§ 35. Die neue Literatur und die neue Schule

Es wurde schon oben darauf hingewiesen, dass die innere kulturelle Krise innerhalb der deutschen Judenschaft viel schneller und radikaler vor sich ging als die politische Krise. Die fortschrittliche jüdische Gesellschaft hatte viel zu voreilig den Ballast der alten Kultur — zugleich mit den abgestorbenen Elementen auch manche lebenserhaltende Prinzipien der Nation über Bord geworfen, während die Regierungen und die Völker sich viel schwerer von der alten, der Judenemanzipation feindlichen Gesellschaftsordnung trennten. Wo aber der politische Umschwung sich auch in der Lage der Juden als volle oder teilweise Emanzipation äußerte, war diese nur eine zufällige Nebenerscheinung bei dem rücksichtslosen Abbruch der alten Ordnung. Alle diese Krisen fanden in der jüdischen Literatur jener Zeit, die mit dem schnellen Tempo des Lebens nicht Schritt halten konnte, nur einen schwachen Widerhall.

Das Zeitalter der Revolution und Napoleons mit seinen starken Erschütterungen war für die damals noch junge und schwachentwickelte jüdische aufklärerische Literatur äußerst ungünstig. Unter der kulturellen Krise hatte zuerst die Sprache der Juden, die nationale Form ihrer Literatur zu leiden. Die Umgangssprache der großen Volksmasse — der „Jargon“ — wurde im Zeitalter Mendelssohns aus der Schule und Familie mit allen Mitteln ausgerottet. Das vom Mendelssohnschen Kreise am Vorabend der Revolution unternommene nationale Werk — die Schaffung einer neuen Literatur in einer erneuerten biblischen Sprache — ging nur recht langsam vor sich und kam in Deutschland bald gänzlich zum Stillstand. Die Zeitschrift des „Vereins zur Förderung der hebräischen Sprache“ („Hameassef“ Sammler) erschien bis zum Jahre 1790 mehr oder weniger regelmäßig, dann mit großen Unterbrechungen, und stellte im Jahre 1797 ihr Erscheinen ein. Der letzte Versuch, das Unternehmen zu neuem Leben zu erwecken, wurde im Jahre 1809 gemacht; aber nach zwei Jahren ging die Zeitschrift wieder und endgültig ein; während dieser Zeit wechselte der Verlagsort dreimal: sie erschien in Berlin, Königsberg und Breslau. Die Ursache dieses Verfalls war recht einfach: die nationale Sprache schwand schnell aus dem Literatur- und Schulgebrauch der „aufgeklärten“ Juden, die in der deutschen Schule und deutschen Literatur erzogen waren; die Reihen der Freunde der hebräischen Sprache lichteten sich immer mehr, und der „Hameassef“, dem neue literarische Kräfte und ein wachsender Leserkreis fehlten, erstarrte in seiner elementar-erzieherischen Richtung, siechte dahin und ging schließlich ein. Der Redakteur, Schalom Kohen, der im Jahre 1809 den letzten Versuch, den ,,Hameassef“ zu neuem Leben zu erwecken, machte, beklagt sich bitter: „Mit betrübtem Herzen sahen wir den Verfall unserer heiligen Sprache, die immer mehr dahinsiecht. Von Tag zu Tag wird die Zahl ihrer Freunde kleiner . . . Gibt es denn gar keine Hoffnung, ihre Bedeutung zu heben und den Völkern ihre Schönheit zu offenbaren?“ Es zeigte sich aber, dass nicht nur die „Völker“, sondern auch das einzige Volk, für das die ,,heilige Sprache“ einen Kulturwert darstellen sollte, im damaligen Deutschland nicht das geringste Interesse für sie hatten. Das hebräische Organ musste einem solchen in deutscher Sprache weichen.


