§ 37. Das System der Normierung und Bevormundung in Böhmen und Mähren

Das Konzessionssystem der „Toleranz“, das für die Juden Deutsch-Österreichs außerhalb ihrer Ansiedlungszone bestand, stellte eine vereinfachte Form der Rechtlosigkeit dar. Weit komplizierter war das System der Normierung, das in den Kronländern Böhmen und Mähren angewandt wurde. Hier waren noch immer die alten Normen für die jüdische Bevölkerung in Kraft: 8.600 Familien in Böhmen und 5.400 in Mähren. Für Böhmen wurde diese alte Norm im Jahre 1789 neu bestätigt. Sie wurde sehr streng eingehalten und bildete eine eiserne Schranke gegen den natürlichen Zuwachs der Familie. Das Gesetz der österreichischen Regierung kämpfte gegen das biologische Gesetz der Vermehrung. Dabei wurde ein erprobtes Kampfmittel angewendet: in jeder Familie durfte nur der älteste Sohn heiraten, und seine Familie trat an die nach dem Tode seiner Eltern frei werdende Stelle; der zweite Sohn war zur Ehelosigkeit oder Auswanderung verurteilt, wenn er nicht zufällig das Glück hatte, dass das Haupt einer der etatmäßigen Familien ohne Nachkommenschaft starb und auf diese Weise eine sogenannte „Familiennummer“ frei wurde ; die überzähligen Söhne bekamen das Recht zu heiraten, wenn sie freiwillig in den Militärdienst traten oder sich der Landwirtschaft widmeten. Aber auch die Personen, die nach der Familienlage oder infolge besonderer Verdienste das Recht zu heiraten hatten, konnten es nur unter Beobachtung folgender Bedingungen verwirklichen: Der Bräutigam durfte nicht unter zweiundzwanzig und die Braut nicht unter achtzehn Jahre alt sein; die in die Ehe Tretenden mussten ein Zeugnis über die Absolvierung einer Normalschule vorweisen; sie mussten eine solide Erwerbsquelle und bares Vermögen in bestimmtem Werte besitzen; endlich bedurften sie noch einer besonderen Genehmigung des Kreisamts. Diese gemeine Gesetzgebung, die die Jugend in „Familianten“ (die eine „Familiennummer“ und das Recht zu heiraten hatten) und zu Ehelosigkeit oder Konkubinat Verurteilte teilte, bedrückte und erniedrigte die böhmischen Juden aufs schwerste.

Dies war die schändlichste Form jüdischer Versklavung zu Beginn des XIX. Jahrhunderts.


Die österreichische Regierung normierte nicht nur die natürliche Vermehrung, sondern auch die Erwerbsquellen*) und tat es mit den ihr eigenen jesuitischen, salbungsvollen Redensarten vom Wohle derjenigen, die sie zu erdrosseln suchte. „Da die öffentliche Verwaltung zum Zwecke nimmt, die Juden zu vollkommen nützlichen Bürgern und des Schutzes, den ihnen der Staat gewährt, würdig zu machen, so sind ihnen überhaupt alle ehrbaren Nahrungswege eröffnet, welche den christlichen Untertanen gestattet werden“ — lautet ein Artikel des Reglements. Weiter folgt aber eine Reihe von Bestimmungen, die den Sinn dieses Paragraphen gänzlich zunichte machen: den Juden ist es verboten, nicht nur Branntweinschenken, sondern auch Mühlen in Pacht zu haben und mit Getreide und Salz zu handeln; es sind ihnen also durchaus ehrbare Erwerbsquellen, die den Christen gestattet sind, verboten. Jüdische Hausierer in Prag dürfen nur mit alten Kleidern und alten Sachen handeln; auch das wohl der ,,Ehrbarkeit“ wegen!

