§ 34. Die alte Ordnung und Reformversuche (Sachsen, Bayern, Mecklenburg, Baden)

In vielen deutschen Staaten gelang es den Juden selbst während der französischen Herrschaft nicht, Gleichberechtigung zu erlangen. Keinerlei Zugeständnisse errangen die wenigen Juden Sachsens, dessen Regierung zwar mehr als alle anderen vor Napoleon scharwenzelte, aber es dennoch fertigbrachte, die alte judenfeindliche Gesetzgebung (§ 2) beizubehalten. Die Juden wurden hier kaum geduldet, die Vermehrung war ihnen verboten, und bei allen Stadttoren und auf Reisen mussten sie jenen „Viehzoll“ entrichten, der in fast allen anderen deutschen Staaten schon abgeschafft war. Von dieser erniedrigenden Abgabe waren, Napoleon zuliebe, nur die französischen und westfälischen Juden befreit. Der Zoll wurde erst zu Beginn der Befreiungskriege (1813) abgeschafft, als die verbündete preußisch-russische Armee Sachsen besetzte und eine provisorische Regierung errichtete.

Hartnäckig hielt an seinem Recht auf die jüdische Rechtlosigkeit Bayern fest, dessen dreißigtausend Seelen*) zählende jüdische Bevölkerung unter dem Drucke von Ausnahmegesetzen verschmachtete. In einem Lande, wo der Katholizismus die herrschende Religion war, und wo selbst die Protestanten gewissen Beschränkungen unterlagen, konnte der Kampf kaum zu einem nennenswerten Erfolg führen. Der für „liberal“ gehaltene Kurfürst (ab 1806 König) Maximilian Joseph erließ ein Edikt von der Glaubensfreiheit für die Protestanten (1800), dehnte es aber auf die Juden nicht aus, sondern äußerte nur den Wunsch, dass „dieser unglücklichen Menschenklasse, nachdem man sie doch aus den Erbstaaten nicht verbannen könne, ohne sich einer Grausamkeit und Ungerechtigkeit schuldig zu machen, eine solche Einrichtung gegeben werden möchte, durch welche sie allmählich zu nützlichen Staatsbürgern erzogen werden würden“. Die durch diese „gnädige“ Resolution ermutigten Juden Frankens wandten sich an den Würzburger Theologieprofessor Oberthür, der gerne die Rolle des edlen Abbé Gregoire spielen wollte, mit der Bitte, sich vor dem Throne zu verwenden, dass man ihnen alle Bürgerrechte und volle Gleichstellung mit den Christen gewähre (1803). Oberthür fand diese Forderung allzu kühn und reichte „aus diplomatischen Rücksichten“ im Namen der Juden eine bedeutend bescheidenere Petition ein, die er selbst verfasst hatte, und in der die Judenschaft Frankens um „Erleichterung ihres sie schwerdrückenden Loses“ und um die Gleichstellung mit allen übrigen Untertanen „in Staatsauflagen, im Handel und Wandel und in allen Vorteilen der bürgerlichen Gesellschaft, soviel es einstweilen noch tunlich und anderen Staatsrücksichten und Verhältnissen nicht entgegen ist“, ersuchte. Die Regierung brauchte diese allzu bescheidene Bitte, die der Theologe den Juden aufgezwungen hatte, nicht einmal abzulehnen; hatten doch die Bittsteller selbst schon im voraus eine mögliche Absage motiviert; gibt es denn einen Unterdrückungsakt, den man nicht mit „Staatsrücksichten“ rechtfertigen könnte?


*) Diese Ziffer bezieht sich auf die zweite Hälfte der Periode (1801 — 1806), als Bayern im Laufe der Napoleonischen Kriege die neuen Gebiete Frankens und Schwabens bekam.

