§ 31. Der kulturelle Umschwung: Sittenrevolution und Taufepidemie

Die von außen bedrückte deutsche Judenheit machte zugleich eine tiefgehende innere Krise durch, die sowohl das Geistige wie auch die ganze Lebenshaltung berührte und an nationale Auflösung grenzte. Von der Krise waren zunächst nur die oberen Schichten der jüdischen Gesellschaft betroffen, allmählich drang sie aber auch in die Tiefe ein. Sie hing aufs engste mit der kulturellen Wandlung, die Deutschland damals durchmachte, zusammen, denn die Juden strebten im gleichen Maße, indem sie vom politischen Leben ferngehalten wurden, nach der deutschen Geisteskultur, von der sie beeinflusst wurden und die sie auch ihrerseits beeinflussten.

Es war die Zeit, wo die Aufklärung und der Humanismus der Lessing-Mendelssohnschen Periode dem klassischen Romantismus Goethes und Schillers und dessen entartetem Zweige — dem mystischen Romantismus Schlegels und Schleiermachers Platz machte. Der vom ,,großen Heiden“ aus Weimar wiedererweckte hellenische Schönheitskultus artete in zügellose Sinnlichkeit, in das „Freidenkertum der Leidenschaft“ aus. In den gleichen Jahren ging in Paris eine politische und in Berlin eine moralische Revolution vor sich. Die gebildeten jüdischen Kreise Berlins, die schon zu Mendelssohns Zeiten Anschluss an die christlichen Kreise gefunden hatten, waren für die neuen literarischen Strömungen besonders empfänglich. Die Literatur der Sturm- und Drangperiode berauschte sie und ließ sie die Wirklichkeit vergessen. Ein heißer Strom von Empfindsamkeit und Romantik ergoss sich in die stillen und strengen jüdischen Familien. Goethes „Werther“, der so viele, besonders weibliche Herzen erschüttert hatte, rief einen wahren Sturm in den Herzen der gebildeten jüdischen Mädchen und jungen Frauen hervor, die alle Romane verschlangen und die patriarchalische Sittenstrenge als schwere Last empfanden. In den Salons der jüdischen Damen Berlins (§ 4), in den intimen „Lesegesellschaften“ wurde eifrig über jede literarische Neuerscheinung, über jedes neue Werk Goethes, Schillers und der anderen bedeutenden Dichter debattiert. Ein Berliner Korrespondent Schillers schreibt ihm im Jahre 1797: „Der neue Musenalmanach wird hier mit größerer Spannung als je erwartet. In den gebildeten Berliner jüdischen Kreisen, den einzigen, wo man von Literatur spricht, wird behauptet, dass Sie und Goethe in diesem Almanach mit einem ganz neuen Genre der Dichtung auftreten*).“ Schleiermacher schreibt seiner Schwester aus Berlin im Jahre 1798: „Dass junge Gelehrte und Elegants die hiesigen großen jüdischen Häuser fleißig besuchen, ist sehr natürlich . . . .Wer auf eine recht ungenierte Art gute Gesellschaft sehen will, lässt sich in solchen Häusern einführen, wo natürlich jeder Mensch von Talenten gern gesehen wird . . .“ •


Die größte Rolle spielte der Salon der schönen Jüdin Henriette Herz (1764 — 1847). Henriette, die Tochter des Hamburger Arztes sephardischer Abstammung de Lemos, hatte die übliche ästhetische Erziehung der jungen Mädchen aus gebildeten Kreisen genossen. Die Kenntnis mehrerer europäischer Sprachen und die Belesenheit in der neueren schönen Literatur, die sich mit auffallender Schönheit paarten, gewährleisteten ihr den Erfolg in der Gesellschaft. Im jugendlichen Alter von kaum sechzehn Jahren heiratete sie einen Mann, der doppelt so alt wir wie sie: den populären Arzt und Philosophen Markus Herz, einen Schüler Mendelssohns und Kants. Das gastfreundliche Herzsche Haus war in Berlin um 1785 herum der Mittelpunkt der geistigen Aristokratie. Hier trafen sich die Vertreter der beiden Richtungen: des Lessing-Mendelssohnschen Humanismus (Nicolai, Dohm, Ramler, Teller u. a.) und der neumodischen Romantik (Schleiermacher, Friedrich