§ 5. Österreich

Die Ohnmacht des aufgeklärten Absolutismus in Hinsicht der Lösung der jüdischen Frage trat mit besonderer Prägnanz im bedeutendsten Zentrum der westlichen Judenheit — im Österreich der 1780 er Jahre zutage. Der streng katholische Kaiser Joseph II. war zweifelsohne den Juden gegenüber duldsamer gesinnt als der preußische „schlechte Protestant“ Friedrich II. Daher war auch die praktische Politik in der jüdischen Frage in ihren Einzelheiten bei beiden Regenten verschieden; aber über die Rolle der Juden im Staate teilten sie dieselbe Ansicht. Wenn der König die Zügel der jüdischen Rechtlosigkeit unter keinen Umständen loslassen wollte, der Kaiser hingegen den Juden Duldsamkeit unter der Bedingung ihrer nationalen Entpersönlichung verhieß, so hatte es seinen Grund darin, dass der eine die Juden für „unverbesserlich“ hielt, der andere hingegen an die Möglichkeit glaubte, „sie nutzbringend für den Staat zu machen“. Aber das Korrektionssystem Österreichs war den Juden nicht leichter, als die starre Judenfeindschaft der preußischen Regierung. Indem Joseph II. Reformen einführte, nahm er mit der einen Hand mehr, als er mit der anderen gab. Die Schattenseiten seines Regimes waren um so empfindlicher, als deren Folgen sich auch für die dichten Judenmassen in solchen Provinzen wie Böhmen, Mähren und dem soeben von Polen losgetrennten Galizien fühlbar machten.

„Man würde jedoch irren,“ sagte ein Historiker, „wenn man annehmen wollte, dass Joseph II. in dem Juden den Menschen würdigte, den er eben als Menschen mit den anderen Untertanen gleichgestellt wissen wollte. Dies war nicht der Fall ... Er betrachtete die Juden sozusagen als ein Übel, das unschädlich gemacht werden muss, das Judentum als einen Ausbund von Torheiten und Alfanzereien, und das Gemeindewesen als eine Art geheime Gesellschaft, um den Staat auszubeuten.“ An der Spitze des Toleranzpatentes für Wien befinden sich z. B. solche Paragraphen:


1. Die Juden in Wien bilden keine Gemeinde, und ist ihnen der öffentliche Gottesdienst nicht gestattet.
2. Die Zahl der Juden soll nicht vermehrt werden, und da, wo sie bisher nicht ansässig waren, sollen sie auch jetzt nicht wohnen.
Die übrigen 23 Paragraphen des Patentes zerfallen in beschränkende und begünstigende. Zu den ersteren gehören die nach preußischem Muster aufgestellten Normen für den Aufenthalt der Juden in Wien. Ein Jude aus einer österreichischen Provinz darf sich in Wien nur auf Grund einer besonderen Genehmigung der Regierung aufhalten, ein ausländischer Jude — auf Grund einer Genehmigung seitens des Kaisers. Für das Wohnrecht wird von jeder Familie das „Toleranzgeld“ erhoben, aber dieses Recht erstreckt sich nicht auf die verheirateten Familienangehörigen ; in den Dörfern Niederösterreichs dürfen Juden nicht wohnen; eine Ausnahme wird für solche Personen gemacht, die daselbst Fabriken erbauen. Zu der Kategorie der begünstigenden Paragraphen gehören: das Recht der Juden, ihre Kinder in allgemeinen „normalen“ und Realschulen unterzubringen, wie das Recht, höhere Lehranstalten zu beziehen; Juden dürfen bei christlichen Meistern in die Lehre gehen, um sich von ihnen in allerhand Handwerken unterweisen zu lassen, ohne jedoch das Recht auf den Titel eines Bürgers oder Meisters erreichen zu können. Es wird den Juden gestattet, Großhandel zu treiben, Inhaber von Fabriken zu werden, unbewegliche Güter als Pfand zu nehmen, ohne diese jedoch für Schulden sich aneignen zu dürfen; die alten Bestimmungen betreffs einer besonderen Tracht, des Verbotes, sich auf der Straße bis zur Mittagsstunde an Sonn- und Feiertagen zu zeigen, öffentliche Belustigungen und Promenaden zu besuchen u. dgl. m. werden abgeschafft; abgeschafft wird ebenfalls die entehrende ,,Leibmauth“.

