§ 38. Die Korrektionspolitik in Galizien

In dem dicht von Juden bevölkerten Galizien, das Österreich nach dem Zerfalle Polens erhalten hatte*), war die Einschränkung der jüdischen Bevölkerung durch Festsetzung von Normen unmöglich; die österreichische Regierung fand aber andere Mittel, die Juden zu drangsalieren, natürlich nur um sie zu „bessern“. Für dieses Land galt eine eigene jüdische Verfassung — das „Toleranzpatent“ Josefs II. vom Jahre 1789, zu dem später zahlreiche Zusätze und „Novellen“ im Geiste der vorhergehenden Regierung hinzukamen. Auch hier trägt die ihrem Wesen nach repressive gesetzgeberische Akte einen wohlklingenden Titel: „Patent, kraft dessen den Juden alle Rechte und Vorrechte der übrigen Untertanen verliehen werden.“ Die ,,Gleichberechtigung“ bestand nur darin, dass die Juden den allgemeinen städtischen Behörden und Gerichten unterstellt wurden, dafür war ihnen aber schon früher das einzige wertvolle Erbe der polnischen Zeit genommen worden — die weitgehende Gemeindeautonomie, die nun aufs äußerste eingeengt wurde. Auch das wirtschaftliche Leben wurde einer strengen Reglementierung unterworfen. Die unter den Juden besonders verbreiteten Berufe — die Pacht landwirtschaftlicher Unternehmungen, Branntweinschenken, Brauereien und Mühlen — waren ihnen untersagt. Grundbesitz auf dem Lande durften sie nur unter der Bedingung erwerben, dass sie ihn auch selbst bestellten. In Lemberg war die Niederlassung neuer jüdischer Familien untersagt, und die altansässigen durften nur in bestimmten Vierteln und Vorstädten wohnen.

*) Das Gebiet dieses Landes wechselte in den Jahren 1789 — 1815 mehrmals. Nach der dritten Teilung Polens (1795) bekam Österreich, das vorher schon Ostgalizien besaß, auch Westgalizien mit der Stadt Krakau. Im Jahre 1809 wurde letzteres von Österreich losgerissen und dem Großherzogtum Warschau angegliedert; 1815 fiel es, aber wieder an Österreich zurück (vgl. weiter § 44).


Alle Juden mussten sich zwecks öffentlicher Registrierung Familiennamen zulegen, die sie bis dahin nicht gehabt hatten. Die Ehen unterlagen einer strengen Kontrolle, welche mit dem System einer zwangsmäßigen offiziellen „Aufklärung“ zusammenhing; dieses letztere nahm in der Korrektionspolitik der österreichischen Regierung die erste Stelle ein.

In der ausgedehnten Provinz, wo das geistige lieben der jüdischen Massen vom Rabbinismus und Chassidismus beherrscht wurde, wo die europäische Aufklärung den Rechtgläubigen als eine feindliche Macht erschien, welche berufen ist, das von Jahrhunderten geheiligte Leben zu vernichten, und wo ein freier Kampf des leichtes gegen die Finsternis so notwendig war, wollte die österreichische Regierung die Aufklärung zwangsweise betreiben, wobei sie ihr Endziel gar nicht verheimlichte: die Schaffung eines neuen Judentums mit einem Minimum nationaler Kultur. Mit der Durchführung dieser Aufgabe wurde ein Jude betraut, der aus dem Mendelssohnschen Kreise stammte und in der Geschichte der österreichischen Judenheit eine verhängnisvolle Rolle spielte: Herz Homberg.