Schlegel, Chamisso u. a.). Doktor Herz schloss sich der ersteren, seine junge Frau der letzteren Bewegung an. Der ernste Philosoph und seine romantisch gestimmte, kokette Frau hatten fast nichts miteinander gemein. Dies trieb die von glühenden Verehrern umgebene junge Frau in einen intimeren Freundeskreis. Ein Teil der gemischten Gesellschaft, die sich in ihrem Salon versammelte, schloss sich zu einem engen Kreise männlicher und weiblicher Jugend, dem „Tugendbund“, zusammen. Im Mittelpunkt dieses Bundes stand neben Henriette noch eine andere, in ihrem Eheleben unglückliche junge Frau: die kluge und talentierte Dorothea Mendelssohn (1763 — 1839), die Tochter des großen Moses und die Gattin des Bankiers Veit. Diesem Kreise gehörten in ihren jungen Jahren (um 1790) auch die Brüder Humboldt an: der spätere Staatsmann Wilhelm und der spätere Naturforscher Alexander; neben ihnen tauchten aber auch recht zweifelhafte Gestalten auf, wie z. B. der Schürzenjäger Gentz, der spätere Agent der Metternichschen Reaktion. Die Mitglieder des Tugendbundes duzten einander und korrespondierten in einer eigenen geheimen Chiffre; eine Zeitlang diente als solche Chiffre das hebräische Alphabet, das Henriette Herz auch dem in sie verliebten Wilhelm Humboldt beibrachte. Von der landläufigen Tugend war im „Tugendbunde“ recht wenig zu spüren, und der Paragraph der Statuten, der zwischen den Geschlechtern nur platonische Liebe gestattete, wurde wohl kaum beobachtet. Es war eine Schule des „praktischen“ und ein Spiegelbild des literarischen Romantismus. Es war wohl kaum bloßer Zufall, dass die beiden Apostel der entarteten Romantik, die beiden Friedrichs: Schleiermacher und Schlegel in den Mittelpunkt des intimen Berliner Kreises gerieten und eine so tragische Rolle im Leben seiner beider Heldinnen — der Henriette Herz und der Dorothea Mendelssohn-Veit — spielten.

*) Es gelang uns nicht, für diesen von Dubnow zitierten Passus das deutsche Original zu finden, und wir haben die Stelle aus dem Russischen zurückübersetzt. Anm. des Ü.

Von allen Romanen Henriettes war am dauerhaftesten und eigenartigsten ihr Verhältnis zu Schleiermacher, der seit dem Jahre 1796 das Predigeramt an der Charitekirche zu Berlin bekleidete. Der häufige Gast im Herzschen Hause eroberte das Herz Henriettes durch seine Lehre, in der die christliche Romantik mit der höchst modernen Predigt der „freien Liebe“ verwoben war. In Berlin sprach man viel vom intimen Verkehr des jungen Predigers mit der schönen Jüdin; eine verbreitete Karikatur stellte den kleingewachsenen und schmächtigen Schleiermacher neben der großen und üppigen Henriette dar, aus deren Tasche er hervorzugucken schien. Beide Teile behaupteten jedoch, dass ihre Beziehungen rein freundschaftlicher Natur seien. Sie wurden erst im Jahre 1804 unterbrochen, als Markus Herz starb, als sein Salon zu existieren aufhörte und die kinderlose Witwe von den schmalen Zinsen der Erbschaft leben musste. Henriette Herz verkehrte auch weiter in den deutschen aristokratischen Kreisen Berlins, blieb aber formell noch Jüdin. Als man ihr den Posten einer Erzieherin bei der preußischen Prinzessin Charlotte (der späteren russischen Kaiserin, der Gemahlin Nikolaus I.) anbot, mit der Bedingung, dass sie sich taufen lasse, lehnte sie das Angebot ab: sie wolle durch das Renegatentum ihre alte Mutter nicht betrüben. Sobald aber die Mutter tot war, ließ sich Henriette nach lutherischem Ritus taufen (1817) und blieb dieser Religion bis zu ihrem Tode treu. Die schwachen Fäden, die diese Frau mit dem Judentum verknüpften, waren schon längst gerissen; die Ideale des Judaismus und die Interessen des jüdischen Volkes, das ihr, ebenso wie ihrem Freund Schleiermacher als ein „Leichnam“, eine „Mumie“ erschien, waren ihr fremd. Sie war ganz — soweit es ihr der oberflächliche Geist einer Salondame gestattete — von den deutsch-christlichen Idealen Schleiermachers durchdrungen und teilte dessen Ansicht, dass ein Jude kein Bürger Deutschlands werden könne, solange er nicht Christ geworden sei. So kam der nationale Abfall in der Familie des bedeutenden Pioniers der jüdischen Aufklärung, des Mitkämpfers Mendelssohns, auf. Der Zauber der Romantik und das Gift der Assimilation wirkten verheerend auch in der Familie Mendelssohns selbst. Besonders tragisch gestaltete sich das Leben seiner älteren Tochter, der hochbegabten Dorothea. Die zweiunddreißigjährige Mutter zweier Söhne, die sich in der Ehe mit dem Berliner Bankier Simon Veit unglücklich fühlte, warf sich dem stürmischen Romantiker Friedrich Schlegel in die Arme, den sie im Hause ihrer Freundin Henriette Herz kennengelernt hatte. Schlegel war damals trotz seines jugendlichen Alters (er war nur fünfundzwanzig Jahre alt und jünger als Dorothea) in den literarischen Kreisen als Entdecker neuer Pfade in der Poesie und als enfant terrible — hatte er doch in einer Kritik Schiller angegriffen — berühmt. Zwischen dem deutschen Ritter der Romantik und der Tochter des jüdischen Philosophen entstand ein intimes Verhältnis, das die Verliebten gar nicht verheimlichten. Dorothea verließ das Haus ihres Gatten und zog zu Schlegel. Durch Vermittlung der Henriette Herz erwirkte sie von ihrem Manne die Scheidung; und Simon Veit war so großmütig, dass er ihr sogar die Kinder überließ und allen eine Rente aussetzte. Bald darauf wurde die ganze literarische Welt durch das Erscheinen des Schlegelschen Romans „Lucinde“ (1799) skandalisiert, eines Evangeliums der Erotik und der zügellosen Sinnlichkeit, in dem der Autor die intimsten Einzelheiten seines Ehelebens enthüllte. Diese Predigt raffiniertester Genusssucht, Müßigkeit und „unzüchtigen Nichtigkeit“, die überdies künstlerisch schlecht war, fand bei der Kritik scharfe Verurteilung. Für den Autor traten nur wenige ein, darunter sein Freund Schleiermacher, der zur Verteidigung des schlechten Romans die anonymen „Vertraulichen Briefe über Lucinde“ veröffentlichte. Im Jahre 1801 schrieb auch Dorothea einen Roman — „Florentin“ — , der in der Stimmung der „Lucinde“ verwandt war, aber das sittliche Gefühl und den guten Geschmack viel weniger beleidigte. Das Schlegelsche Ehepaar führte ein unstetes Leben: es tauchte bald in Berlin, bald in Jena, Dresden, Leipzig, Köln und Pans auf, wurde oft von der bürgerlichen Gesellschaft abgestoßen, und musste in bitterer Not leben. Dorothea nahm im Jahre 1804 den lutherischen Glauben an und ließ sich formell mit Friedrich trauen. Nach einigen Jahren traten die beiden Ehegatten unter dem Einflüsse der romantischen „Rückkehr ins Mittelalter“ zum Katholizismus über und ließen sich für dauernd in Wien nieder (1808), wo Schlegel einen Posten an der österreichischen Hofkanzlei bekam. In Wien verbrachte Dorothea fast den ganzen Rest ihres Lebens und machte nur ab und zu Reisen nach Deutschland und Italien, um ihre Söhne, die beiden Maler Veit, die ebenfalls getauft waren, zu besuchen. Sie starb 1839 in Frankfurt, nachdem sie den Mann um zehn Jahre überlebt hatte. Auch ihre jüngere Schwester, Henriette Mendelssohn, die unverheiratet geblieben war und den Beruf einer Lehrerin ausübte, trat zum Katholizismus über. Der ältere Sohn Moses Mendelssohns, der Bankier Joseph, war bis zu seinem Tode (1848) Jude geblieben, aber der zweite Sohn, Abraham, und sämtliche Enkel Mendelssohns fielen vom Judentum ab. (Der berühmte Komponist Felix Mendelssohn-Bartholdy war der Sohn Abrahams, der mit seiner ganzen Familie zum Christentum übergetreten war.)

