§ 40. Der kulturelle Zustand

Die von der politischen Bewegung des Revolutionszeitalters nur wenig berührte österreichische Judenheit wurde auch von der kulturellen Krise, die im geistigen Leben der deutschen Juden solche Verheerungen angerichtet hatte, wenig in Mitleidenschaft gezogen. In Österreich bestanden noch immer die beiden Grundpfeiler der alten Kultur: der Rabbinismus und der Chassidismus, von denen der erstere in Deutschland endgültig erschüttert, der letztere aber gar nicht aufgekommen war. Der Rabbinismus herrschte noch in Böhmen, Mähren und Ungarn, wo in den großen Gemeinden seine hervorragenden Vertreter, die Stützen der alten Rechtgläubigkeit wirkten (Jecheskel Landau und dessen Nachfolger in Prag, der mährische Landesrabbiner Mordechai Bennet in Nikolsburg, Moses Sofer in Pressburg u. a. m.). In Galizien hatte sich aber der Chassidismus seit dem Ende des XVIII. Jahrhunderts über immer neue Gebiete ausgebreitet und fast alle Gemeinden erobert, mit Ausnahme einiger bedeutender Zitadellen des Rabbinismus (Lemberg, Krakau und Brody). Die Zaddikim exaltierten die Massen — die einen durch ihre „Wunderwerke“, die anderen — durch ihren asketischen und heiligen Lebenswandel (Elimelech von Lysenzu und dessen Nachfolger, Wolf von Zbarz, Mosche-Lejb von Sassow u. a. m.). Um 1790 tobte in den Gemeinden der Kampf um die Macht zwischen den Rabbinern und den Zaddikim. Der bekannte antichassidische Prediger Israel Leibel war nach Galizien aus Litauen um die Zeit gekommen (1797 — 98), als in Russland von neuem der Krieg zwischen den Misnagdim und den Chassidim entbrannt war (s. weiter, §52). Hier stieß er aber auf gut organisierte Chassidim, die Leibels Predigten in den Synagogen sprengten und ihn selbst bei der Polizei als einen gefährlichen Agitator anzeigten. In den ersten Jahren des XIX. Jahrhunderts hatte sich der Kampf zwischen Rabbinismus und Chassidismus etwas gelegt: die beiden Gegner witterten die Gefahr seitens des gemeinsamen Gegners — der Aufklärung, die von Menschen vom Schlage des Herz Homberg und mit Unterstützung der Regierung verbreitet wurde.

Das Bündnis der Aufklärer mit der österreichischen Regierung, die die jüdische Masse unterdrückte, kompromittierte in den Augen der letzteren die Idee der Aufklärung selbst. In verzweifelter Gegenwehr gegen die neuen „deutsch-jüdischen“ Schulen zeigte die Masse selbstverständlich viel geistige Zurückgebliebenheit und chassidischen Obskurantismus, zugleich aber auch einen politischen Protest, denn die neuen Schulen wurden ihr von derselben Regierung aufgezwungen, welche die pharaonischen Gesetze gegen die Vermehrung der Juden erließ und sie in der Hölle der Rechtlosigkeit zu schmachten zwang. Der Hass gegen die offiziellen Aufklärer aus dem Kreise Hombergs traf auch die bescheidenen Idealisten, die aufrichtig für die Idee einer kulturellen Erneuerung des Judentums schwärmten. Solche „Ketzer“ wurden verfolgt und aus den Familien und Gemeinden hinausgedrängt, ihre „schädlichen“ Bücher aber verbrannt. Die „Freunde der Aufklärung“ mussten sich in verschiedenen Städten Galiziens zu Geheimbünden zusammenschließen, wo sie Werke von Lessing, Mendelssohn und Schiller lasen und sich an verbotenen Früchten delektierten: den naiven Elaboraten der neuhebräischen Literatur, deren Organ der Berliner „Hameassef“ (§ 35) war.