Der Sturm von 1806 reinigte auch in Bayern, das sich dem Rheinbunde anschloss, einigermaßen die Luft. Die neue Verfassung gewährte allen Einwohnern, „unabhängig von ihrer Konfession“, doch innerhalb der christlichen Religion, die Bürgerrechte. Die Juden bekamen nur einige Erleichterungen: sie wurden vom schändlichen „Leibzoll“ befreit (1808) und bekamen Zutritt in die allgemeinen Schulen; vorher hatte man sie schon der Zulassung in die Bürgermiliz für würdig befunden. Die Regierung hielt die Juden vom neuen Staatsbürgertum ferne, beeilte sich aber, ihre alte Gemeindeautonomie abzuschaffen: die Rabbinergerichte für interne Streitigkeiten wurden verboten. Gegen die Abschaffung der alten Freiheiten ohne die Gewährung von neuen protestierte die große Judengemeinde von Fürth (1809). In einer Bittschrift an den König wies sie darauf hin, dass das Rabbinergericht für die internen Angelegenheiten notwendig sei, weil viele Zivilakte (wie Ehekontrakte, Testamente usw.) mit religiösen Gesetzen zusammenhingen. Der König kam dieser Bitte nach und willigte auf eine provisorische Erhaltung der Rabbinergerichte ein. Dafür wurden aber sämtliche Bitten um die Gewährung von Gleichberechtigung bis zum Jahre 1812 konsequent abgelehnt. Das preußische Märzedikt über die Emanzipation gab den bayerischen Juden neuen Mut. Die Gemeinden von München und Bamberg wandten sich an den König mit Petitionen, in denen sie ihn um die Emanzipierung ihrer ,,Glaubensgenossen“ im ganzen Königreiche auf Grundlage des Prinzips „der gleichen Rechte und der gleichen Pflichten“ baten. Die Bittsteller beriefen sich auf die Beschlüsse des Pariser Synhedrions, um zu beweisen, dass die jüdische Religion ihre Anhänger durchaus nicht hindere, gute Bürger zu sein, und auf die bereits in Frankreich, Holland, Westfalen, Großherzogtum Frankfurt und schließlich Preußen erfolgte Emanzipation.

Alle diese hartnäckigen Bitten zwangen endlich die Regierung von Bayern, ein neues Gesetz für die Juden zu erlassen (10. Juni 1813). Dieses Gesetz brachte aber den Kämpfern für die Emanzipation eine schwere Enttäuschung: die Juden erhielten statt Freiheit nur die alte Knechtung in neuer Aufmachung. Das Edikt, das in seiner Einleitung von der „vollen Gewissensfreiheit“ spricht, bringt in seinen vierunddreißig Paragraphen etwas ganz Entgegengesetztes. Das neue Gesetz ließ die beiden Grundpfeiler der alten Rechtlosigkeit in Kraft: das schmähliche „Schutzjudentum“, d. h. das Recht, nur auf Grund eines eigenen, recht kostspieligen Privilegiums zu wohnen, und die Normierung der jüdischen Bevölkerung. Jede jüdische Familie, die sich vor 1813 mit gesetzlicher Erlaubnis in Bayern niedergelassen hatte, musste eine eigene sogenannte „Matrikel“ besitzen, die ihr das Wohnrecht in der betreffenden Stadt gewährte und vom Vater auf den ältesten Sohn vererbt wurde. Der älteste Sohn hatte das Recht, eine Familie zu gründen, die übrigen Söhne mussten aber auf eine Matrikelvakanz, d. h. auf den Tod oder die Auswanderung irgendeiner Familie warten, ehe sie eine eigene Familie gründen durften; ausnahmsweise wurde eine solche Genehmigung beim Kaufe einer neuen Matrikel, die bis zu tausend Gulden kostete, erteilt. Der Zweck der neuen Reglementierung ist in § 12 des Edikts unverhüllt angegeben: ,,Die Zahl der Judenfamilien an den Orten, wo sie dermahlen bestellen, darf in der Regel nicht vermehrt, soll vielmehr nach und nach vermindert werden, wenn sie zu groß ist.“ Das Ideal der allmählichen Verminderung der Judenheit wurde, außer durch die direkte Normierung, auch noch durch ein ganzes Netz grausamer Beschränkungen in der Freizügigkeit und im Handel angestrebt. Die Niederlassung neuer jüdischer Kaufleute im Lande war unbedingt verboten, und nur Fabrikanten, Handwerker und Ackerbauer konnten vom König Matrikeln erhalten.

