§ 32. Die Reformen in Preußen und das Gleichberechtigungsedikt von 1812

Der Zerfall der preußischen Judenheit war eine Frucht des Missverhältnisses zwischen ihrem staatsbürgerlichen und kulturellen Niveau, zwischen der alten Rechtlosigkeit und dem plötzlichen Übergange von der alten Kultur zur neuen. Nun kam aber der Augenblick, wo auch Preußen ein Zerfall drohte — eine Frucht des Widerspruchs zwischen seiner geistigen Fortschrittlichkeit und seiner politischen Rückständigkeit. Das Land des Absolutismus, wo es nur der Beamtenschaft, aber nicht dem Volke erlaubt war, „Politik zu machen“, erfuhr eine vernichtende Niederlage durch Napoleon (1806 — 1807). Nach dem Tilsiter Frieden verlor Preußen die Hälfte seines Territoriums (fast alle polnischen Provinzen, die nun das Herzogtum Warschau bildeten, und die Gebiete zwischen der Elbe und dem Rhein) und geriet in eine beschämende Abhängigkeit von Napoleon. Der erniedrigte König Friedrich Wilhelm III. musste sich nun mit seinem eigenen Volke aussöhnen und innere Reformen durchführen. Es begann die Reformtätigkeit der liberalen Regierung von Stein und Hardenberg (1807 — 1812). Die Leibeigenschaft wurde abgeschafft, die städtische Selbstverwaltung erweitert und die alte Stände- und Zünfteordnung eingeschränkt. Nun erinnerte man sich auch der bedrücktesten Bevölkerungsgruppe von Preußen — der Juden. Als im Jahre 1808 die Reform der städtischen Selbstverwaltung durchgeführt wurde, verlieh man den Juden das Recht der Beteiligung an den Stadtvertretungen, und so wurden die kaum geduldeten „Schutzjuden“ zu städtischen Bürgern. Man gab ihnen auch Zutritt in die Magistrate und Kaufmannsgilden; David Friedländer wurde zum Mitglied des Berliner Stadtrats erwählt und trug den Stadtrattitel mit kindlichem Stolz.

Die durch die neuen Strömungen ermutigten führenden Persönlichkeiten der Berliner jüdischen Gemeinde, mit Friedländer an der Spitze, nahmen nun wieder ihre Bemühungen um die Erringung der Gleichberechtigung auf. Die Regierungskanzleien begannen wieder an allerlei „Reformprojekten“ zu arbeiten. Ein liberales Projekt wurde im Jahre 1808 vom Königsberger Juristen Brand, einem der bedeutendsten Mitarbeiter an der Reform der städtischen Selbstverwaltung, eingereicht. Brand forderte für die Juden volle Gleichberechtigung, weil man auf diese Weise ihre nationale Abgeschlossenheit vernichten könne. Bisher, erklärte er, „wurde die politische und gewerbliche Rechtsfähigkeit der Juden unrichtig aus dem Gesichtspunkte der Religion betrachtet. Das sei auch den Juden willkommen gewesen, indem sie die Toleranz der Philosophie auch für sich in Anspruch genommen hätten. Es sei aber nicht die Religion, sondern die Nationalität und das Bestreben der Juden, sich darin zu erhalten was ihnen den Widerwillen der übrigen Bewohner zuziehe.“ Franzosen und Deutsche hätten wohl Ehen miteinander geschlossen, Juden und Deutsche aber nicht. Sie seien ,,ein Volk im Volke“ geblieben und werden es bleiben, solange Mischehen ohne die obligatorische Taufe des Juden verboten bleiben; diese aber könne man gestatten, sobald die Juden in die bürgerliche Gesellschaft aufgenommen werden. Das Brandsche Projekt der Ausrottung der jüdischen Nationalität mittels Verleihung der Gleichberechtigung wurde vom konservativen Minister Schrötter unterstützt, den Brand selbst einen „Haman der Juden“ nannte. Der Minister, der eifrig über die Beobachtung aller Paragraphen des erniedrigenden Judenreglements wachte, wurde zu einem Verteidiger der Gleichberechtigung, sobald er in ihr ein Mittel zur Abschaffung des Judentums witterte*). In seinem Bericht an den christlichen König entwickelt er den Gedanken, dass die neue Judenverfassung notwendig sei, um ,,ihre Nationalität zu untergraben“; man müsse ihnen die Bürgerrechte gewähren unter der Bedingung, dass sie auch alle Bürgerpflichten tragen; die Frage, ob die Juden augenblicklich würdig seien, auch zum Militärdienst zugelassen zu werden, wird von Schrötter bejaht; er meint, dass die Juden in der Armee, die das Vaterland zu schützen habe, wohl nützlich sein könnten. Der König aber schwankte noch, besonders in der Beantwortung der letzten Frage.


