§ 33. Die Vorübergehende Emanzipation im Gebiete französischer Herrschaft (Westfalen, Frankfurt, Hansastädte)

Die sechsjährige Herrschaft Napoleonischer Politik in Deutschland (1806 — 1812) brachte den Juden jener Staaten, die dem französischen Einflüsse unmittelbar unterlagen, eine vorübergehende Emanzipation. Zuerst wurde sie den Juden des neuen Königreichs Westfalen zuteil, das Napoleon (nach dem Tilsiter Frieden, 1807) aus verschiedenen Teilen Hannovers, Braunschweigs, Hessens und den preußischen Gebieten zwischen der Elbe und dem Rhein geschaffen hatte. An der Spitze dieses ephemeren Staates stand der ephemere König, Napoleons Bruder, Jérôme Bonaparte, der nach Pariser Weisungen regierte. Nach der Verkündigung der allgemeinen Verfassung für das Königreich Westfalen, durch die allen Bürgern die Gleichheit verliehen wurde, erschien im Januar 1808 ein eigenes königliches Dekret über die Abschaffung aller Beschränkungen für die Juden. Das Dekret beginnt mit den Worten: „Unsere Untertanen, welche der Mosaischen Religion zugetan sind, sollen in Unseren Staaten dieselben Rechte und Freiheiten genießen, wie Unsere übrigen Untertanen“; selbst den aus den anderen Ländern zuziehenden Juden wurde volle Gleichberechtigung versprochen. Dies war der erste Akt der Emanzipation auf deutschem Boden.

Der Übergang von der Sklaverei zur Freiheit rief bei der jüdischen Bevölkerung Westfalens ungeheuren Enthusiasmus hervor. Als König Jérôme in seine Residenz Kassel einzog, wurde er von den Juden mit besonderer Begeisterung begrüßt. Bei der Festbeleuchtung waren im Fenster eines jüdischen Hauses riesengroße Handfesseln ausgestellt mit der Inschrift: „Unsere Ketten sind gesprengt.“ Bald darauf erschien eine jüdische Deputation, um den König persönlich zu begrüßen. An der Spitze der Deputation stand der einflussreiche Freund und Gesinnungsgenosse Friedländers, Israel Jacobson aus Braunschweig.


Jacobson der Hoffaktor oder Finanzrat des Braunschweiger Herzogs Karl Ferdinand gewesen war, trat in die Dienste Jérôme Bonapartes über, als Braunschweig dem Königreiche Westfalen angegliedert wurde. Jacobson sehnte sich schon längst nach französischen Zuständen, nach der Emanzipation der deutschen Juden nach französischem Muster und nach der Reformierung des jüdischen Lebens. Die Nachricht von der Berufung der jüdischen Notabein durch Napoleon nach Paris versetzte ihn in helles Entzücken; er schrieb (im Sommer 1806) an den Kaiser einen Brief mit der Bitte, seine „reformierende Tätigkeit auf die Juden aller Länder auszudehnen“; dieser Brief kam auch in die Zeitungen und bildete vielleicht einen der Anlässe zur Einberufung des ,,Großen Synhedrions“. Die Beschlüsse des Synhedrions beflügelten Jacobson, der sich auch schon früher mit dem Gedanken, die Juden durch Assimilation zu retten, herumtrug, zu neuen Taten. In der Stadt Seesen bestand seit dem Jahre 1801 eine auf Jacobsons Kosten begründete Schule, in der jüdische und christliche Kinder zusammen erzogen wurden; die musterhaft organisierte Schule war weit und breit bekannt und brachte ihren Gründer in den Ruf eines freigebigen Philantropen. Die äußerliche, zuweilen erkünstelte Annäherung der Juden an die Christen, der jüdischen Lebensformen an die christlichen — diese Lieblingsidee Jacobsons war zugleich die Quelle seiner guten Werke, wie auch seiner traurigen Verirrungen.

