn auch mit verhaltenem Groll dem Willen des Königs. Und so kam es, dass die Volkszählung im Jahre 1787 — zum nicht geringen Entsetzen der Väter der Stadt — vier jüdische Familien, aus 68 Personen bestehend, aufwies. Es waren dies die Familien des Cerf-Berr und seiner Verwandten, seine Handelsgehilfen und Dienstboten.

Aber die große Masse der Elsässer Juden blieb unnaturalisiert: sie bildeten eine Gruppe recht- und schutzloser Ausländer, die nur geduldet waren. In den Dörfern und herrschaftlichen Städtchen verdankten sie das Wohnrecht der Gunst der feudalen Gutsherrn oder der Seigneurs, die für dieses ,,droit d'habitation“ drückende Steuern erhoben. Durch eine Reihe von Gewerbebeschränkungen wurde die jüdische Masse in das Gebiet des Kleinhandels und des Wuchers hineingetrieben. Die in den Dörfern wohnenden Juden gaben den Bauern Darlehen auf Getreide und Trauben; in den Städten und Dörfern traten sie als die Gläubiger der Kleinbürger und der Handwerker auf. Der christliche Schuldner, dem die unsichere rechtliche Lage des Juden, den man zu jeder Zeit aus jedem Orte hinausekeln konnte, bekannt war, nahm das Darlehen, ohne je an die Rückerstattung zu denken. Dadurch stieg das Risiko des Gläubigers, der sich genötigt sah, Wucherzinsen zu nehmen. Daraus resultierte eine Reihe von Zusammenstößen und Rechtsstreitigkeiten, die unglückliche Lage des Juden als eines „ausgebeuteten Ausbeuters“, die allgemeine Verachtung, die man ihm entgegenbrachte, und die Gleichsetzung der Worte „Jude“ und „Wucherer“ (usurier). Auf diesem Boden entstand die berühmte Affaire des Judenfeindes Hell, eines elsässischen Landrichters, der eine Massenfälschung von Zahlungsquittungen organisierte, die zur Tilgung der von Christen an Juden ausgestellten Schuldscheine dienten. Hell büßte für seinen Betrug, indem er durch einen königlichen Erlass aus dem Elsaß ausgewiesen wurde (1780), aber Hunderte jüdischer Familien waren ruiniert.

Die alte Ordnung erreichte ihr Ziel: sie machte den Juden zuerst zu einem rechtlosen, dann zu einem verachteten Wesen. Man zwang den Juden, alles zu kaufen: das Wohnrecht, das Recht, ein Gewerbe auszuüben und das Recht der Freizügigkeit; man zwang ihn für jeden Atemzug, den er tat, für jede Spanne Erde, auf der ihm zu stehen gestattet war, zu zahlen. Was blieb ihm anderes übrig, als gierig nach Geld zu streben, für das er sich Rechte kaufen konnte, welche andere ohne Geld besaßen? Die adligen Gutsbesitzer oder Seigneurs pressten aus den auf ihren Besitztümern lebenden Juden die letzten Säfte aus. Während so ein Seigneur einem Juden gegen eine große alljährliche Abgabe das „Wohnrecht“ gewährte, garantierte er dessen Kindern, wenn diese aufwuchsen, dieses Recht nicht; ein erwachsener Sohn musste oft das väterliche Haus verlassen, wenn der Seigneur ihm das Wohnrecht versagte. Und wenn die Juden sich über solche Willkür beim Obersten Rat vom Elsaß (Conseil souverain d'Alsace) beschwerten, bekamen sie von dieser höchsten Verwaltungsbehörde des Landes Antworten wie diese: „Der Jude hat keinen ständigen Wohnsitz; er ist zur ewigen Wanderschaft verurteilt. Dieses Schicksal verfolgt ihn überall und sagt ihm, dass er sich nirgends dauernde Ansässigkeit gestatten darf. Darum ist es empörend (révoltant), wenn ein Angehöriger dieser verurteilten Nation (nation proscrite) einen Seigneur zwingen will, ihn anzuerkennen und ihm das Schutzrecht nur aus dem Grunde zu gewähren, weil der Seigneur die Gnade hatte, den Vater dieses Juden auf seinen Besitzungen zu dulden, und weil dieser Jude da geboren ist . . . Der Jude ist weder Bürger noch Städter (ni citoyen, ni bourgeois); das Wohnrecht in jedem Einzelfalle kann ihm nur der Seigneur verleihen, der auch befugt ist, ihn, wenn nötig, auszuweisen.“