*) Charakteristisch ist das in den Erinnerungen Brands wiedergegebene Gespräch über die Judenfrage mit Schrötter. Als Brand ihm erklärte, dass er die Möglichkeit habe, dem Judentum (als Nation) und nicht den Juden einen tödlichen Streich zu versetzen, beauftragte ihn der Minister mit der Abfassung eines Entwurfs für den König. Der Liberale und der Konservative begegneten sich also in der Ansicht, dass man die jüdische Nation auf dem Wege der Gleichberechtigung vernichten müsse. Vgl. Zitate aus den Akten bei Geiger: „Geschichte der Juden in Berlin“ II, 182 und bei Jolowicz: „Geschichte der Juden in Königsberg“, 118 — 120; der für die Assimilation eintretende Jolowicz protestiert gegen die „Verleumdung“, dass die Juden eine besondere Nation bilden.

Das Schwanken machte nach dem Rücktritt Schrötters unter dem liberalen Kanzler Hardenberg entschiedenerem Vorgehen Platz. Hardenberg, der in der gebildeten jüdischen Gesellschaft zahlreiche Verbindungen hatte, befürwortete die neue Eingabe Friedländers und der Ältesten der Berliner Gemeinde wegen der Verleihung von Gleichberechtigung an die Juden unter der Bedingung, dass sie auch alle Bürgerpflichten bis zum Militärdienst einschließlich tragen (1810). Zwei Jahre dauerten die Vorarbeiten zu dem Emanzipationsakt; an ihnen war auch der Kultusminister Wilhelm von Humboldt, der ehemalige Held der jüdischen Salons beteiligt*). Endlich, am 11. März 1812, unterzeichnete der König das „Edikt betreffs die bürgerlichen Verhältnisse der Juden“.

*) Dieser große Ideologe des Liberalismus teilte die allgemeine Ansicht von der Notwendigkeit, die nationale Einheit der Juden zu zerstören. Humboldt sprach sich gegen die Paragraphen des Entwurfs aus, die von der Organisation der jüdischen Gemeinden und der Einsetzung eines Oberrabbiners für ganz Preußen handelten, mit der Begründung, dass dies zur Stärkung der inneren Struktur und Einheit führen würde, während die Regierung nach einer Zersplitterung der Judenheit und ihrer Verschmelzung mit dem ganzen Volke streben müsse; er empfiehlt sogar, die religiösen ,,Schismen“ im Judentume zu begünstigen, was eine Schwächung des Zusammenhangs zwischen den jüdischen Kirchen (Synagogen) und den Gemeinden herbeiführen müsse. Vgl. A. Stein: „Abhandlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Reformzeit“, S. 237 und folgende.

Der erste Paragraph des Edikts erklärt alle Juden, die in Preußen bisher auf Grund besonderer Privilegien und Konzessionen lebten, zu „Einländern und preußischen Staatsbürgern“. Alle Beschränkungen im Wohnrecht und Beruf, alle speziellen Abgaben und Ausnahmegesetze werden abgeschafft. Die Juden werden zum Munizipaldienst und zu akademischen Ämtern zugelassen; die Zulassung der Juden zu Staatsämtern behält sich der König indes noch vor. Die Juden sollten aber die gleichen Pflichten wie die anderen Bürger übernehmen und auch zum Militärdienst herangezogen werden; in allen Geschäftsakten müssen sie sich der deutschen oder einer anderen lebenden Sprache bedienen; die hebräische und die jüdisch-deutsche Sprache werden aber als unzulässig erklärt. Der letzte Paragraph des Edikts schiebt die Regulierung der jüdischen „Kirchenangelegenheiten“ und der Schulerziehung bis zu einer eigenen Beratung hinaus, „zu der auch Juden, die wegen ihrer Kenntnisse und Rechtschaffenheit das öffentliche Vertrauen genießen, zugezogen werden sollen.“

So emanzipierte Preußen zwanzig Jahre nach der jüdischen Emanzipation in Frankreich seine Juden, wenn auch mit Vorbehalten. Die Schmach der Rechtlosigkeit war von der jüdischen Bevölkerung genommen. Groß war die Freude der Befreiten, besonders in den höheren Gesellschaftsklassen, die die Schmach der bürgerlichen Rechtlosigkeit besonders schmerzvoll empfanden. In diesen Kreisen verband sich das Gefühl der Dankbarkeit für die gewährte Freiheit mit einem unfreien Bedürfnisse, alle solche Eigentümlichkeiten des jüdischen Lebens, die sie in den Verdacht nationaler Absonderung bringen könnten, abzustreifen. Der alte Anwalt der Juden, David Friedländer, war vom Siege so berauscht, dass er der Regierung seine Dienste zur Reformierung des jüdischen religiösen Lebens anbot, wie er sie schon einmal den Vertretern der Kirche angeboten hatte. Bald nach der Veröffentlichung des Edikts vom ii. März 1812 ließ er eine anonyme Broschüre erscheinen unter dem Titel: ,,Über die durch die neue Organisation der Judenschaften in den Preußischen Staaten notwendig gewordene Umbildung 1. ihres Gottesdienstes in den Synagogen, 2. ihrer Unterrichtsanstalten und deren Lehrgegenstände und 3. ihres Erziehungswesens überhaupt. Ein Wort zu seiner Zeit.“ Der Verfasser geht vom Gedanken aus, dass ohne eine Reform der Synagoge und der Schule die kommende Generation die verliehenen Bürgerrechte nicht in vollem Maße werde ausnützen können; „ohne eine andere kirchliche Einrichtung würden die Israeliten nicht fortdauern.“ Die Reformen, die der Zeitgeist verlange, bestehen aber im folgenden: unser altes Gebetbuch sei von Trauerhymnen über den Verlust der alten Heimat des jüdischen Volkes und der politischen Freiheit erfüllt; heute haben wir aber die Freiheit als preußische Staatsbürger erhalten. „Heute haben wir nur ein Vaterland — Preußen — und nur für dieses dürfen wir beten. Unsere Muttersprache ist die deutsche, und durch die unverkümmerte Einführung dieser Sprache in das Gebet kann der religiöse Dienst zu neuem Leben erweckt werden.“ Im gleichen Geiste gänzlicher Germanisierung müsse auch die jüdische Schule reformiert werden. Die Grundthese lautete ganz eindeutig: die Assimilation ist die natürliche Folge der Emanzipation.