Am 9. Februar 1808 stellten sich dem König Jérôme zu Kassel zweiundzwanzig Vertreter der jüdischen Gemeinden Westfalens mit Jacobson an der Spitze vor. Jacobson hielt eine Rede, in der er den kleinen Bruder des großen Napoleons mit Cyrus, dem Befreier Israels, „das unter dem Joche einer barbarischen Gesetzgebung verschmachtete“, verglich; die Juden werden sich des Geschenkes der Gleichberechtigung würdig zeigen: „sie werden euren Heeren Soldaten, euren Städten Kaufleute, euren Feldern Ackerbauer liefern.“ Der König antwortete sehr herzlich: „Sagt euren Brüdern, dass sie die ihnen verliehenen Rechte ausnützen sollen. Sie dürfen auf meinen Schutz ebenso wie alle meine anderen Kinder rechnen.“

Die Emanzipation war gesichert, und Jacobson machte sich mit großem Eifer daran, im neuen Königreiche die französisch-jüdische Konsistorialordnung einzuführen, deren Entwurf kurz vorher in Paris ausgearbeitet worden war. Eine Regierungskommission unter der Leitung Jacobsons passte diesen Entwurf schnell den lokalen Verhältnissen an, und König Jérôme ordnete mit dem Dekret vom 31. März 1808 die Neuorganisierung der jüdischen Gemeinden im Königreiche Westfalen an. Dies geschah zwei Wochen nach der Veröffentlichung des Napoleonischen Dekrets von den Konsistorien in Frankreich (s. oben § 42). In der Einleitung zum westfälischen Dekret waren folgende charakteristischen Gründe aufgezählt: „Wenn die Juden gleich Unseren anderen Untertanen die freie Ausübung ihres Gottesdienstes genießen sollen, muss diese Religionsübung auch, wie die anderen. Unserer Aufsicht unterworfen sein, damit sie nicht mit der Gesetzgebung und derjenigen öffentlichen Moral in Widerspruch stehe, welche die Richtschnur aller Menschen sein und aus ihnen nur eine einzige politische Gesellschaft bilden muss. Die Juden dürfen nicht ferner eine getrennte Gesellschaft (un corps à part) im Staate ausmachen, sondern müssen nach dem Beispiele aller Unserer Untertanen, sich in die Nation, deren Glieder sie sind, verschmelzen — (se fondre dans la nation).“ Das Dekret errichtet zu Kassel, der königlichen Residenz, ein aus einem Vorsitzenden, drei Rabbinern und zwei gelehrten Laien bestehendes jüdisches Konsistorium. Es soll von den Gemeinden selbst und nicht aus Staatsmitteln unterhalten werden. Ebenso wie in Frankreich, gehören ins Ressort des Konsistoriums alle geistlichen Angelegenheiten der Gemeinden, darunter auch der Religionsunterricht; es ist ferner verpflichtet, die Rabbiner und die Lehrer in dem Sinne zu beeinflussen, dass sie „Gehorsam gegen die Gesetze und besonders gegen diejenigen, welche sich auf die Verteidigung des Vaterlandes beziehen, lehren; dass sie in ihrem Unterrichte den Militärdienst als eine heilige Pflicht darstellen, während deren Ausübung das Gesetz von allen damit unvereinbaren religiösen Gebräuchen entbindet“.

Ende 1808 wurde das Kasseler Konsistorium eröffnet. Zu seinem Präsidenten ernannte die Regierung Israel Jacobson, obwohl er kein geistliches Amt bekleidete, und zu Mitgliedern — drei Rabbiner und zwei Laien (einer der gelehrten Laien war der Dessauer Lehrer David Fränkel, der Herausgeber der fortschrittlichen jüdischen Zeitschrift in deutscher Sprache ,,Sulamith“). Alle Mitglieder waren nach Weisungen Jacobsons ernannt worden, der unumschränkter Herr dieses neugeschaffenen Instituts war. Er ließ ein Siegel anfertigen mit der Inschrift: „Königlich Westfälisches Konsistorium Mosaischer Religion“ und legte sich eine Galauniform an, die aus einem goldgestickten Talar aus schwarzem Tuch mit der Darstellung der zehn Gebote auf der Brust bestand. Das Kasseler Konsistorium wurde zu einer Art jüdischen Kultusministeriums und erließ zahlreiche Dekrete, die das ganze Leben der Juden des Königreichs regulierten *). Jacobson machte sich mit Feuereifer an die Reformierung des Religions- und Gemeindewesens, Er ging dabei (wie es aus der von ihm der Regierung überreichten Denkschrift ersichtlich ist) von der Überzeugung aus, dass nur eine Reform die jüdische Gemeinde und selbst die ganze junge Generation vor gänzlicher Auflösung retten könne. Er sah in der deutschen Judenschaft zwei Extreme: einerseits die streng orthodoxe Masse, die an den veralteten Formen der Religion und des Lebens festhält, und andererseits — die neue Generation, die unter dem Einflüsse einer, oft recht oberflächlichen europäischen Bildung sich von der Religion der Väter lossagt oder der Schar derjenigen beitritt, die außerhalb des Judentums und des Christentums stehen — der hohlen Stutzer, sittenloser, verdorbener Menschen, die die Idee der Aufklärung in konservativen Kreisen kompromittieren. In Frankreich hätte die Wiedergeburt der Juden den richtigen Weg eingeschlagen: zuerst hätte die Revolution die Juden emanzipiert und alle Religionen einander gleichgestellt und dann, während des Konvents, auch die Religion selbst abgeschafft; heute hätte aber Kaiser Napoleon, der Schöpfer des Pariser Synhedrions, Maßregeln zur Organisation des jüdischen Kultus ergriffen; dieses französische System, des Umbaues der jüdischen Gemeinde könne im Königreiche Westfalen die beste Anwendung finden.