Als Kompensation für alle diese Begünstigungen wurde eine Reihe von Dekreten erlassen, die sämtlich darauf ausgingen, die Autonomie der jüdischen Gemeinden zu vernichten, die Sprache und nationale Kultur der Juden zu verdrängen. Das „Toleranzedikt“ verbot ihnen, die Geschäftsbücher und Korrespondenz in jüdischer Sprache (hebräischer und jüdisch-deutscher Umgangssprache) zu führen, die der offiziellen deutschen Sprache Platz machen musste. Durch ein Dekret vom 25. August 1783 schaffte der Kaiser das Rabbinergericht in Zivil- und geistlichen Angelegenheiten unter den Juden ab und unterstellte sie der Rechtsprechung der allgemeinen Gerichte. Es war dies ein harter Schlag für die jüdische Gemeindeselbstverwaltung. Die Regierungsgewalt begann auch in das jüdische Eherecht einzudringen: die Rabbiner waren in Angelegenheiten der Eheschließung und Ehescheidung der Kontrolle der Zivilgewalten unterstellt, denen es freistand, die Trauung oder Scheidung zu verhindern (1785 — 1788). In solchen „Reformen“ konnte die jüdische Masse freilich nur einen gefährlichen Eingriff in jene Freiheit ihrer inneren Lebensgestaltung erblicken, die sie selbst in den Zeiten ihrer gänzlichen bürgerlichen Rechtlosigkeit genoss.

Nicht minder beunruhigend war für die jüdische Masse eine andere Neuerung: die Heranziehung der Jugend zur Militärpflicht (1788). Es war dies das erste Beispiel der Aufnahme von Juden in das Heer eines christlichen Staates Europas — ein Beispiel, das die konservativen Kreise sowohl der christlichen wie der jüdischen Gesellschaft entsetzte. Die österreichische militärische Aristokratie erblickte darin eine Herabsetzung des Militärstandes; die jüdische Masse wiederum, die jahrhundertelang den allgemeinen Staatsinteressen entfremdet und vieler elementarer bürgerlicher Rechte beraubt war, konnte nicht umhin, bei dem Gedanken zu erschrecken, dass ihre Jugend in eine fremde, meistens feindliche Umgebung hineingezogen wird, wo ihr die Gefahr des Abfalls von ihrem Glauben und ihrer Nationalität droht. Die Rekrutenaushebungen in den österreichischen, von Juden bewohnten Provinzen boten ein herzzerreißendes Schauspiel. Eine von solchen Szenen — die Rekrutenaushebung im böhmischen Prag im Mai des Jahres 1789 — wird in einer zeitgenössischen Zeitschrift geschildert. In Prag wurden 25 jüdische Rekruten ausgehoben. Der Tag ihrer Beförderung in die Armee war ein Tag des Wehklagens: auf den den Kasernen anliegenden Straßen weinten laut die Mütter, Schwestern und jungen Gattinnen der Rekruten. Der berühmte Prager Rabbiner R. Jecheskel Landau erschien in der Kaserne und hielt vor den Rekruten eine Rede, in der er sie ermahnte, sich dem kaiserlichen Willen zu fügen und den militärischen Dienst ohne Murren auf sich zu nehmen und sich zu bemühen, die Gesetze des jüdischen Glaubens und insbesondere das tägliche Gebet zu beobachten (dabei überreichte der Rabbiner jedem von ihnen eine Rolle mit dem zur Verrichtung der Gebete nötigen Zubehör). Der Rabbiner hob die politische Bedeutung des Momentes hervor, indem er darauf hinwies, dass die Erfüllung der schwersten bürgerlichen Pflicht durch die Juden die Regierung bewegen könne, „das jüdische Volk auch von den übrigen Fesseln zu befreien, die es noch immer drücken“. Als der erregte Rabbiner seine Rede mit dem Ausrufe schloss: „Gott segne und beschütze euch“ — füllten sich die Kaserne und der anliegende Hof mit Schluchzen, die Rekruten warfen sich in die Knie vor dem greisen Seelenhirten, als ob sie um Rettung flehten; den schluchzenden Rabbiner, der nahe daran war, in Ohnmacht zu fallen, vermochte man kaum fortzubringen. Man fühlte, dass hier irgendein schwerer Riss vollzogen wurde, der früher eingetreten war, als der Volksorganismus Zeit hatte, sich auf ihn vorzubereiten. Konnten auch die alten Metropolen der Judenheit: Böhmen, Mähren und insbesondere Galizien, das noch in den alten Traditionen des polnischen Regimes lebte und von der mehr und mehr um sich greifenden chassidischen Bewegung erfasst war — in der Kaserne den Übergang zu besseren Zeiten erblicken?

