§ 39. Ungarn

Die ihrer sozialen Lage und ihrem kulturellen Zustande nach der galizischen verwandte ungarische Judenschaft unterschied sich von dieser durch einige Eigentümlichkeiten in rechtlicher Beziehung. Die ganze jüdische Bevölkerung Ungarns hatte die schwere „Toleranzsteuer“ zu zahlen, deren Ertrag eine Million Gulden überstieg. Infolge der Eigentümlichkeiten der ungarischen Autonomie und feudalen Ordnung, hatten die Juden sehr viele Behörden über sich: in den königlichen Städten wurden sie von den Beamten des Palatins (des Erzherzog-Statthalters aus kaiserlicher Familie) und von den Magistraten bevormundet; auf dem flachen Lande — von den Gutsbesitzern. Die Juden, die in großen Massen in solchen Zentren wie Pressburg, Ofen und Pest lebten, mussten fortwährend für ihr Wohnrecht und Gewerbefreiheit gegen das Bestreben der Magistrate, sie auf Grund des alten städtischen Privilegs „der Nichtzulassung von Juden“ (de non tolerandis judaeis) hinauszudrängen, kämpfen. Der Aufenthalt in Bergwerksbezirken war den Juden grundsätzlich verboten. Der Kleinhandel, und besonders der Hausierhandel, von dem die armen Juden fast ausschließlich lebten, unterlagen fortwährenden Einschränkungen und stellenweise auch Verboten.

Der Widerhall der Emanzipationsbewegung und die auf die neue Regierung (Leopolds II.) gesetzten Hoffnungen riefen in der jüdischen Bevölkerung Ungarns eine Gärung hervor. Im Jahre 1790 wandte sie sich an den Kaiser mit einer Petition, die rechtliche Lage der Juden zu verbessern. Die Petition wurde dem Ungarischen Reichstag übergeben und in einer eigenen Kommission behandelt. Es kam das Gerücht auf, dass der Reichstag von 1791 geneigt sei, der Bitte nachzukommen, unter der Bedingung, dass die Juden die Bereitschaft äußern, ihre Söhne in der aktiven Militärdienst zu geben (der damals für die ungarischen Juden nicht obligatorisch war). Jüdische Delegierte traten in der Stadt Rechnitz zusammen und berieten über die Frage, ob man diesen Schritt zur Erlangung der Gunst des Reichstags unternehmen solle. Ein Delegierter, Naphtali Rosenthal, trat für die Notwendigkeit ein, die Militärpflicht zwecks Erlangung von Bürgerrechten freiwillig anzunehmen, da die Regierung doch sowieso früher oder später diese Pflicht den ungarischen Juden auferlegen werde. Aber der populäre Vertreter der Pressburger Gemeinde, Koppel Täben, sprach sich gegen die freiwillige Belastung des Volkes mit der schwersten der Pflichten aus, und seine Ansicht wurde von der Mehrheit der Versammlung gebilligt. Wie es sich bald darauf herausstellte, war auch der Ungarische Reichstag noch lange nicht geneigt, das Opfer der Juden anzunehmen. Als im Reichstage die Rede auf die Heranziehung der Juden zum Militärdienst kam, erklärte der Abgeordnete Kardinalprimas Batthyany in großer Erregung, dass die Juden der Ehre, unter ungarischen Fahnen zu dienen, gar nicht würdig seien. Der Entwurf der Reichstagskommission zu einer partiellen Erweiterung der Rechte der Juden kam im Reichstage von 1792 gar nicht zur Sprache, und alles blieb beim alten.


Die neue politische Strömung — die von den Eroberungen Napoleons hervorgerufene Freiheitsbewegung — trieb auch die ungarischen Juden auf den Weg des Kampfes um das Recht. Im Jahre 1807 übereichten sie dem Reichstag eine Petition wegen Gleichstellung der Juden in Bezug auf die Rechte mit allen nichtadligen Ständen, doch unter Beibehaltung ihrer Gemeindeautonomie; sie ersuchten ferner, die Einteilung der Juden nach Berufen in folgenden Klassen zu legalisieren: Ackerbauer, Fabrikanten, Handwerker, Kaufleute, Kleinbürger und Hausierer; die letztere vom Gesetz verfolgte Kategorie sollte bis zur Verbreitung des Ackerbaues und der Fabrikindustrie unter den Juden geduldet werden. Die Reichtagskommission wollte die Duldung des Hausierhandels, der den Ladengeschäften Konkurrenz machte, nicht genehmigen, und die Juden mussten sich mit ihrem Gesuch an Franz I. wenden: er möchte doch den Ruin der armen Masse, die von dem für das Land so nützlichen Hausierhandel lebe, nicht zulassen.

Während die Regierung noch schwankte, ob sie den vielen Tausenden kleiner Händler ihr tägliches Brot nehmen solle, entschied sie ohne jede Schwankung im positiven Sinne die Frage von der Heranziehung der ungarischen Juden zum Militärdienst (1807). Und gleichsam zur Verhöhnung des Prinzips der Übereinstimmung zwischen den bürgerlichen Rechten und Pflichten, erhöhte sie um die gleiche Zeit um 50% die „Toleranzsteuer“ — das Symbol der Rechtlosigkeit der „Fremdstämmigen“, denen man soeben die Pflicht, das Blut für das Vaterland zu vergießen, auferlegt hatte. Im Jahre 1811 erreichte der Gesamtertrag der Toleranzsteuer die Summe von 1.600.000 Gulden. Die ungarischen Juden blieben auch von amtlichen „aufklärerischen“ Experimenten nicht verschont, die hier übrigens in viel bescheidenerem Maße betrieben wurden als in Galizien. Beim Eintritt in die Ehe wurde aber ein Zeugnis über die Absolvierung einer Normalschule verlangt. Die Juden mussten entweder Mittel zur Umgehung des Gesetzes ersinnen oder zum alterprobten Mittel der Bestechung greifen.