*) Im Jahre 1808 betrug die Zahl der Juden im Königreich Westfalen 15.000; sie stieg aber fortwährend durch Zufluss von Einwanderern, die die Emanzipation aus den anderen Gebieten Deutschlands anlockte.

Und nun begann das Kasseler Konsistorium ein Rundschreiben nach dem anderen zu erlassen: von den Rechten und Pflichten der Rabbiner und Gemeindeältesten, von den Synagogen, Schulen, dem Lehrerpersonal usw. Es ging dabei durchaus napoleonisch vor, indem es die religiösen Gebräuche, insbesondere solche, die mit bürgerlichen Akten zusammenhingen, durch Dekrete abänderte. Mit Berufung auf das königliche Dekret erklärte das Konsistorium alle Eheschließungen und Ehescheidungen, denen kein entsprechender Akt in standesamtlichen Institutionen vorangegangen war, für ungültig, untersagte die Trauungen unter freiem Bummel und schaffte einige veraltete Hochzeitsbräuche ab. Es führte eine obligatorische religiöse „Konfirmation“ in der Synagoge ein: für Knaben mit dreizehn, für Mädchen mit zwölf Jahren, nach dem Vorbilde der protestantischen Konfirmation, mit einem öffentlichen Examen in der Glaubenslehre, mit Reden, Rabbinervorträgen usw. Schon diese Neueinführung allein war ein Attentat auf das Gewissen der Rechtgläubigen; noch größere Aufregung riefen die Konsistorialerlasse bezüglich der Synagogen hervor. Um eine einheitliche Gottesdienstordnung durchzusetzen, verbot das Konsistorium jeden öffentlichen Gottesdienst in privaten Betstuben und verpflichtete die Einwohner einer jeden Stadt, nur in der einen offiziellen Synagoge zu beten, wo der Gottesdienst nach einer vom Konsistorium vorgeschriebenen Ordnung, unter Weglassung verschiedener Gebete und Gebräuche, abgehalten wurde. Als die aufs höchste erregten Gemeinden sich bei der Regierung über die Einengung der Gewissensfreiheit beschwerten, erwirkte Jacobson ein königliches Dekret (vom 5. Juli 1811), welches die Verfügung des Konsistoriums über das Verbot des privaten Gottesdienstes außerhalb der reformierten Synagogen aufs nachdrücklichste bestätigte. Auf dem gleichen bureaukratischen Wege wurde auch die Schulreform durchgeführt. Das Konsistorium ließ in jeder Stadt je eine Schule errichten, in der die Religion und die biblische Sprache von einem jüdischen Lehrer, die übrigen Gegenstände aber von einem Christen gelehrt wurden. Privatunterricht im „Cheder“ wurde untersagt. Im Jahre 1810 wurden in Kassel die erste Schule dieser neuen Art und ein Lehrerseminar, eröffnet. Die Erhöhung der Steuern und die allgemeine Unzufriedenheit mit den neuen Ordnungen riefen zahlreiche Klagen der Gemeinden hervor; sie ersuchten den König, das kostspielige Konsistorium abzuschaffen und die Last der speziellen Abgaben, die die Juden neben den Staatssteuern zu zahlen hatten, zu erleichtern.