So reagierte die bayerische Regierung auf die „Forderung der Zeit“. Sie selbst bezeichnete das neue königliche Edikt als ein Verbesserungs- und Erziehungsgesetz, das die Juden mittels Repressalien erziehen sollte, um sie später in das gelobte Land der Freiheit einzuführen. Die Regierung zeigte aber damit nur, dass sie selbst einer politischen Verbesserung und Erziehung bedurfte. Ein bayerischer Historiker (Lerchenfeld) weist mit Recht darauf hin, dass die Berufung auf die „Gewissensfreiheit“ an der Spitze eines solchen Edikts wie ein Hohn klinge . . . Das neue pharaonische Gesetz rief in den jüdischen Gemeinden Stürme der Entrüstung hervor. Die Empörung war um so größer, als das gleiche Gesetz auch der Gemeindeautonomie einen harten Schlag versetzte: die Regierung verbot von neuem das Rabbinergericht, gleichsam um die den Juden in Bezug auf die Bürgerrechte erwiesenen „Wohltaten“ zu kompensieren. Und wieder kam ein Protest aus dem alten jüdischen Fürth, das auf sein Rabbinat, seine Gelehrten und seine Lehr- und Wohltätigkeitsanstalten stolz war, „Schmerzlich ist uns diese Regel (der Paragraph von der angestrebten Verminderung der Judenheit),“ schrieben die Fürther Gemeindeältesten in ihrer Petition, „teils um deswillen, weil wir bisher im Zuwachs oder Abnehmen unserer Genossenschaft ein untrügliches Anzeichen von Steigen und Fallen unseres Wohlstandes sowie jenes der ganzen Stadt beobachtet haben, mithin wir in dem Gebot Eurer Königlichen Majestät den Stillstand unseres Wohlstandes, und da in keinem Organismus ein anhaltender Stillstand möglich ist, sogar den Untergang unseres Glückes zu erblicken glauben; andererseits können wir die Betrübnis nicht verhehlen, aus dieser Allerhöchsten Bestimmung bei der gemeinen Volksklasse die Missdeutung einer absoluten Schädlichkeit schöpfen, Druck und Verachtung folgen zu sehen,“ Zum Schluss bittet die Fürther Gemeinde um die Erhaltung des Instituts des Rabbinergerichts. Der König willfahrte dieser letzten Bitte ausnahmsweise für Fürth allein; dem Protest gegen das pharaonische Edikt schenkte er aber sonst nicht die geringste Beachtung. Das schändliche bayerische Gesetz blieb auch während der ganzen folgenden Epoche der Reaktion in Kraft.