Auf eine so fatale Weise ging für das Judentum das Geschlecht des Urhebers der „Aufklärung“ verloren. Die erste Berührung der gebildeten jüdischen Gesellschaft mit der christlichen war für die erstere unheilvoll. Dieser Triumphzug des Renegatentums wurde von den Frauen eröffnet, die schon infolge ihrer Erziehung weniger mit der Kultur und den Traditionen ihres Volkes zusammenhingen und der Anziehungskraft der Romantik nicht widerstehen konnten. Neben Henriette Herz und Dorothea Mendelssohn ist noch der Name einer dritten hochbegabten Frau zu nennen, die durch die deutsche Kultur der jüdischen geraubt worden war. Rahel Lewin (1771 — 1833), die Tochter eines Berliner Juweliers, hatte sich die Ideologie der Sturm- und Drangperiode viel tiefer und bewusster angeeignet als ihre beiden obengenannten Freundinnen. Sie stand ganz im Banne der individualistischen Lebensanschauung Goethes, den sie persönlich kannte und dessen Werke sie wie nur wenige in Deutschland verstand. Nicht durch ihr Äußeres, das bescheiden und unansehnlich war, sondern durch ihren scharfen und tiefen, beinahe männlichen Geist zog sie die Vertreter der denkenden deutschen Gesellschaft an. Ihr „Dachstubensalon“ im Mezzanin des Hauses ihres Vaters zu Berlin wurde von den meisten deutschen Dichtern und Politikern wie auch von zugereisten Berühmtheiten (z. B. der Frau von Staël) besucht. Rahel selbst schrieb nur wenig, besaß aber die Fähigkeit, andere zur schöpferischen Tätigkeit anzuregen und in dem Kreise, wo sie die Geister beherrschte, bedeutende Männer zu erziehen. Nach einer Reihe von Liebeleien heiratete Rahel, schon im reiferen Alter, ihren Freund, den preußischen Diplomaten und Schriftsteller Varnhagen von Ense und trat zum Christentum über. Nichts verband sie bewusst mit dem von ihr verlassenen Volke, obwohl diese Losgerissenheit sie zuweilen auf traurige Gedanken brachte. „Ich habe solche Phantasie, als wenn ein außerirdisch Wesen, wie ich in diese Welt getrieben wurde, mir beim Eingang diese Worte mit einem Dolch ins Herz gestoßen hätte: ,Ja, habe Empfindung, sieh die Welt, wie sie wenige sehen, sei groß und edel, ein ewiges Denken kann ich dir auch nicht nehmen. Eins hat man aber vergessen; sei eine Jüdin!? und nun ist mein ganzes Leben eine Verblutung.“ Dieses schmerzvolle Gefühl der Losgerissenheit und des seelischen Zwiespaltes äußerte sich aber im Leben Rahels fast gar nicht: bis zu ihrem Lebensende teilte sie die Freuden und Leiden des deutschen Volkes, seine patriotischen Wallungen während der Napoleonischen Kriege und über alles die Interessen der deutschen Literatur, deren zahlreiche Vertreter zu den Besuchern des Varnhagenschen Salons gehörten. Erst in ihrer Sterbestunde erinnerte sich Rahel ihres Volkes und sprach die ekstatischen Worte: „Mit erhabenem Entzücken denke ich an meinen Ursprung und an den Zusammenhang der Geschichte, durch welches die ältesten Erinnerungen des Menschengeschlechtes mit der neuesten Lage der Dinge durch Zeit und Raumesferne verbunden sind. Ich, eine Flüchtige aus Ägypten, bin hier und finde Hilfe. Was zeit meines Lebens meine größte Schmach war, möchte ich jetzt um keinen Preis missen.“