Da nahte aber schon das Ende des ephemeren Königreichs Westfalen: es schwand zugleich mit Napoleon (1813), und mit ihm schwand auch die ganze Neuorganisation des Judentums. Die Ära der vollen Emanzipation war nur von kurzer Dauer gewesen: die westfälische Oase der Gleichberechtigung auf deutschem Boden hatte kaum sechs Jahre bestanden. Während dieser kurzen Zeitspanne konnten die rund zwanzigtausend aus „geduldeten“ zu freien Bürgern gewordenen Juden frei atmen. Viele Rechtlose waren aus anderen deutschen Landen nach Westfalen übersiedelt. Ebenso kurz war auch die Ära der inneren, von Jacobson unternommenen Reformen. Diese waren übrigens auch, abgesehen von der politischen Krise, zu einem Misserfolg verurteilt. Jacobson hatte eine gute Absicht: das geistige Leben der Juden mittels Reformen ästhetischer und für die neue Generation der „Aufgeklärten“, die sich von der jüdischen Gemeinde und Synagoge durch deren veraltete Formen abgestoßen fühlten, anziehender zu machen. Neben diesem Motiv hatte er aber auch noch ein anderes, auf die Außenwelt gerichtetes: den Wunsch, Synagoge, Schule und Gemeindeordnung zu germanisieren, um auf diese Weise die Juden mit den Christen zu verschmelzen. Jacobson übersah die tieferen Gründe des Abfalls der gebildeten Klassen und setzte alle seine Hoffnungen auf die Reformierung des Ritus, die er obendrein mit den Machtmitteln der Bureaukratie betrieb. Er verwandelte das Konsistorium in eine Fabrik von Reformen, die den Gemeinden aufgezwungen wurden, und schenkte den Protesten der Unzufriedenen nicht die geringste Beachtung. Wie die meisten Männer jenes Revolutionszeitalters hatte Jacobson für die Methoden einer evolutionären, von historischen Wurzeln ausgehenden Reform kein Verständnis. Gleich Friedländer und den anderen Führern „des neuen Judentums“ negierte er die Idee der jüdischen Nationalität, und seine ganze Arbeit ging auf die Schaffung eines oberflächlichen Kompromisses zwischen dem Unglauben und der nach der letzten Mode „gereinigten“ Religiosität hinaus.