Das Wohnrecht der Juden in Böhmen war auf die Orte ihrer Zuständigkeit beschränkt. Eine „nummerierte“ Familie durfte an einen neuen Ort nur mit Genehmigung der Behörden dieses letzteren übersiedeln. Im Zentrum der böhmischen Judenschaft, Prag, wurde selbst beim Umzug aus der „Judenstadt“ in einen ,,christlichen“ Stadtteil eine eigene Genehmigung, die übrigens sehr selten erteilt wurde, verlangt. Die Juden unterlagen besonderen Steuern und Abgaben, deren Höhe von der Kostspieligkeit der österreichischen „Toleranz“ zeugt. Das böhmische Reglement vom Jahre 1797 verkündete: „Die gesamte Judenschaft soll in Ausübung ihrer väterlichen Religion und ihrer angeerbten Gebräuche durchaus frei und ungehindert sein“; in die Sprache der Zahlen übersetzt, bedeutete aber diese „Freiheit“ folgendes: Für die Errichtung einer neuen Synagoge war eine eigene behördliche Genehmigung notwendig, die 1.000 Gulden einmalig und dann 100 Gulden jährlich kostete; mit einer entsprechenden Abgabe waren auch die Friedhöfe belegt. Das Rabbinat, die jüdische Schule und selbst die Literatur — die religiöse nicht ausgenommen — unterstanden der wachsamen Aufsicht der christlichen Behörden. Das Rabbineramt durften nur Personen bekleiden, die über deutsche Bildung verfügten; im Jahre 1798 erließ das böhmische „Gubernium“ eine Verfügung, dass zum Rabbineramte nur solche Personen zugelassen werden dürfen, die den Kursus „philosophischer Wissenschaften, natürlichen Rechtes und Ethik“ an einer österreichischen Universität absolviert haben. Der Besuch einer deutschen „Normalschule“ war für alle Knaben und Mädchen obligatorisch: ohne ein Zeugnis über die Absolvierung einer solchen Schule konnte niemand eine Genehmigung für den Eintritt in die Ehe bekommen. Andererseits wurde das Talmudstudium in den „Hausschulen“ — den Chedarim und den Jeschiboth — bekämpft. Talmudunterricht durfte nur ein offiziell bestätigter, den obenerwähnten Bedingungen entsprechender Rabbiner erteilen; die übrigen Hauslehrer („Melamdim“) durften nur die hebräische Sprache und elementare Glaubenslehre unterrichten. Zum Talmudstudium wurden nur solche Knaben zugelassen, die ein Zeugnis über die Absolvierung einer allgemeinen deutschen Schule vorweisen konnten. Diese Einmischung in das geistliche lieben der Juden äußerte sich auch in der Zensur der hebräischen Bücher. Ein kaiserliches Dekret vom Jahre 1811 verbot beim Gottesdienste wie im Hause den Gebrauch aller religiösen Bücher, die nicht durch die österreichische Zensur gegangen waren. Einer strengen Zensur unterlagen auch die Bücher nichtreligiösen Inhalts. Zum Bezüge hebräischer Bücher aus dem Auslande brauchte man jedesmal eine eigene Genehmigung.

*) Hier wie im folgenden werden die Resultate der Gesetzgebung des ganzen Zeitalters geschildert, in deren Mittelpunkt das böhmische Judenpatent vom Jahre 1797 steht, das im Vergleich mit den früheren Reglements als fortschrittlich galt. Das gleiche System wurde im allgemeinen auch auf die Juden Mährens angewandt.

Man musste schon sehr eigentümliche Begriffe vom Zusammenhange zwischen den bürgerlichen Pflichten und Rechten haben, um beim Vorhandensein einer solchen pharaonischen Gesetzgebung öffentlich zu verkünden (in den Dekreten von 1808 und 1811): „Da die Juden gleiche Vorteile mit den christlichen Untertanen genießen, haben sie auch mit diesen die gemeinschaftlichen Pflichten gegen den Staat.“ Zur Bestätigung der ,,gemeinschaftlichen Pflichten“ heißt es gleich danach: „In Steuersachen bestehen für die Juden eigene Vorschriften.“ So verfuhr die österreichische Regierung in Böhmen und Mähren: einem jeden ihrer grausamen und unmenschlichen Ausnahmegesetze schickte sie eine Einleitung über Duldsamkeit und über ihre väterliche Sorge um das Wohl aller Untertanen, ohne Unterschied der Religion, voraus. Mit diesen schönen, durchaus unverbindlichen Redensarten zollte die Regierung ihren Tribut dein Geiste der Zeit, gegen den sie im verbindlichen Texte der Gesetze einen erbitterten Kampf führte.