Ein Sohn des alten böhmischen Prag, Zögling einer Talmudschule, war Homberg während seines Aufenthaltes in Berlin im Kreise Moses Mendelssohns „sehend“ geworden. Unter dem Einflüsse des „Emile“ von Rousseau widmete er sich der pädagogischen Tätigkeit. Eine Zeitlang (1778 — 82) unterrichtete er die Kinder Mendelssohns; er beteiligte sich auch an der Schaffung des rationalistischen Kommentars (,,Biur“) zu der Mendelssohnschen Bibel. Die Nachricht vom ,,Toleranzedikt“ und den aufklärerischen Maßregeln Josefs II, machte Homberg solche Freude, dass er in seine Heimat zurückkehrte, um an den von obenher betriebenen Reformen teilzunehmen. In Wien legte er das Universitätsexamen in Philosophie ab und versuchte darauf einen Lehrstuhl an der Prager Universität zu bekommen; als es ihm nicht gelang, als Dozent bestätigt zu werden, stellte er sich der Regierung zur Durchführung der jüdischen Schulreform in Galizien zur Verfügung. Homberg, der trockener Rationalist und dem historischen Judaismus feindlich gesinnt war, glaubte an die Möglichkeit einer vollständigen Reformierung des Judentums mittels einer zwangsmäßigen „Aufklärung“, und der ihm eigene Strebergeist sagte ihm, dass es viel vorteilhafter sei, der Regierung als dem unterdrückten Volke zu dienen. Im Jahre 1787 wurde Homberg zum „Oberaufseher“ der neuen jüdischen Schulen ernannt, die er in Galizien zu gründen hatte. Er kam nach Lemberg, wo ihn die jüdische Bevölkerung als einen Freidenker und Regierungsagenten äußerst feindselig empfing (niemand wollte ihm eine Wohnung vermieten), und machte sich mit ungewöhnlichem Eifer ans Werk. Im Laufe von vier Jahren gründete er in verschiedenen Städten Galiziens an die hundert ,,deutsch-jüdische“ Elementarschulen, in denen das jüdische Element vom deutschen verdrängt war, und warb mit großer Mühe das notwendige Lehrpersonal aus der damals noch recht kleinen Gruppe der „Aufgeklärten“ an. Zur Heranbildung von Lehrern wurde bald darauf in Lemberg ein jüdisches Lehrerseminar gegründet. Es war natürlich sehr schwer, die Chederkinder in die offiziellen Schulen zu bringen, die die Bevölkerung für Fabriken zur Herstellung von Abtrünnigen und Getauften hielt; da kam aber die Regierung zu Hilfe: das „Patent“ des Jahres 1789 erklärte den Besuch der neuen Schulen für obligatorisch und untersagte die Zulassung zum Talmudstudium in den Chedarim solchen Kindern, die keine Bestätigung über die Absolvierung der „deutschen“ Schule vorweisen konnten; ohne die Bestätigung über den Besuch einer solchen Schule oder wenigstens über eine zu Hause erworbene deutsche Bildung konnten die jungen Leute auch keine Ehe eingehen.

Die Durchführung dieses Systems zwangsmäßiger Aufklärung mit Unterstützung der lokalen Behörden war die Aufgabe des Oberaufsehers Homberg, und die jüdische Masse begann bald unter dem Drucke des unerbittlichen jüdischen Beamten zu stöhnen. Die eifrigen Agenten der Regierung, Homberg und die ihm unterstellten Lehrer, zertrümmerten erbarmungslos das im Laufe vieler Jahrhunderte aufgebaute System der jüdischen Erziehung, brachen mit polizeilicher Willkür in das geistige Leben der Massen ein und verfolgten die Widerspenstigen. Der Name des Oberaufsehers der Schulen wurde dem Volke noch verhasster, als man von der Mitwirkung dieses Beamten bei der Einführung einer neuen Steuer, nämlich der für die Sabbatkerzen, erfuhr. Im Jahre 1795 reichte ein Lemberger Geschäftsmann, namens Kofler, der Regierung ein Projekt ein, die Kerzen, die die jüdischen Frauen nach religiöser Sitte an Vorabenden von Sabbaten und Feiertagen entzünden, zu besteuern; diese Steuer, behauptete Kofler, würde dem Staate eine erhebliche Einnahme bringen, und er erklärte sich bereit, den Ertrag der Steuer gegen eine jährliche Abgabe von 200.000 Gulden in Pacht zu nehmen. Obwohl diese Bereicherung der Staatskasse dem Kaiser Franz außerordentlich verlockend erschien, konnte er sich doch nicht entschließen, den religiösen Bedürfnissen der armen jüdischen Masse in Galizien eine so schwere Last aufzuerlegen, und die Regierung wandte sich an Homberg mit einer Anfrage, was er davon halte. Homberg antwortete, dass die Sitte, Kerzen anzuzünden, keine tiefen Wurzeln in der Religion habe und dass die neue Steuer die Juden nicht sehr schwer treffen werde. So wurde im Jahre 1797 die drückende Kerzensteuer eingeführt, die zu großen Missbräuchen führte und auf der armen jüdischen Masse Galiziens über ein halbes Jahrhundert lang (bis zum Jahre 1848) lastete. Man war allgemein überzeugt, dass der Dienst, den Homberg dem geschickten Steuerpächter Kofier geleistet hatte, nicht ganz uneigennützig gewesen sei. Bald darauf lief in Wien eine Reihe von Klagen über allerlei Amtsmissbräuche Hombergs ein, und er musste in die Hauptstadt kommen, um sich vor der vorgesetzten Behörde zu rechtfertigen. Von den Feinden verfolgt, verließ er schließlich Lemberg und zog nach Wien (1801), und einige Jahre später (im März 1806) verfügte ein kaiserlicher Erlass die Schließung der deutsch-jüdischen Schulen in Galizien. Den jüdischen Kindern wurde gestattet, allgemeine Schulen zu besuchen, doch mit der Bedingung, dass sie auf eigenen Bänken, von den christlichen Kindern getrennt, sitzen.