Von noch kürzerer Dauer als in Westfalen war die vorübergehende Emanzipation in der alten Hochburg der Rechtlosigkeit, der freien Reichsstadt Frankfurt a. M., wo die Erringung der ephemeren Freiheit noch größere Mühe kostete. Vor der Invasion Napoleons stand das Frankfurter Ghetto (§ 2) als ein mittelalterlicher Fels im stürmischen Meere der Zeit da. Die Patrizieroligarchie, die die Stadt regierte, wollte von irgendwelchen Neuerungen nichts hören. Vergeblich pochten die Gefangenen des Ghettos an die Türen der europäischen Kongresse (§ 28) — sie bekamen keine Antwort. In den Mauern des Ghettos regte sich aber schon etwas: der freie Geist drang durch die von der Berliner Aufklärung geschlagenen Breschen ein und rief zu einem neuen Leben auf. Eine Gruppe aufgeklärter Frankfurter gründete das freie Gymnasium „Philantropin“ zwecks Erziehung der jüdischen Kinder im Geiste der Zeit, und dieses Institut wurde zu einer Zitadelle der Reformen. Die Nachrichten über die Versammlung der Notabein zu Paris hoben den Mut der Frankfurter Aufklärer und beflügelten ihre Hoffnungen, um so mehr als bald darauf (1806) Napoleon das Schicksal Deutschlands in die Hand nahm und den ,,Rheinbund“ mit Frankfurt als Hauptstadt gründete. Aus Frankreich kamen Hoffnungen auf die Emanzipation, und aus dem Ghetto erhoben sich Befreiungshymnen. In Frankfurt bildete sich ein fortschrittlicher Verband aus zweihundertfünfzig Gemeindemitgliedern, der sich zur Aufgabe machte, die französischen Reformen auf deutschen Boden zu verpflanzen. Im November 1806 schickte dieser Verband eine Begrüßungsadresse an die Pariser Versammlung jüdischer Deputierter. Diese Adresse rühmte den Großmut der französischen Nation, „die die Fesseln eines so lange bedrängten Volkes zerschlagen“, die Wohltaten „des unsterblichen Napoleons“, der die besten Vertreter der Judenheit zwecks „Säuberung unserer Religion“ zusammengerufen habe, und die „weisen Antworten“ der Pariser Versammlung auf die Fragen des Kaisers. In der Adresse wurde ferner der Wunsch geäußert, dass „das schöne Beispiel Frankreichs auch außerhalb der Grenzen des Kaiserreichs Nachahmung finden möchte“. Die Frankfurter Adresse wurde in der Versammlung gerade in dem Augenblick verlesen, als sie dem „Großen Synhedrion“ Platz machen wollte, und der Präsident der Versammlung, Furtado, antwortete den deutschen Verehrern Napoleons mit einem Briefe im gleichen Geiste. Schon zwei Monate später hatten zwei Vertreter der Frankfurter Gemeinde (der Rabbiner Salomon Trier und Isaak Hildesheim) das „Glück“, an den Sitzungen des Pariser Synhedrions teilzunehmen. In einer der letzten Sitzungen gaben die Frankfurter Vertreter die Erklärung ab, dass ihre Gemeinde sich allen Beschlüssen des Synhedrions fügen wolle, „sobald unser Regent sie gutheißt und unsere Brüder die gleichen Bürgerrechte erhalten, die die Juden Frankreichs und Italiens bereits genießen“. In dieser Erklärung war der Zusammenhang zwischen der inneren Reform und der Emanzipation ganz unzweideutig ausgesprochen, und die Wallfahrt der Frankfurter nach Paris wurde dadurch ins richtige Licht gerückt. Der „Regent“ Frankfurts, von dem die Deputierten sprachen, war der von Napoleon eingesetzte Fürstprimas des Rheinbundes, Karl von Dalberg, der ehemalige Kurfürst von Mainz, ein Mann liberaler Gesinnung im französischen Geiste. Er war bereit, die schmähliche Ghettoordnung abzuschaffen, aber die Frankfurter städtische Oligarchie, die konservativen Patrizier und Bürger ließen sich nur zu einigen unbedeutenden Zugeständnissen herbei. Am 30. November 1807 wurde für Frankfurt die „Neue Stättigkeit- und Schutzordnung der Judenschaft“ erlassen, die aber an der alten Ordnung nichts Wesentliches änderte. Sie erweiterte das Juden viertel, schaffte es aber nicht ab; die Zahl der jüdischen Familien durfte auch jetzt die frühere Norm (fünfhundert) nicht übersteigen, und neue Ehen wurden nur im Falle einer „Vakanz“ innerhalb dieser Norm gestattet; viele Zweige des Handels blieben den Juden verschlossen; nur zum Handwerk und in die Schulen wurden sie zugelassen; für diese „Privilegien“ musste die jüdische Gemeinde der Stadt ein „Schutzgeld“ von zweiundzwanzigtausend Gulden im Jahre zahlen. Als der Fürstprimas dieses Reglement unterzeichnete, machte er den Zusatz, dass vielleicht später einmal „dem Zeitgeiste entsprechende“ Änderungen und sogar die gänzliche Abschaffung der Beschränkungen möglich sein würden.

Die Frankfurter Juden, die vom französischen Protektorat jeden Segen erwarteten, sahen sich durch das neue Reglement sehr enttäuscht. Die Fortschrittler erhoben einen Protest. Die von der Regierung eingesetzten neuen Gemeindeältesten weigerten sich, ihr Amt anzutreten. Eine Deputation von der Gemeinde ging nach Paris und überreichte dem Fürstprimas eine von einigen hundert Gemeindemitgliedern unterschriebene Petition. Nun mischte sich auch der Führer der emanzipierten Westfalen, Israel Jacobson, in die Sache. Er überreichte dem Fürstprimas eine „alleruntertänigste“ Eingabe, in der er ihn aufforderte, den Spuren des „Helden des Jahrhunderts“, Napoleons, zu folgen und den Überresten einer barbarischen Zeit, die einen Schandfleck auf der Frankfurter Gesetzgebung bilden, ein Ende zu machen (Anfang 1808). Zur Verteidigung der alten Gesetzgebung und gegen die Denkschrift Jacobsons trat der Verfasser einer anonymen Broschüre auf. Dieser Kampf weckte auch das Interesse des großen Sohnes Frankfurts, des Dichterfürsten und Fürstendichters Goethe. Goethe konnte sich selbst auf den Höhen des Geistes nicht von den kläglichen Standesidealen jener Patriziergesellschaft freimachen, der er entstammte, und alle seine Sympathien waren auf Seiten der Bedrücker. Er äußerte sich, dass die neue Frankfurter „Stättigkeit“ die Juden mit Recht „als wahre Juden und ehemalige kaiserliche Kammerknechte traktierte“. Goethe leistet sich in einem Briefe den Scherz: „Es war mir sehr angenehm zu sehen, dass man dem finanzgeheimrätlichen jacobinischen Israelssohn so tüchtig nach Hause geleuchtet hat.“ (Der Witz besteht in der Verdrehung des Namens Israel Jacobson.) Alle Proteste und Petitionen der Kämpfer für das Recht hatten anfangs tatsächlich keinen Erfolg.