Die Reformversuche hatten mehr Erfolg in Mecklenburg, das sich gleichfalls dem Rheinbunde angeschlossen hatte (1808). Sogar derselbe Großherzog Friedrich Franz I., der früher am Prinzip der Normierung der jüdischen Bevölkerung festgehalten hatte (§ 2), ließ sich von der französischen Mode umstimmen; aber bei seinen Reformversuchen hatte er einen Kampf mit den judenfeindlichen „Ständen“ im Landtag zu bestehen. Die Vertreter der Mecklenburger jüdischen Gemeinden überreichten im Jahre 1811 dem Großherzog eine Petition wegen Gewährung von Gleichberechtigung; diese Petition wurde dem Landtag weitergegeben unter Beifügung einer Resolution des Großherzogs, die dahin ging, dass es erwünscht sei, die Juden den anderen Einwohnern gleichzustellen, um die gewissen Übel, die die jüdischen Untertanen bei ihrer jetzigen Lage im Staate zu erdulden haben, zu beseitigen. Der Landtag, der aus Vertretern des Adels und der Kaufmannschaft bestand, sprach sich zwar für eine Verbesserung der Lage der Juden aus, zweifelte aber zugleich an der Möglichkeit einer vollständigen Emanzipation, die ihre eigenen materiellen Interessen schädigen könnte. „Der freie Jude“, sagten die Stände, „wird den ihm eigentümlichen Handelsgeist zur Verdrängung aller Handelschaft der Christen ausbilden.“ Der Landtag schlug daher eine Reihe von Bedingungen für eine allmähliche Emanzipation vor: 1. Die Juden müssen auf einige „unwesentliche“ Eigentümlichkeiten ihrer Religion, zu denen die Beobachtung der Sabbatruhe, die Speisegesetze und Ehegebräuche zu zählen sind, verzichten; 2. die junge Generation muss mittels Zwangsunterrichts in deutschen Schulen umerzogen werden, und jeder Vater soll nur einen einzigen Sohn im Handel unterweisen dürfen, während die übrigen Söhne Handwerke, Künste oder Landwirtschaft zu erlernen haben (Januar 1812). Dieses Projekt einer polizeilichen Reglementierung des Familien- und selbst des geistigen Lebens empörte die Mecklenburger Juden. Abgeordnete der Gemeinden wandten sich an den Rostocker Theologieprofessor Tychsen, den greisen Gelehrten und Kenner der hebräischen Literatur, der sich viele Jahre lang — natürlich ohne jeden Erfolg — um die Verbreitung des Christentums unter den Juden bemüht hatte. Sie baten Tychsen, seinen ganzen Einfluss auf den Großherzog geltend zu machen, um den tückischen Plan des Landtags zu vereiteln. Der Professor kam ihrer Bitte nach, wenn auch mit einem neuen Hinweis auf seine alte Missionarweisheit, dass die Juden ohne Verzicht auf ihren Talmud und Schulchan-Aruch unmöglich mit den Christen zusammenleben können. Der Großherzog war auch ohnehin zu Reformen geneigt. Die preußische Emanzipation von 1812 machte ihm Mut, und im Februar 1813 erließ er ein Edikt, das nach preußischem Muster abgefasst, wenn auch nicht unerheblich zugestutzt war. Die jüdischen Familien, die bereits „Schutzbriefe“ besaßen, erhielten den Rang von „Einländern“ und die gleichen Rechte wie die Christen, wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Ihre Kinder, die noch keine „Schutzbriefe“ besaßen, mussten von der Regierung eine eigene Konzession für den „Einländer“titel erbitten, die sie nur auf Grund einer eigenen Bestätigung über ihre Rechtsfähigkeit erhielten. Alle Berufe und Gewerbe waren den Juden nun freigestellt mit Ausnahme des Hausierhandels, den sie nur auf Grund einer eigenen Genehmigung betreiben durften. Juden konnten in den Militär- und den Magistratsdienst, aber nicht in den Staatsdienst aufgenommen werden; dieser letztere würde ihnen vielleicht mit der Zeit möglich gemacht werden. Für alle diese Vorrechte mussten die Juden auf das Rabbinergericht und selbst auf ihre Ehe- und Scheidungsgesetze verzichten, da alle diese Akte den standesamtlichen Institutionen unterlagen. Mischehen zwischen Juden und Christen wurden gestattet, doch mit der Bedingung, dass die Trauungen nach christlichem Ritus vorgenommen und die Kinder in christlicher Religion erzogen würden. Selbst diese zugestutzte Emanzipation missfiel den Ständen, und in den Jahren 1812 bis 1814, als die jüdischen Jünglinge ihr Blut in den Befreiungskriegen vergossen, bestürmten Adel und Kaufmannschaft den Großherzog mit Bittschriften, in denen sie ihn um die Errettung des Landes von der jüdischen „Gleichberechtigung“ anflehten. Ein Gemisch der neuen Emanzipationsbestrebungen mit den alten Disziplinarmaßregeln war um jene Zeit für die Judenpolitik in Baden bezeichnend. In diesem an Frankreich grenzenden Großherzogtum, wo sich auch schon vor der Napoleonischen Invasion der Einfluss ausländischer freier Ideen geltend machte, siegte während der Krise von 1806 die liberale Richtung. Nach der Verfassung von 1808 wurden die badischen Juden aus dem Stande der „Erbpflichtigen“ in die Klasse der „erbfreien Staatsbürger“ versetzt; um aber die mit diesem neuen Stande verbundenen Rechte zu erhalten, musste jeder einzelne Jude eine Bestätigung vorweisen, dass er die gleichen Erwerbsquellen besitze, wie die Christen, d. h. dass er weder vom Hausierhandel noch vom Maklergeschäft oder Wucher lebe. Vom gleichen Korrektions- und Disziplinargeist war auch das Judenedikt des Großherzogs Karl Friedrich vom 13. Januar 1809 diktiert. Den Juden Badens als einem ,,Religionsteil des Landes“ wurde das „Gemeinde- oder Ortsbürgerrecht“ nur dann verliehen, wenn sie bürgerliche Berufe ausübten. Ausgeschlossen waren also die Hausierer, Makler, Leihhändler und Viehhändler, welch letztere einen beträchtlichen Teil der badischen Judenheit ausmachten. Außer den Wucherern war also die ganze jüdische Masse, die vorwiegend aus kleinen Händlern bestand (das Gesetz bezeichnete ihren Beruf verächtlich mit „Nothandel“) zu der früheren Rechtlosigkeit verdammt. Dafür sorgte die weise Regierung für die Umgestaltung der jüdischen „religiösen“ Gemeinden. Die französische Konsistorialorganisation bekam, nach Baden verpflanzt, folgende Gestalt: Jede Ortssynagoge hat ihren eigenen Rabbiner und untersteht einer Bezirkssynagoge, die von einem Bezirksrabbiner geleitet wird, das höchste Verwaltungsorgan — der „Oberrat der Israeliten“ — hat seinen Sitz in Karlsruhe und besteht aus acht vom Großherzog ernannten geistlichen Personen und Laien. Der Oberrat, an dessen Spitze ein Rabbiner oder gebildeter Laie steht, setzt einheitliche Normen für die Gemeindeautonomie fest und sorgt für die inneren Reformen. Im Jahre 1812 wurde dem Oberrat ein Regierungskommissar beigeordnet, ohne dessen Sanktion die Beschlüsse des Oberrats keine Kraft hatten. Dem badischen Edikt von 1809 lagen zweifellos viele gute Absichten zugrunde, da es aber vom Geiste der Bevormundung und der Einteilung der Bürger in Klassen durchdrungen war, war es durchaus nicht der Emanzipationsakt, als welcher er in der späteren Epoche der Reaktion angesehen wurde.