In Böhmen bestand noch, auch in der „Reformepoche“ Josephs II., die alte Normierung der jüdischen Bevölkerung: die letztere war begrenzt durch die Zahl von 8.600 Familien; in Mähren war die Norm bis auf 5.400 gebracht worden; eine neue Ehe wurde nur in den Grenzen dieser Norm zugelassen; die Einwanderung der Juden aus anderen Provinzen unterlag vielen Schwierigkeiten. Doch wurde die Sphäre der industriellen Tätigkeit für die „geduldeten“ Juden bedeutend erweitert. Die Fabrikindustrie wurde zu jener Zeit von der Regierung gefördert und entwickelt: von den 58 Manufakturfabriken Böhmens befanden sich mehr als 15 in jüdischen Händen. In Prag waren Tausende christlicher Arbeiter in jüdischen Fabriken beschäftigt. Gemäß den Vorschriften Josephs II. schmälerte die Regierung auf jede Weise die Funktionen der jüdischen Selbstverwaltung, aber die Grundlagen der Autonomie blieben gewahrt. Eine große autonome Gemeinde befand sich in Prag, aufs äußerste zusammengedrängt in den 300 Häusern ihres Viertels. Im mährischen Nikolsburg hatte sich noch das Institut des „Bezirksrabbinats“ erhalten.

Die „reformierenden“ Experimente Josephs II. hatten insbesondere für Galizien schwere Rückwirkungen im Gefolge: Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Bau, der sich in der langen Reihe der Geschlechter unter polnischer Herrschaft gefestigt hatte, wurde im Verlaufe von 18 Jahren (1772 — 1790) unnachsichtig zerklüftet. Das ganze Gefüge des Volkslebens in dem angegliederten Lande wollte man mit einem Male durch Verordnungen aus Wien von Grund auf umgestalten; unter dem Vorwande der „Verbesserung“ verstümmelte man das Leben von Zehntausenden von Menschen. Da es im jüdischen Galizien eine Sache der Unmöglichkeit war, die in Österreich beliebte pharaonische Ehenormierung durchzuführen, erfand man einen Ersatz dafür: Es wurde festgesetzt, dass die Juden bei jeder Eheschließung eine Genehmigung vom Statthalter unter Einzahlung einer beträchtlichen Steuer für diese einzuholen haben. In der Folge wurde die Geldsteuer für die sich „bewerbenden“ Bräutigame durch die Verpflichtung ersetzt, ein Zeugnis über die vor einer besonderen Kommission bestandene Prüfung in Deutsch vorzuweisen. Gänzlich zerrüttet wurde der wirtschaftliche Wohlstand der Juden in Galizien durch eine Reihe von Verordnungen, die das Schankgewerbe und die Pachtung von landwirtschaftlichen Betrieben — Beschäftigungen, die nicht weniger als ein Drittel der galizischen Judenheit (1776, 1784 — 85) ernährten — zunächst beschränkten und dann untersagten. Zehntausende von Menschen wurden brotlos und kamen an den Bettelstab, die mittellosen und gänzlich Verarmten aber, die drei Jahre hintereinander keine Kopfsteuer zahlten, wurden von der Regierung des Landes verwiesen und nach Polen geschafft. Die Versuche Josephs II., die Juden an die Landarbeit heranzuziehen, fanden Anklang unter dem enterbten Landvolk, aber die Regierung war außerstande, alle sich darum bewerbenden mit Grund und Boden zu versehen, da sie zur selben Zeit damit beschäftigt war, auf ihren polnischen Grenzgebieten Deutsche anzusiedeln. Gleichen Schritt damit hielt die Zerstörung der komplizierten Gemeindeorganisation der Juden in Galizien. Nach einer Reihe von Versuchen, in Lemberg ein dem Staate unterstelltes Bezirksrabbinat zu schaffen und die Funktionen der Gemeinde zu schmälern, wurde den Rabbinern und den Gemeinden jede außerhalb der Sphäre der rein religiösen Angelegenheiten stehende Gewalt genommen. Unter solchen Umständen nahm das Misstrauen der jüdischen Massen gegenüber der österreichischen Regierung immer zu — und in solchen „Reformen“, wie der Heranziehung der Juden zur persönlichen Wehrpflicht und dem an sie ergehenden Lockruf, in die allgemeinen Schulen einzutreten, konnte man in Galizien nur Manifestationen der alten böswilligen, zerstörenden Politik erblicken.