Im Jahre 1806 begann in Dessau, der Geburtsstadt Mendelssohns, die Monatsschrift (später Zweimonatsschrift) „Sulamith, eine Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation“, zu erscheinen. Der ständige Herausgeber war David Fränkel, Direktor der jüdischen Schulen im Herzogtum Anhalt-Dessau und vorübergehend Mitglied des Jacobsonschen Konsistoriums im Königreiche Westfalen. Diese Zeitschrift, die im Augenblick der Einberufung der Notabeln zu Paris entstanden war, wurde zu einem Sprachrohr dieser Versammlung und des Synhedrions, das später an die Stelle der Notabelnversammlung trat. Die Ideale der „Kultur und Humanität“ äußerten sich in der Praxis in der doppelten Losung: Assimilation und Emanzipation. In der ersten Zeit kamen die Assimilationsbestrebungen in der Zeitschrift nur recht gemäßigt zum Ausdruck; je tiefer aber die französische Emanzipation nach Deutschland drang, um so radikaler wurde diese Richtung. Nach dem Jahre 1807 verschwanden vom Titel die Worte: „unter der jüdischen Nation“ und machten der neuen Formel: „unter den Israeliten“ Platz. In den Jahren 1808 bis 1812 war die Zeitschrift ein Organ Israel Jacobsons und des westfälischen Konsistoriums (§ 33), dem auch der Herausgeber angehörte. Zu den Mitarbeitern der „Sulamith“ gehörten auch David Friedländer und die späteren Vorkämpfer der religiösen Reform (Salomon, Klee, Jolsohn u. a.). Was den Inhalt und die literarische Form betrifft, so stellte die ,, Sulamith“ einen bedeutenden Fortschritt gegenüber dem elementaren „Meassef“ dar; die neue Generation kehrte aber auch dem deutschen Organ ebenso den Rücken wie seinem hebräischen Vorgänger: sie hatte nicht nur ihre Sprache, sondern auch jedes Interesse für jüdische Literatur in beliebiger Sprache verloren.

Es ist bemerkenswert, dass die deutsche Judenschaft während der ganzen Übergangsperiode der „ersten Emanzipation“ keinen einzigen bedeutenden Schriftsteller geliefert hat. Literaten zweiten Ranges, die sämtlich vergessen wurden, gruppierten sich um die genannten Zeitschriften. Die literarischen Arbeiten David Friedländers hatten nur einen vorübergehenden agitatorischen Wert im Zusammenhange mit seiner politischen Tätigkeit; Lazarus Bendavid (§ 31) beschäftigte sich mit der Kantischen Philosophie und widmete dem Judentume nur einige belanglose Broschüren. Die Quellen jüdischer schöpferischer Arbeit schienen in dieser Übergangszeit, als in den Reihen der assimilierten Intelligenz radikale Zerstörungssucht tobte, versiegt. Und die orthodoxe Masse, die vom Auflösungsprozess noch nicht berührt war, blieb starr in ihrer Angst um die Zukunft, ohnmächtig mit ihren morschen Waffen gegen den Ansturm neuer historischer Elemente zu kämpfen.