Zeugen diese Worte von einer späten Reue einer sehendgewordenen Seele? Kaum. Die treue Schülerin der literarischen Propheten Deutschlands war dem Geiste der alten Propheten ihres eigenen Volkes völlig entfremdet. Das gesellschaftliche Milieu, aus dem Rahel und die „neuen Menschen“ ihrer Art ihre Ideale schöpften, war von einer Antipathie gegen das Judentum und seine höchsten geistigen Schätze durchdrungen. Der Auferwecker des hellenischen Asthetizismus, Goethe, war im tiefsten Wesen seiner Weltanschauung dem ethischen Judaismus feindlich gesinnt, und nicht umsonst schließt er aus der Gemeinschaft der „schönen Seelen“ (im „Wilhelm Meister“) die Juden aus, die „den Ursprung der höchsten Kultur verleugnen“. Der politisch-konservative Goethe war überzeugter Gegner der bürgerlichen Emanzipation der Juden. Er betrachtete die Judenfrage vom Standpunkte seiner Standesgenossen, der Frankfurter Patrizier, aus, die einen ruhmlosen Kampf gegen die Emanzipation führten (siehe weiter § 33). Die andere Säule der damaligen Literatur, der nationalistische Philosoph Fichte, predigte (in seinem Buche von der französischen Revolution, 1793) grimmigen Judenhass. Im Judentum sah er einen „durch alle Länder verbreiteten, feindselig gesinnten Staat, der mit allen übrigen im beständigen Kriege steht“. Es sei gefährlich, die Bürgerrechte solchen Menschen zu geben, die „von uns verschiedene Sittengesetze haben“. „Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahinzuschicken.“ Ebenso dachte von den Juden auch Schleiermacher, der intime Freund und Seelenretter schöner jüdischer Damen. Die neue jüdische Intelligenz, die von den Idealen aller dieser Beherrscher der Gedanken lebte, eignete sich auch Verachtung gegen ihr eigenes Volk an und hielt zuweilen, gleich Rahel, die Zugehörigkeit zu diesem Volke für die größte Schmach.

So begann die Epidemie der Taufen. Die Seuche drang allmählich auch in die mittleren und tieferen Schichten der jüdischen Gesellschaft ein. Man ließ sich taufen, um „der deutschen Kultur teilhaftig zu werden“, um einen Christen oder eine Christin zu heiraten, Karriere zu machen und der Rechtlosigkeit oder der lästigen Bevormundung zu entgehen. Junge Männer und Frauen aus den mittleren und niederen Schichten der jüdischen Gesellschaft kamen massenweise aus der Provinz nach Berlin und gaben sich hier Zerstreuungen und zügellosem Lebensgenuss hin. Als die Vorsteher der jüdischen Gemeinden von ihrem Rechte Gebrauch machten und der ausgelassenen Jugend Strafen zudiktierten, drohten die „Freidenker“, sich taufen zu lassen, was sie oft auch wirklich taten, um die Bevormundung durch die Gemeinde abzuschütteln. Nun erwirkten die Berliner Gemeindeältesten von der Behörde einen Erlass, der den Kindern und Dienstboten verbot, sich ohne Genehmigung der Eltern und der Dienstherrschaften taufen zu lassen und vorschrieb, die zugereisten Täuflinge aus Berlin auszuweisen. Die meisten Taufen gab es in Berlin, aber diese „Mode“ kam dann auch in den anderen Städten, wie Königsberg und Breslau, auf. Die Preußische Regierung wurde endlich auf die übermäßige Bereicherung der Kirche durch zweifelhafte Neophyten aufmerksam und beschloss, eine Kontrolle einzuführen. Im Jahre 1810 wurde es den Pastoren durch einen königlichen Erlass untersagt, Juden ohne eine schriftliche Bestätigung der Ortspolizeibehörde über die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten zu taufen.

