§ 4. Rechtlosigkeit und Aufklärung

Die Schmach der jüdischen Rechtlosigkeit in Preußen fiel besonders im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts auf, als sie sich in einen schroffen Widerspruch zu dem kulturellen Erwachen der jüdischen Gesellschaft unter dem Einflusse der Aufklärungsbewegung der Mendelssohnschen Epoche setzte. Mendelssohn selber, der die Gedankenwelt eines beträchtlichen Teiles der deutschen Gesellschaft beherrschte, der Prototypus Nathans des Weisen, war in politischer Hinsicht ein rechtloser, geduldeter Jude, der das Wohnrecht in Berlin als Buchhalter einer Fabrik genoss. Marquis d'Argens, der zu Friedrich II. in freundschaftlichen Beziehungen stand und Mendelssohn zugetan war, erkundigte sich einmal über die rechtliche Lage des letzteren und erhielt folgende Auskunft: Er genießt das Wohnrecht als Angestellter bei dem Fabrikanten Bernhard. Wenn dieser ihn heute entlässt, und er keinen anderen Schutz Juden findet, der ihn anstellen sollte, so wird ihn die Polizei des Landes verweisen. Dem Philosophen „verzieh“ man seine Stammesangehörigkeit. Ein interessantes Lebensbild entwirft uns ein Zeitgenosse, der das erste Zusammentreffen des in Königsberg als Gast weilenden Mendelssohn mit Kant schildert: „Ein kleiner verwachsener Jude mit Spitzbart und starkem Höcker trat, ohne viel sich um die Anwesenden zu bekümmern, doch mit ängstlich leisen Schritten in den Hörsaal und blieb unfern der Eingangstüre stehen. Wie gewöhnlich begannen Hohn und Spott, die zuletzt in Schnalzen, Pfeifen und Stampfen übergingen; aber zum allgemeinen Erstaunen blieb der Fremde auf seinem Platze wie festgebannt, mit einer eisigen Ruhe und hatte sich sogar, um seinen Willen, den Professor zu erwarten, deutlich an den Tag zu legen, eines leerstehenden Stuhles bedient und darauf Platz genommen. Man näherte sich ihm, man fragte, er antwortete kurz und artig; er wolle dableiben, um Kants Bekanntschaft zu machen. Nur sein Erscheinen konnte endlich den Lärm beschwichtigen. Sein Vortrag lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf andere Dinge, und man ward so hingerissen, so versenkt in das Meer von neuen Ideen, dass man der Erscheinung des Juden längst nicht mehr gedachte, als dieser nach beendigtem Kollegium sich mit einer Heftigkeit, die mit seinem früheren Gleichmute seltsam kontrastierte, durch die Menge drängte, um zum Katheder zu gelangen. Die Studierenden bemerkten ihn kaum, als wieder das höhnische Gelächter erschallte, das aber sogleich einer stummen Bewunderung wich, da Kant, nachdem er einen Augenblick den Fremden bedeutend betrachtet und dieser einige Worte gesagt hatte, ihm mit Herzlichkeit die Hand drückte und dann in seine Arme schloss. Wie ein Lauffeuer ging es durch die Menge: „Moses Mendelssohn! Es ist der jüdische Philosoph aus Berlin!“ und ehrerbietig bildeten die Schüler eine Gasse, als die beiden Weltweisen Hand in Hand den Hörsaal verließen.“