Im Jahre 1784 machte die Regierung einige Schritte zur Erleichterung der Lage der Juden. Im Januar dieses Jahres wurde durch ein Dekret des Königs Ludwigs XVI. der Leibzoll (péage corporel), d. h. der Zoll, der von den durch die Provinz Elsaß durchreisenden Juden erhoben wurde und sie ,,Tieren gleichstellte“ (qui les assimile aux animaux) abgeschafft. Aber im Juli des gleichen Jahres wurde ein neues königliches Reglement für die Elsässer Juden veröffentlicht, durch das der Monarch alle auf den Juden lastenden, von feudalen und bürgerlichen Judenfeinden erfundenen Beschränkungen und Repressionen zu einem Gesetz erhob. Abgesehen von einigen Artikeln, die den Juden eine gewisse Erweiterung der Gewerbefreiheit (in der Pacht von Gütern, im Ackerbau und in der Fabrikindustrie) gewährten, stellen alle Grundartikel des Reglements nur eine Kodifikation der Rechtlosigkeit dar. Am auffälligsten ist die Tendenz, den natürlichen Zuwachs der jüdischen Bevölkerung zu hemmen. Der erste Artikel lautet: „Diejenigen von den in der Provinz Elsaß zerstreuten Juden, die im Augenblick der Veröffentlichung des vorliegenden Reglements keinen ständigen Wohnsitz besitzen und die Steuer für den Schutz (droit de protection) an den König, die Steuer für die Zulassung und den Aufenthalt (reception et habitation) an die Seigneurs und die Städte und die Abgabe (contribution) an die Gemeinden nicht eingezahlt haben, müssen diese Provinz innerhalb dreier Monate verlassen, selbst wenn sie sich verpflichten, von nun an diese Steuern und Abgaben zu zahlen; wenn sie aber im Lande bleiben, so ist mit ihnen wie mit Landstreichern und gewissenlosen Menschen (vagabonds et gens sans aveu) nach der ganzen Strenge der Ordonnances zu verfahren.“ Die folgenden Artikel verbieten den Seigneurs, Städten und Gemeinden, ausländischen Juden ständigen Wohnsitz zu gewähren; die letzteren dürfen sich im Elsaß nur in geschäftlichen Angelegenheiten höchstens drei Monate lang aufhalten, falls sie eine Bestätigung über ihre Persönlichkeit und den Zweck der Reise von der Behörde des Ortes, aus dem sie kommen, vorweisen. Das neue Gesetz schützt das Land vor dem Zuzug fremder Juden und normiert zugleich ihren natürlichen Zuwachs. Allen Elsässer Juden und Jüdinnen wird verboten, ohne eine ausdrückliche Genehmigung des Königs, selbst auf feudalen Besitztümern Ehen einzugehen; Zuwiderhandelnde werden des Landes verwiesen ; den Rabbinern wird bei Androhung einer Strafe von 3.000 Livres — im Wiederholungsfalle der Ausweisung aus der Provinz — verboten Eheschließungen ohne eine solche Genehmigung vorzunehmen.