Der Kosmopolitismus des Zeitalters der Revolution riss in seinem Strome alles Freigeistige des damaligen Judentums mit. Zum Dogma des Fortschritts wurde die Abschaffung aller Scheidewände zwischen den Nationen und die Verschmelzung aller Volkstypen, denn alle diese kulturhistorischen Einteilungen erschienen der oberflächlichen Anschauung jener Zeit ebenso willkürlich und künstlich wie die sozialen Teilungen — die Folgen des Absolutismus und der Klassenherrschaft. In der Praxis ging aber der jüdische Kosmopolitismus nur auf die Negierung der jüdischen Nationalität hinaus, denn das andere Dogma dieses Zeitalters — die Assimilation — trieb die Juden in den Kreis der nationalen Interessen ihrer Wirtsvölker und machte sie zu deutschen, französischen und sonstigen Patrioten. Gar nicht leicht fiel den Juden der Eingang in die deutsche Gesellschaft, in der die judenfeindlichen Vorurteile noch nicht verschwunden waren; die Eindringlinge waren oft Beleidigungen und Erniedrigungen ausgesetzt. So entstand die sklavenwürdige Gewohnheit, unter Christen seine Zugehörigkeit zum Judentum zu verheimlichen, Ludwig Börne, der an der Heidelberger Universität studierte, schrieb 1807 der Henriette Herz: „Es studieren einige Juden hier von guter Familie, es ist aber merkwürdig, wie ängstlich es diese Menschen zu verbergen suchen, dass ihr Ahnherr gehinkt hat. Man sieht nie zwei Juden miteinander gehen oder auch nur sprechen.“ Der Historiker Jost, der im Jahre 1813 zu Göttingen Vorlesungen hörte, berichtet, dass seine jüdischen Kollegen an der Schwelle der Taufe standen. In seiner „Neueren Geschichte der Israeliten“ weist er auf die damalige ,,Gefallsucht“ der Juden gegenüber den Christen hin, die ihnen oft Spott und Beleidigungen zuzog. Die Blicke des gebildeten Juden waren nur nach außen gerichtet: er war bestrebt, sich vor der Umwelt zu rechtfertigen und seine Geistesverwandtschaft mit ihr und seine Losgerissenheit von der alten jüdischen Welt, die für ihn ein Symbol des Todes und der Leere war, zu bezeugen.

Die deutsche Schule — die niedere, mittlere und höhere, nach der die jüdische Jugend jener Zeit strebte, wirkte im hohen Grade assimilierend. Nicht weniger assimilierend war auch die neue, nach deutschem Muster zugeschnittene jüdische Schule. In der Berliner ,,Freischule“, deren Direktor ab 1806 der Philosoph Bendavid war, und in der Jacobsonschen Schule zu Seesen, wo die jüdischen und christlichen Kinder zusammen erzogen wurden, war der ganze Unterricht auf die Germanisierung der jüdischen Kinder gerichtet*). Die Breslauer ,,Wilhelmsschule“, die 1791 auf Initiative der Regierung, aber auf Kosten der jüdischen Gemeinde gegründet war, bildete die Quelle immerwährender Streitigkeiten zwischen den Orthodoxen und den „Aufgeklärten“: die ersteren sahen in der neuen Schule den Untergang des Judentums, die letzteren — die Rettung und Wiedergeburt. Der gleiche Geist herrschte auch im Frankfurter „Philantropoin“ (§ 33) und in den anderen ,,Normalschulen“, die Zuchtstätten für „Deutsche jüdischen Glaubens“ bildeten.

*) Im Bericht der „Freischule“ für das Jahr 1815 wird mit Genugtuung auf den gemeinsamen Unterricht hingewiesen, der die Annäherung der Juden an die Christen garantiere; im gleichen Jahre erfolgte aber der neue Ausbruch des Judenhasses in Deutschland.

Der kulturelle Umschwung unter den deutschen Juden hing nicht nur mit den politischen und ideellen Krisen des damaligen Deutschlands, sondern auch mit dem tiefgehenden wirtschaftlichen Umschwung im jüdischen Leben zusammen. Teils unter dem Einfluss der Emanzipationsbewegung, teils unter dem der wirtschaftlichen Erschütterungen des Napoelonischen Zeitalters, hörte der Handel auf, die einzige Form der wirtschaftlichen Betätigung der Juden zu sein; neben dem Handel kamen auch Fabrikindustrie, Handwerk und freie Berufe auf. Nach den letzteren strebte besonders die in den deutschen Schulen erzogene jüdische Jugend. Im Napoleonischen Zeitalter standen ihr weite Perspektiven des staatlichen und öffentlichen Dienstes offen, der ihnen an manchen Orten (Westfalen) bereits zugänglich gemacht war, an anderen (z. B. in Preußen) in Aussicht gestellt wurde. Diese Berufe oder die Vorbereitung zu denselben trugen am meisten zur Germanisierung der jüdischen Intelligenz bei, die sich jede Mühe gab, ihre volle bürgerliche und politische Rechtsfähigkeit zu beweisen.