Mit tiefer Trauer sahen dieser Epidemie diejenigen zu, die gleich Mendelssohn nach Assimilation strebten und die Schwelle der Kirche beinahe erreicht hatten, sie aber nicht zu übertreten wagten. Ein Schüler Mendelssohns, der Direktor der jüdischen „Freischule“ zu Berlin, Lazarus Bendavid (1762 — 1832), suchte diese Massenflucht aus dem jüdischen Lager damit zu erklären, dass die Formen des Judentums veraltet seien und nach Erneuerung verlangten. Man dürfe die Proselyten nicht dafür tadeln, dass sie die laute und lustige Kirche der verlassenen und langweiligen Synagoge vorziehen. Dieser Vorläufer der Reformisten beurteilte überhaupt die jüdische Gesellschaft seiner Zeit sehr pessimistisch. In seinem Büchlein: „Etwas zur Charakteristik der Juden“ (1793) teilt er das jüdische Volk in vier Klassen ein: 1. Die Rechtgläubigen, die in den religiösen Riten versteinert sind, sich aber oft durch hohe Moral auszeichnen; diese sind eine aussterbende Klasse, die sich dem Geiste der Zeit nicht anpassen kann; 2. die Wüstlinge, gewöhnlich Kinder reicher Eltern, die nur an die Befriedigung ihrer Gelüste denken, die elementarsten Moralgesetze verletzen, oft zum Christentum übertreten, aber von den Christen verachtet werden; 3. die Halbgebildeten, die die Unzulänglichkeit der alten Ordnung ahnen und daher von den Rechtgläubigen verketzert werden; 4. die Gebildeten, die „gleich weit vom Judentum und vom Indifferentismus entfernt sind“. Diese letztere Gruppe sei berufen, das Judentum durch die Wiederherstellung der „reinen Religion“ Mosis und durch die Beseitigung aller historischen Auswüchse zu reformieren . . . Bendavid, der sonst solider Philosoph der Kantischen Schule war (er veröffentlichte mehrere Beiträge zur Erkenntnistheorie), war ein schlechter Historiker: für ihn war die ganze jüdische Geschichte der letzten siebzehn Jahrhunderte von einem undurchdringlichen Dunkel umhüllt; darum erschien ihm die ganze Entwicklung des Judaismus nur als ein sinnloser Prozess einer Anhäufung von Gebräuchen und Aberglauben. Die Idee der Entwicklung einer lebendigen Nation im Wechsel der sozialen und geistigen Formen war ihm ebenso fremd wie allen beschränkten Rationalisten.

Halbbildung, Oberflächlichkeit, geistiger Libertinismus waren die charakteristischen Züge jener mittleren Gesellschaftsschichten, in denen die blinde Zerstörung aller historischer Grundlagen als eine Heldentat und als Zeichen guten Tones angesehen wurde. Die „Berliner Mode“ herrschte wie in den Ideen so auch in der Kleidung. Putzsucht und Freidenkertum gingen Hand in Hand. Die Nachfolger Mendelssohns waren viel zu unbedeutend, um gegen die fortschreitende Auflösung anzukämpfen . Ihre Kraft reichte eben nur dazu aus, um in Berlin und in Königsberg einen Jugendbund unter dem Namen „Gesellschaft der Freunde“ zu gründen, die den Zusammenschluss der gemäßigten Elemente der jüdischen Gesellschaft im Namen des Ideals der „Aufklärung“ bezweckte (1792). An der Spitze dieser Organisation standen der älteste Sohn Mendelssohns, Joseph, und Mendelssohns Schüler und Biograph, Isaak Euchel. Die „Gesellschaft“ hatte sich zur Devise die Mendelssohnschen Worte gemacht: „Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste tun.“ Sie verhielt sich gleich ablehnend gegen die Orthodoxie wie gegen das Renegatentum, hatte aber selbst keine bestimmte Richtung. Die einzige von ihr durchgesetzte Reform bestand in der Abschaffung der Sitte, die Verstorbenen möglichst früh zu beerdigen. Die Tätigkeit der Gesellschaft beschränkte sich fast ausschließlich auf gegenseitige materielle Hilfe. Diese rein klubmäßige Organisation, die einige Jahrzehnte bestand, trug gar nichts zum geistigen Leben bei. Viel zu groß war die seelische Verwüstung in dieser Übergangsgeneration, als dass sie etwas Positives hätte schaffen können; viel zu spärlich waren die schöpferischen Kräfte im Zeitalter allgemeiner Zerstörung. Erst später, nachdem die akute Krise überstanden war, nahm der jüdische Geist seine unterbrochene schöpferische Arbeit wieder auf.