Übrigens machte die Regierung kein Hehl aus ihrem Endzweck — der Vernichtung der nationalen Eigenart der Judenheit. In einer Reihe von Dekreten betonte Joseph II, diese Tendenz sehr bestimmt. In der der Denkschrift der Hofkanzlei über das neue Reglement für die galizischen Juden beigelegten Resolution (1788) formulierte der Kaiser seine Ansicht über die Judenfrage folgendermaßen: ,,Aus diesem so mühsam als schon langeher immer komplizierten Juden-Patententwurfe kann unmöglich was Zweckmäßiges, was Gedeihliches entstehen, wenn man sich in alle, teils von Moses hergeleiteten, teils seither ganz verkehrten jüdischen Gesetze und Gebräuche einlassen, selbe ergründen und mit den allgemein bestehenden Anordnungen nur verbinden will . . . Ihre Religionsübungen und Gebräuche, die nicht wider die allgemeinen Gesetze streiten, können sie ungestört fortsetzen, die aber dagegen streiten, das wäre alsdann jedem frei zu lassen, entweder von seinen Religionsgebräuchen nach Zeit und Umständen als eine Ausnahme sich zu entfernen, oder aber den Vorrechten, die er als Bürger des Staates genießt, zu entsagen und mit Zahlung des Abfahrtsgeldes außer Land zu gehen , . .“ Eine derartige Instruktion, — die für die ,,Duldsamkeit“ der Epoche des aufgeklärten Absolutismus bezeichnend ist — gab der Verwaltung ein gefährliches Werkzeug des Eingriffes in das geistige Leben der Bürger in die Hand; folgerichtig auf die patriarchalische Lebensordnung der galizischen Judenheit angewandt, konnte sie zu den größten Gewissensvergewaltigungen führen. Zu Lebzeiten Josephs II. kam dieses System der Reglementierung der inneren Lebensgestaltung nicht dazu, sich in der Praxis voll und ganz zu äußern (der Kaiser starb im Jahre 1790); aber in dem darauffolgenden Zeitabschnitt wird es die Maske der wohlwollenden Reform abstreifen und unter Zuhilfenahme der Machtmittel des Polizeistaates sein Werk der Kulturvergewaltigung verrichten, „Zuerst die nationale Entpersönlichung, dann die bürgerliche Gleichberechtigung“ — so lautete die Losung dieser Politik, Von den bürgerlichen Reformen Josephs II, wird nichts zurückbleiben, aber sein Bevormundungssystem wird zu einem Bestandteile der administrativen Praxis Österreichs werden. Nur dem nicht genügend scharfblickenden Häuflein der „Aufgeklärten“ aus der Mendelssohnschen Schule, das an die Möglichkeit glaubte, ein Geschlecht von gebildeten und folglich gleichberechtigten jüdischen Bürgern mit Hilfe der offiziellen „Normalschulen“ zu schaffen, konnte die zehnjährige Regierungszeit Josephs II. als der Anfang der Emanzipation erscheinen. Übrigens erfreute sich eine kleine, ihrem Volke fernstehende Gruppe von Juden in Wirklichkeit beinahe der Gleichberechtigung: es war dies die Gruppe der aristokratischen Familien in Wien, die durch finanzielle Operationen mit dem Hofe und den höheren Würdenträgern verknüpft waren. Der „Berliner Salon“ hatte seine Filiale in Wien: hier waltete die junge Baronin Fanny von Arnstein, die Tochter des Berliner Kaufmanns und des Oberhauptes der jüdischen Gemeinde, Daniel Itzig; Joseph II. kannte und schätzte die Baronin, die in der Folge eine ansehnliche Rolle in den diplomatischen Kreisen Wiens spielte.

Die Regierungspolitik Ungarns glich kurz vor dem Jahre 1789 ungefähr derjenigen Österreichs. Das „Toleranzedikt“ Josephs II. passte sich hier unter dem Namen „Systematica gentis judaicae regulatio“ (1783) den lokalen Verhältnissen an. Die 80.000 ungarischen Juden, die früher das enge Gebiet einiger städtischer Bezirke bewohnten, erhielten das beständige oder provisorische Wohnrecht in den königlichen freien Städten, mit Ausnahme der Bergbauzentren. Doch blieb noch für sie die Zahl der ihnen zugänglichen Gewerbe knapp bemessen und der Druck der Staatssteuern ungemein hart. Die Rechtserweiterung war von der Erfüllung des „Aufklärungsprogramms“ Josephs II. abhängig gemacht: Es wurde bekannt gegeben, dass nach Ablauf von 10 Jahren von jedem Unternehmer, der im Begriffe ist, irgendein Geschäft zu eröffnen, die Vorweisung eines die Absolvierung eines Kurses der Normalschule bestätigenden Zeugnisses gefordert werden wird. Die Kulturbevormundung nahm mitunter gar seltsame Formen an. Unter den durch die kaiserliche Verfügung vorgeschriebenen Reformen befand sich die den Juden auferlegte Verpflichtung, sich den Bart zu rasieren. Da dieser Umstand die Verletzung eines Brauches im Gefolge hatte, so erging kurz darauf an den Kaiser eine Bittschrift der ungarischen Juden, sich den Bart wachsen lassen zu dürfen, indem sie sich dabei auf das verkündete Prinzip der Glaubensfreiheit beriefen. Die Bitte wurde beachtet . . . Der altersschwache Kaiser zeigte sich auf diese Weise nachgiebiger als der preußische König Friedrich II., der den freidenkerischen Berlinern das Bartrasieren nicht gestattete, da er von einer entgegengesetzten Ansicht über die Bedeutung des jüdischen Bartes ausging (oben, § 3).