Die deutsche Gesellschaft, die den Juden im allgemeinen verachtete, machte für einzelne Personen eine Ausnahme. Ein gewisser Teil der Gesellschaft stand unter dem mächtigen humanisierenden Einflusse des im Jahre 1779 erschienenen „Nathan des Weisen“. In diesen Kreisen wurde der Jude nicht mehr mit dem Kleinhändler identifiziert: in ihm erblickte man zuweilen die Anlagen einer tiefen intellektuellen und ethischen Kultus. Das obenerwähnte Werk von Dohm: „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ (1781) brachte ebenfalls vielen die Überzeugung bei, dass der Niedergang der jüdischen Masse und ihre soziale Entfremdung vornehmlich auf ihrer Rechtlosigkeit und bürgerlichen Erniedrigung beruhen. In den höheren Kreisen der Berliner Gesellschaft machte sich schon dann eine Annäherung zwischen Juden und Christen bemerkbar. Es war dies nicht mehr jener intime Umgang, den vereinzelte Denker und literarische Persönlichkeiten miteinander in dem bescheidenen Häuschen Mendelssohns, in dem Kreise von Lessing, Nikolai und Gleim pflogen. In den 1780 er Jahren war der „Berliner Salon“ im Entstehen begriffen, wo sich die Vertreter der christlichen und jüdischen Aristokratie zusammenfanden. Die jüdische Geldaristokratie war eine neue Frucht der damaligen wirtschaftlichen Ordnung. Friedrich II., der die jüdische Masse im Kleingewerbe wirtschaftlich verkümmern ließ, förderte die jüdischen Großkapitalisten in ihren Fabrik-, Bank- und Pachtunternehmungen. Viele Juden in Berlin, Königsberg und Breslau bereicherten sich an Heereslieferungen zur Zeit des Siebenjährigen Krieges; die Regelung der königlichen Finanzen kam in einem beträchtlichen Grade durch ihre Vermittelung zustande. Für solche Personen machte allerdings der König eine Ausnahme von dem harten „Judenreglement“, indem er ihnen „Generalprivilegien nach den Rechten christlicher Kaufleute“ erteilte. Auf diese Weise kamen die reichen Häuser der Ephraim, Itzig, Gumpertz und anderer auf. Während die Familienhäupter ganz in ihren umfassenden geschäftlichen Unternehmungen aufgingen, eröffneten ihre Frauen und Kinder in reich eingerichteten Wohnungen „Salons“ nach dem Muster der besten aristokratischen und höfischen Salons von Berlin und suchten sogar diese durch Eleganz und Üppigkeit in den Schatten zu stellen. Die Türen dieser Salons standen den Vertretern der höheren christlichen Gesellschaft weit offen. Als Hauptköder dieser Salons dienten die hübschen, gebildeten Jüdinnen, die vom Drange nach einer Berührung mit der deutschen Aristokratie ganz ergriffen waren. Die Häuser der Bankiers Ephraim, Itzig, Cohen und Meier in Berlin wurden von preußischen Offizieren, Würdenträgem und Diplomaten gerne besucht; hier wurden Liebesverhältnisse mit den freundlichen Töchtern Israels angeknüpft, die bereit waren, ihr Judentum für den Titel einer deutschen Baronin oder einer preußischen Offiziersdame einzutauschen. Um das Jahr 1786 tat sich in Berlin besonders der intelligente, in literarischer Hinsicht bedeutende Salon der Henriette Herz hervor — einer üppigen schönen Jüdin, der Frau des Arztes Markus Herz, der ein Freund Mendelssohns war. In diesem Jahre kam zufällig in den Herzschen Salon Graf Mirabeau, der in einem diplomatischen Auftrage in Berlin weilte, und auf den der Salon durch seinen Prunk einen gewaltigen Eindruck machte. Aber die Glanzperiode des Salons fällt in die ersten Jahre der französischen Revolution.


Die folgende, von einem Zeitgenossen erzählte Episode illustriert das Verhalten der damaligen Berliner Gesellschaft den Juden gegenüber. Im August des Jahres 1788 wurde im Nationaltheater zu Berlin das Drama von Shakespeare ,,Der Kaufmann von Venedig“ aufgeführt. Der Schauspieler Fleck, der den Shylok meisterhaft wiedergab, hatte nicht den Mut, in dieser Rolle vor einem Publikum, in deren Mitte sich nicht wenige Juden befanden, ohne einleitende Entschuldigungen aufzutreten. Vor Beginn des Stückes deklamierte Fleck in Form eines Prologs ein eigens zu diesem Zwecke verfasstes Gedicht, in welchem er darauf aufmerksam machte, dass es in der Absicht der Darsteller gar nicht liege, ,,die Glaubensgenossen Mendelssohns“ auf der Bühne zu verspotten; sie stellen auf der Bühne in gleicher Weise die Tugenden und Laster der Christen wie der Juden dar:

Nun das kluge Berlin die Glaubensgenossen des weisen
Mendelssohn höher zu schätzen anfängt; nun wir bei diesem
Volke (dessen Propheten und erste Gesetze wir ehren),
Männer sehen, gleich groß in Wissenschaften und Künsten, —
Wollen wir nun dies Volk durch Spott betrüben? . . .
Nein, dies wollen wir nicht. Wir schildern auch bübische Christen . . .
Wir tadeln der Klöster Zwang und Grausamkeit . . .
Im Nathan dem Weisen spielen die Christen die schlechtere Rolle;
Im Kaufmann Venedigs tun es die Juden . . .

Der zeitgenössische Chronist bemerkt jedoch dazu, dass dieses zuvorkommende Verhalten den Juden gegenüber keinen Anklang im Publikum fand, und dass bei den darauf folgenden Aufführungen der Prolog nicht mehr vorgetragen wurde. ,,Mit Recht“ — sagt er — „äußerte man seine Unzufriedenheit darüber, dass die Juden sich eine Sonderstellung im Theater schaffen wollten, wo alle Stände dargestellt werden, jeder in seinen komischen und ernsten Zügen.“