Friedländer überreichte sein Buch als einen Entwurf seinem Freund und Gesinnungsgenossen, dem Kanzler Hardenberg (im Oktober 1812), und dieser übergab es dem Kultusministerium. Der Verfasser schickte auch ein Exemplar an den König, bekam aber von ihm eine recht kühle Antwort. Der fromme König, der eine Scheu vor .allen Neuerungen hatte, schrieb: „Solange Juden Juden bleiben wollen, deren eigentümlicher Glaube auf Anerkennung der Mosaischen oder Alttestamentarischen Gesetze beruht, kann ich Umbildungen, welche sowohl in ihren Gottesdienst, als in ihren religiösen Unterricht und in ihre Erziehung eingreifen, nur insofern billigen, als sie mit dem obigen Wesen und den Grundsätzen der jüdischen Religion gemäßen Haupterfordernissen nicht im Widerspruch stehen. Ist dies auch in Ihrer kleinen Schrift Ihre Ansicht, So wird man von derselben den gehörigen Gebrauch zu machen wissen.“ Hardenberg beeilte sich, Friedländer unter seinen Schutz zu nehmen. In zwei Briefen erklärte er dem König, dass das Edikt von der bürgerlichen Gleichberechtigung, das die Juden dem deutschen Volke einverleibe, auch eine innere Reform ihrer Angelegenheiten erheische: die Juden seien von nun an keine Feinde der christlichen Gesellschaft und werden von dieser nicht mehr verachtet werden; nun dürfen sie nicht mehr in ihren Gebeten die Ankunft des Messias erflehen, sondern nur das Wohlergehen ihres Beschützers und Befreiers — des Königs von Preußen; die Einführung der deutschen Sprache in den Gottesdienst und in die Schule rühre aber nicht an den Grundpfeilern der mosaischen Religion. Das Friedländersche Projekt rief auch eine literarische Polemik hervor. Der Vorsteher der Breslauer jüdischen Gemeinde, Dohm, trat für die Beibehaltung der heiligen Sprache im Gottesdienst ein und beschuldigte Friedländer der Absicht, eine religiöse Spaltung heraufzubeschwören. Der greise Hebraist Salomon Pappenheimer nahm wie die nationale Sprache so auch die Gebete nationalen Inhalts in Schutz (1813). Der innere Streit wurde aber durch neues Waffengeklirr übertönt. Es begann der große Befreiungskrieg Preußens und der verbündeten Staaten gegen Napoleon.

Die patriotischen Flammen, von denen das ganze Land ergriffen war, entzündeten auch die Herzen der Juden, die erst eben in den Verband der preußischen Staatsbürger aufgenommen worden waren. Außer den auf Grund der Militärpflicht Eingezogenen traten in die preußische Armee auch mehrere Hundert jüdischer Freiwilliger ein. Die jüdischen Soldaten nahmen an allen Kriegen von 1813 — 1814 auf allen Schlachtfeldern Europas teil; viele von ihnen wurden bei Leipzig und bei Waterloo verwundet und getötet; viele zeichneten sich durch Heldentaten aus und errangen das Eiserne Kreuz ; einige Dutzend wurden sogar zu Offizieren befördert. Die jüdischen Frauen gingen auf den Kriegsschauplatz als barmherzige Schwestern.

Die Gemeinden spendeten große Summen für Heereszwecke. Oft machte sich das Bestreben, seinen Patriotismus zu demonstrieren und sich als der Emanzipation würdig zu zeigen, bemerkbar. Aber weder die Heldentaten noch die anderen Äußerungen des Patriotismus vermochten den Anmarsch der judenfeindlichen Reaktion aufzuhalten, die in Preußen zugleich mit der allgemeinen Reaktion nach dem Wiener Kongress einzog. Die vom zertrümmerten und erniedrigten Preußen erzwungene Emanzipation zeigte sich für das triumphierende Preußen als überflüssig. Die verspätete Emanzipation der preußischen Juden existierte nur drei Jahre und begann dann, vom tödlichen Hauch der Restauration getroffen, zu dorren.