Nachdem Homberg das Amt des Oberaufsehers verloren hatte, wandte er sich einem neuen Beruf zu und begann amtliche Lehrbücher für die jüdische Jugend zu verfassen. Vom Jahre 1808 ab veröffentlichte er eine Reihe von jüdischen Katechismen („Imreschefer“, ,,Bne-Zion“ „Ben-jakir“) in hebräischer Sprache mit parallelem deutschem Text. Die im Geiste eines offiziellen Patriotismus und landläufiger Moral verfassten Lehrbücher fanden Beifall bei der österreichischen Regierung, als ein Mittel, die Juden zu ,,bessern“ und an sklavischen Gehorsam zu gewöhnen. Das kaiserliche Dekret vom 14. Dezember 1810 verordnete: I. Die Lehrbücher Hombergs an allen jüdischen Schulen einzuführen; 2. in Galizien und Böhmen nur solchen jungen Leuten beiderlei Geschlechts Ehebewilligungen auszustellen, die eine eigene Prüfung aus dem Katechismus „Bne-Zion“ bei der Kreispolizeibehörde abgelegt haben. Die eigenartige österreichische Ehegesetzgebung erhielt eine neue „Novelle“: Examen bei der Polizei zur Erlangung des Braut- oder Bräutigamtitels. Diese Reform wurde während des ganzen folgenden Zeitalters der Reaktion (1815 — 48) durchgeführt und hatte zahlreiche tragikomische Episoden zur Folge.

Zum Zensor für die hebräischen Bücher ernannt, berauschte sich Homberg noch mehr an seiner Sendung, das Volk mittels Polizeimaßregeln zu reformieren, und reichte im Jahre 1811 der Regierung ein Projekt für die Säuberung der jüdischen Literatur ein. Nach diesem Projekt, das eher einer Denunziation glich, sollte die Zensur Werke folgender Art verbieten: „Alle neuen Gebete, außer Krönungsgebeten; kabalistische Produkte; Predigten, die keine erbaulichen Volkslehren enthalten oder mit talmudischen Abhandlungen verbunden sind; neue Werke talmudisch-rabbinischen Inhalts, woran ohnedies Überfluss ist; Biographien von Rabbinern, die außer im Talmudfache nichts geleistet haben, und alle Geschichten von Besessenen.“ Homberg schlug auch vor, einen Kongress von Rabbinern aus Böhmen, Mähren, Ungarn und Galizien einzuberufen, um die Frage der Entfernung aller für Nichtjuden verletzenden Stellen aus den talmudischen und gottesdienstlichen Werken zu entscheiden. Homberg selbst stellte für die österreichische Zensurbehörde einen Index hebräischer Bücher zusammen, die er vom politischen Standpunkte aus für nicht einwandfrei hielt. Zur Belohnung für alle diese Verdienste ernannte ihn Kaiser Franz I. zum Inspektor der jüdischen Schulen in Böhmen (1814), woselbst dieser Missionär polizeilicher Aufklärung bis zu seinem Tode (1841) blieb.

Die „Aufklärungspflicht“ wurde von der galizischen Judenheit ebenso ungern getragen, wie die ihnen im Jahre 1788 aufgezwungene persönliche Militärpflicht. Die in der jüdischen Masse durch das Gesetz von der Militärpflicht (§ 5) hervorgerufene Erregung hatte sich noch nicht gelegt. Die orthodoxe Masse, die im neuen Gesetz ein Todesurteil für ihre Kinder, für ihre Religion und Sitten sah, konnte sich nicht beruhigen; sie wandte sich wie an den himmlischen so auch an den irdischen Herrscher, hielt eigene Bittgottesdienste in den Synagogen ab und schickte Deputationen nach Wien mit der Bitte um, Aufhebung des „Todesurteils“. Im Jahre 1790 erhörte die Regierung das Flehen und erlaubte den Juden, an Stelle des persönlichen Militärdienstes eine Rekrutensteuer zu zahlen, aber 1804 wurde die persönliche Militärpflicht wieder eingesetzt. Dies geschah in der Zeit der Napoleonischen Kriege, und die rechtlosen Juden Galiziens hatten gar keinen Grund, ihr Blut für den Staat, der sie unterdrückte und erniedrigte, zu vergießen. Viele junge Männer wanderten nach Russland und anderen Ländern aus, andere ersannen Mittel, das Gesetz zu umgehen; aber im österreichischen Heere gab es doch nicht wenig jüdische Soldaten. Die Behörde erleichterte ihnen die Militärpflicht auf die Weise, dass sie sie gewöhnlich nicht in die Frontformationen, sondern ins „Fuhrwesen“ einreihte.