Es gab einen Moment, wo den Juden in Preußen die Hoffnung auf eine etwaige Verbesserung ihrer rechtlichen Lage winkte. Es war dies um das Jahr 1786, als nach dem Tode des Schöpfers des harten ,,Judenreglements“, Friedrich II., Friedrich Wilhelm II. den Thron bestieg — ein Herrscher mit minder despotischen Neigungen, der im Honigmonate seiner Regierung dem Generaldirektorium seinen Willen kundtat, ,,dass die Lage dieser verfolgten Nation nach Möglichkeit erleichtert werde“. Durch die gütigen Worte des Königs ermuntert, wandten sich die Vorsteher der Berliner jüdischen Gemeinde an ihn mit einer Bitte ,,voll Ehrfurcht und kindlichen Vertrauens“ (6. Februar 1787): „Schon lange seufzen wir unter der Last unaufbringlicher Abgaben und unter dem nicht weniger harten Druck der Verachtung Beide haben unsere Nation herabgewürdigt und uns gehindert, auf dem Wege der Geistesbildung, der größeren Industrie und jeder Art von Glückseligkeit Fortschritte zu machen . . . Ausgeschlossen von allem Nahrungserwerb, vom Handwerk, vom Ackerbau, von allen Bedienungen des Staates, bleibt allein die Handlung und auch diese noch mit vielen Einschränkungen das einzige Erwerbungsmittel unserer Kolonie.“ Des weiteren weisen die Bittsteller darauf hin, dass „auch der Staat gewinnen muss, wenn eine ansehnliche Kolonie, die bis jetzt in Mutlosigkeit versunken ist, durch eine mildere Behandlung zu nützlicheren Untertanen umgebildet wird.“ Die demütige Bitte der jüdischen Vertreter ging dahin, dass der König eine Kommission einsetzen möchte, die in Gemeinschaft mit den Bevollmächtigten der jüdischen Gemeinden die bestehende Gesetzgebung betreffs der Juden einer Prüfung unterziehe und einen Entwurf über die Verbesserung ihrer staatsbürgerlichen Lage ausarbeite.

Der König erfüllte die Bitte und erteilte dem Generaldirektorium in diesem Sinne einen Befehl. Das letztere verfügte, dass die jüdischen Gemeinden aus ihrer Mitte unverzüglich Bevollmächtigte zu wählen haben, die der Kommission „die Wünsche der gesamten Judenheit“ vorlegen sollten. Am 17. Mai 1787 ging ein umfangreiches „untertänigstes Promemoria“ im Namen „der Abgeordneten aller jüdischen Kolonien des preußischen Staates“ der bei dem Generaldirektorium zu jener Zeit gegründeten „Königlichen Kommission zur Reform des jüdischen Lebens“ zu. In diesem Promemoria, in dem alle für die Juden festgesetzten Rechtsbegrenzungen aufgezählt werden, baten die Abgeordneten die Kommission, bei der Ausarbeitung des Reformprojektes nicht von dem schändlichen Reglement des Jahres 1750 auszugehen, sondern in Gemeinschaft mit den jüdischen Abgeordneten einen auf den Prinzipien der Duldsamkeit und der Achtung vor dem Menschen beruhenden Entwurf zu verfassen.

Alle diese Bemühungen erzielten als nächstes Ergebnis zwei partielle Steuererleichterungen: im Jahre 1787 wurde das schändliche „Geleit“ für Juden preußischer Staatsangehörigkeit abgeschafft, und im Jahre 1788 kam die Befreiung von der obenerwähnten tragikomischen Porzellansteuer zustande. Im System der jüdischen Rechtlosigkeit selber hingegen vollzog sich keine Wandlung. Die vom Könige eingesetzte Beamtenkommission erhielt vom Generaldirektorium eine vom alten Geiste der Judenfeindschaft und Kasernendisziplin erfüllte Instruktion. In dieser Instruktion wurden der Kommission folgende Fingerzeige gegeben: ,,die Verbesserung ihres Zustandes muss mit ihrer Nutzbarkeit für den Staat in genauem Verhältnis stehen.“ Die Gewerbebeschränkungen müssen gemildert werden, denn die Not drängt die Juden auf die Bahn unerlaubter Bereicherungsmittel; andererseits aber könnte die Rechtserweiterung der Juden ohne die gleichzeitige Beseitigung ihrer „Absonderung“ dem Staate noch größeren Schaden zufügen. Daher die Notwendigkeit, jede auf die Reform des jüdischen Lebens hinzielende Absicht sorgfältig abzuwägen; die Rechtserleichterungen dürfen nur in strengster Abstufung eingeführt werden, „bis ihre Kinder und Nachkommen für sich selbst und für den Staat sich gänzlich oder zum größten Teil verbessert haben werden.“ Nach einer derartigen Instruktion konnte man freilich von der Kommission nur sehr wenig erwarten. Und in der Tat, nach einer zweijährigen Beratung arbeitete sie ein derartiges Reformprojekt aus (1789), dass selbst die demütigen jüdischen Abgeordneten sich aufbäumten und erklärten, dass sie es vorzögen, beim alten Reglement zu bleiben . . . Dieser erbärmliche Kanzleiversuch fiel in das Jahr der großen französischen Revolution!