Eine Änderung trat erst im Jahre 1810 ein, als unter der Regierung des gleichen Fürstprimas das Großherzogtum Frankfurt gebildet wurde, welches aus der Reichsstadt Frankfurt, Teilen des Kurfürstentums Mainz und einigen anderen rheinischen Gebieten bestand. In den Grundgesetzen des Großherzogtums war natürlich von der Gleichheit aller vor dem Gesetz die Rede, aber niemand beeilte sich, auch den Juden Gleichberechtigung zu gewähren. Es begann ein Feilschen zwischen der Bürgerschaft und den Juden über den Umfang der zu gewährenden Rechte und über die zu zahlende Entschädigung. Der frühere Fürstprimas und nunmehrige Großherzog Karl erklärte sich bereit, den Juden Gleichberechtigung zu gewähren, unter der Bedingung, dass die Frankfurter Gemeinde 440.000 Gulden einzahlt, d. h. das Zwanzigfache des Betrages, den sie vorher alljährlich als „Schutzgeld“ entrichtet hatte und um den die Stadt nun geschädigt sein würde. Die Juden gingen darauf ein, und das Geschäft kam zustande. Am 28. Dezember 181 1 wurde ein großherzogliches Edikt erlassen, welches erklärte, dass für die Juden von nun an der von der Gleichheit aller Bürger handelnde Paragraph der Grundgesetze gelte und dass alle früheren Beschränkungen endgültig aufgehoben seien.

So kauften sich die Frankfurter Juden ihre Gleichberechtigung für eine halbe Million Gulden; sie hätten aber dieses Geld wohl kaum hergegeben, wenn sie gewusst hätten, dass diese Gleichberechtigung nur zwei Jahre in Kraft bleiben würde. Sobald sich die Resultate der Befreiungskriege (1813 — 1814) zeigten, beeilte sich die Frankfurter Bürgerschaft, zugleich mit dem französischen Joch auch das „Joch“ der jüdischen Gleichberechtigung abzuschütteln.

Vorübergehende Freiheit brachte die französische Herrschaft auch den Juden der drei Hansastädte — Hamburg, Lübeck und Bremen. Die große jüdische Gemeinde von Hamburg (an die neuntausend Seelen) stöhnte unter dem Drucke eines strengen Reglements, einer Schöpfung der Gesetzgeber dieser freien Stadt — des Bürgersenats und der Kaufmannsgilden, die die Handelsinteressen der Christen vor jüdischer Konkurrenz schützen wollten. Die Okkupation Hamburgs durch französische Truppen (1810) schloss diese Stadt unmittelbar an das französische Kaiserreich an, und die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden wurde sofort ohne jeden Kampf verwirklicht (1811). Alle Beschränkungen in bezug auf das Wohnrecht, den Erwerb von unbeweglichem Eigentum, Handel, Gewerbe und Schulunterricht wurden abgeschafft; einige Juden wurden sogar in die Stadtvertretung gewählt. Man begann auch die Selbstverwaltung der Gemeinden nach dem in Paris aufgestellten Konsistorialtypus zu reformieren. Die von den Franzosen eingeführte Gleichberechtigung verschwand aber zugleich mit ihnen, als Anfang 1814 die deutsche Befreiungsarmee Hamburg besetzte. Die in den Reihen dieser Armee kämpfenden Söhne der Hamburger Juden ahnten noch nicht, dass die Befreiung des deutschen Vaterlandes zu einer neuen Knechtung des jüdischen Volkes führen würde.

In den Handelsstädten Lübeck und Bremen, die bisher den Juden verschlossen waren, bildeten sich in dieser kurzen Zeit von drei Jahren kleine jüdische Kolonien, vorwiegend aus den Bewohnern der anliegenden Städte und Märkte. Aber die Befreiung Deutschlands von den Franzosen „befreite“ auch diese Städte von dem für die ansässige christliche Kaufmannschaft so unbequemen jüdischen Element.