Durch diesen in den „liberalen“ Regierungsjahren Ludwigs XVI. veröffentlichten Erlass wurde also das schmachvolle System, das die Juden zu Leibeigenen machte, legitimiert. Die jüdische Bevölkerung von Elsaß stöhnte auch weiter unter der väterlichen Vormundschaft der Seigneurs und der Stadtbehörden. Kühnere Juden suchten dieses Reich der feudalen Sklavenhalter zu fliehen und nach den größeren Zentren, besonders nach der Hauptstadt des Landes, Paris, zu kommen. Hier standen ihnen aber neue Erniedrigungen bevor. Die Hauptstadt befand sich außerhalb des „Ansiedlungsrayons“, und mit den ankommenden Juden wurde in Paris ebenso verfahren, wie in unseren Tagen in Petersburg oder Moskau. Sie standen hier unter der Aufsicht einer eigenen „Inspektion für Juden und Vagabunden“ (inspection des éscrocs et des juifs). Zur Erlangung einer Genehmigung für zeitweiligen Aufenthalt in Paris mussten die Juden schriftliche Beweise über den Zweck ihrer Reise vorzeigen. Die Polizeikommissare kamen jede Woche oder alle vierzehn Tage in die von Juden bewohnten Gasthäuser und Herbergen, machten Haussuchungen, nahmen die „Verdächtigen“ mit und schleppten solche, die keine Ausweise über das Wohnrecht hatten, ins Gefängnis. Solche „Treibjagden“ wurden gewöhnlich abends oder sogar nachts abgehalten. Auf den Polizeirevieren spielten sich Szenen wie die folgende ab: ,,Womit beschäftigt sich dieser?“ fragt der Polizeibeamte. „Er ist Trödler“ antwortet der Schutzmann. — „Gut, der kommt ins Gefängnis. Und dieser?“ — ,,Léon Caguin, wohnt in der Rue St. Martin, ist nach Paris gekommen, um ein Lieferungsgeschäft mit dem Grenadierregiment abzuschließen; wird nach einigen Tagen verreisen.“ — „Gut. Wenn er aber über die festgesetzte Frist hinaus bleibt, kommt er ins Gefängnis! Der Dritte?“ — ,,Ein Kaffeemahler.“ — „Der folgende?“ — ,,Steht in schlechtem Ruf.“ — ,,Ausweisen! Und der letzte?“ — „Alexandre Jacob aus der Rue Moduet, Faktor, hat keinen Pass ...“ — „Ausweisen! Jagen Sie auch die andern fort! Alle ausweisen!“ Trotz aller Verbote und Verfolgungen bestand in Paris doch eine ständige jüdische Kolonie, die um 1780 herum an die 800 Seelen zählte. Die Zusammensetzung dieser Kolonie war recht bunt. Eine privilegierte Stellung nahmen die Juden aus dem Süden, die Sephardim ein, hauptsächlich Großkaufleute aus Bordeaux; an der Spitze dieser Gruppe stand der bekannte Philantrop, der Begründer der Taubstummenanstalt, Jakob Rodrigues Pereira. Die niedrigste Stufe in der Kolonie nahmen die Aschkenasim, elsässische und deutsch-polnische Juden, ein. Vom Jahre 1777 ab waren alle nach Paris kommenden Juden durch einen Erlass des Polizeidirektors verpflichtet, ihre Papiere (die Empfehlungsschreiben der Notabeln ihrer Gemeinden) dem Pereira vorzuweisen, der eine genaue Liste über die Neuankommenden führte und diese periodisch der Polizeibehörde vorwies; diese jüdische Inspektion war den Aschkenasim besonders lästig, da Pereira sie viel strenger behandelte als seine Landsleute, die Sephardim. Die Polizeijagden auf die passlosen Juden dauerten fort, und selbst in den ersten Monaten der Revolution (Mai und Juni 1789) fanden in Paris mehrere Überfälle der Polizei auf jüdische Quartiere statt.

Das Edikt von 1787, das den Nichtkatholiken volle Freiheit in Handel und Industrie gewährte, erstreckte sich auf Protestanten, aber nicht auf Juden. In den letzten Jahren vor der Revolution wurde die jüdische Frage in einer Regierungskommission, unter der Leitung des liberalen Ministers Malesherbes behandelt; dieser Kommission gehörten auch Vertreter der Juden an, von den Sephardim: die Juden aus Bordeaux, Furtado, Gradis und andere; von den Aschkenasim: der erwähnte Cerf-Berr aus Straßburg und Jesaja-Beer Bing aus Nancy. Die jüdischen Vertreter forderten bürgerliche Gleichberechtigung; die Regierung konnte sich aber zu einer so radikalen Reform nicht entschließen, bis das Ungewitter von 1789 losbrach.