Unter solchen Umständen konnte die neue hebräische Literatur keine hervorragenden Vertreter in Österreich haben. Außer Homberg, der sich der Herstellung schlechter amtlicher Lehrbücher gewidmet hatte, wirkte hier ein weit bedeutenderer Schriftsteller der neuen Schule — Jehuda-Leib Ben-Seeb. Zu Krrakau geboren, hatte sich Ben-Seeb schon in seiner Heimat heimlich mit den verbotenen Wissenschaften abgegeben; nachdem er Berlin und Breslau besucht hatte, trat er offen als Mitarbeiter des freigeistigen „Hameassef“ hervor. Er machte sich zur Aufgabe, ein Werkzeug zur Wiedererweckung der vom rabbinischen Dialekt verdrängten hebräischen literarischen Sprache zu schaffen. Zu diesem Zwecke verfasste er zwei grundlegende Werke: eine vollständige Grammatik der hebräischen Sprache („Talmud leschon iuri“, Breslau, 1796) und ein vollständiges Wörterbuch dieser Sprache („Ozar Haschoraschim“, Wien, 1807). Diese Werke bildeten eine notwendige Ergänzung zum Bibelkommentar der Mendelssohnianer und verfolgten den gleichen Zweck: der neuen Literatur statt des Talmuds die Bibel zugrunde zu legen. In der rationalistischen Auslegung der Bibel ging BenSeeb noch viel weiter als die „Biuristen“: er hatte den Mut, als erster eine „Einleitung zur Bibel“ („Meuo lemikrae kodesch“, Wien, 1810) zu veröffentlichen, die einige, natürlich sehr gemäßigte, dem bekannten deutschen Orientalisten Eichhorn entlehnte Elemente der Bibelkritik enthielt. Ben-Seeb verfasste und veröffentlichte seine Werke zum größten Teil in Wien, wo er die letzten zehn Jahre seines Lebens als Korrektor an der hebräischen Druckerei von Schmid wirkte. Er starb zu Wien im Jahre 1811, dreiundvierzig Jahre alt. Das Leben in der österreichischen Hauptstadt, ferne von den galizischen Obskuranten, gab ihm die Möglichkeit, ohne Angst vor Verfolgungen zu schreiben. Und doch überfiel ihn zuweilen eine Angst vor den Vertretern der Orthodoxie. Auf die Bitte eines seiner galizischen Freunde, in der Presse mit der Entlarvung des Chassidismus hervorzutreten, antwortete Ben-Seeb (1808), dass er Angst habe, die Chassidim anzugreifen, weil sie aus Rache seine Werke in ganz Galizien verbrennen könnten. „Übrigens,“ fügte er hinzu, „müssen wir diesen Heuchlern dankbar sein: gäbe es sie nicht, so würden uns die Anhänger des Rabbinismus das Leben noch saurer machen. Wenn zwei Diebe streiten, bekommt der anständige Mensch das Gestohlene wieder. Die Chassidim bekämpfen die Rabbinisten, und die Rabbinisten die Chassidim, zwischen ihnen tanzt der Teufel, uns aber (die Aufklärer) lässt man vorläufig in Ruhe . . .“ Bittere Ohnmacht klingt aus diesen Worten. Viel zu schwach waren die ersten Pioniere der Aufklärung unter der zurückgebliebenen patriarchalischen Masse der österreichischen Judenheit, viel zu oberflächlich war auch das System der Aufklärung. Mit der Zeit wird sich aber die auf die kulturelle Erneuerung des Volkes gerichtete Bewegung erweitern und vertiefen und ihr Zusammenstoß mit den alten Lebensformen einen mehr dramatischen Charakter haben.

Die Berliner Epidemie der Massentaufen war noch nicht nach Österreich gedrungen. Fälle von Renegatentum häuften sich nur innerhalb der Wiener jüdischen Aristokratie, die mit großem Eifer Anschluss an die christlichen Kreise suchte. Die Assimilation hatte sich in diesen aristokratischen Häusern fest eingenistet. Zu Beginn des XIX. Jahrhunderts stand in Wien noch der vornehme Salon der Fanny Arnstein (§ 5), der Gattin des reichen Nathan Arnstein, dem der Kaiser den Barontitel verliehen hatte, in Blüte. Im glänzenden Salon der Baronin Arnstein, die vom Judentume offiziell nicht abgefallen war, trafen sich die Vertreter der jüdischen und der christlichen Gesellschaft Wiens; hier lernten reiche und gebildete Juden, die aber vom Titel „Tolerierte“ noch nicht befreit waren, österreichische Beamte, Schriftsteller und Künstler kennen. In der Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon zeigte die Baronin Arnstein in ihrer philantropischen Tätigkeit einen glühenden deutschen Patriotismus. Während des Wiener Kongresses sah ihr Salon zuweilen die diplomatischen Vertreter der verschiedenen europäischen Staaten.