§ 30. Der Versuch eines religiösen Kompromisses im Kampfe für die Gleichberechtigung; die judenfeindliche Literatur

Das auf der jüdischen Masse lastende Regime der Entrechtung wurde von der jüdischen Intelligenz, die in ihrem Denken und ihrer Lebensweise der gebildeten christlichen Gesellschaft näher stand als den jüdischen Massen, doppelt schwer und schmerzlich empfunden. Die germanisierten Spitzen der Berliner Judenheit erblickten darin, dass man sie als einen Bestandteil der „ungebildeten“ Masse betrachtete, indem man sie derselben bürgerlichen Versklavung unterwarf, eine persönliche Beleidigung. Die Vertreter dieser Kreise bemühten sich, bei der Regierung Verständnis für die tragische Lage der gebildeten Halbdeutschen wachzurufen, aber alle ihre Anstrengungen blieben fruchtlos. In seiner Antwort auf eines der von den Berliner Gemeindeältesten — Itzig, Friedländer u. a. — eingereichten Gesuche, legte das Generaldirektorium folgende prinzipielle Stellungnahme zur jüdischen Frage nieder (1798): die Regierung sei sich dessen wohl bewusst, dass die Gesetzgebung über die Juden eine ,,gewisse Härte“ enthalte und dass man „zur Ehre der Menschheit“ einige Rechtsbeschränkungen aufheben sollte; die Regierung könne jedoch bei ihrem besten Willen nicht nach ihrer besseren Einsicht handeln, da diese Gesetze mit einem ganzen politischen System in Zusammenhang stehen, dessen Aufgabe es sei, die christliche Bevölkerung vor all jenen ,,Inkonvenienzen zu sichern“ und Unannehmlichkeiten zu schützen, die mit einer etwaigen Erteilung bürgerlicher Rechte an die „jüdische Nation“ angesichts ihrer Absonderungstendenzen, ihres „Nationalhasses“, der Hierarchie und der Art ihrer Erziehung, entstehen würden. Die Regierung sehe sich daher genötigt, selbst auf die Gefahr hin, dass mit dem einfachen Volke auch die Gebildeten zu leiden haben, vorerst alles beim alten zu lassen, bis „eine allgemeine Verbesserung erfolgt“, dann erst werde man zu einer „soliden Reform“ greifen, um die Juden „zur vollständigen Gleichsetzung mit den übrigen Staatsbürgern zu qualifizieren“.

Mit einem derartigen Zustande konnten sich aber die assimilierten Juden Berlins unmöglich abfinden. In diesen Kreisen begann ein niederträchtiger Gedanke heranzureifen: wenn es unmöglich sei, die Gleichberechtigung für das gesamte Volk zu erreichen, so müsse man sie eben für alle jene „Würdigen“ zu erringen suchen, die der nationalen Absonderung und den „religiösen Vorurteilen“ bereits entsagt haben. Und nun beschloss eine Gruppe von Personen, an deren Spitze der Vertreter der Berliner Gemeinde, der Schüler Mendelssohns, David Friedländer, stand, sich an die öffentliche Meinung zu wenden. Zu Beginn des Jahres 1799 erschien in Berlin eine anonyme Broschüre unter dem Titel: „Sendschreiben an Seine Hoch würden, Herrn Oberkonsistorialrat und Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdischer Religion.“ Pastor Teller war damals in Berlin als Vertreter eines liberalen Protestantismus bekannt, und die Verfasser des „Sendschreibens“ wandten sich an ihn mit der Bitte, die sie aufs tiefste erregende Gewissensfrage zu lösen. Die anonymen Autoren bekennen etwa folgendes: Wir haben schon längst eine bestimmte Position zwischen den beiden Extremen eingenommen: dem blinden Glauben der Anhänger des Talmuds und dem modernen Unglauben der Jugend; wir anerkennen die Grundwahrheiten einer jeden Religion: die Einheit Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und das Streben nach sittlicher Vollkommenheit. Moses und Christus haben diese Prinzipien ihren Religionen zugrunde gelegt, dann aber sind beide Religionen von ihren Urgründen abgewichen: das Judentum verfiel in den rituellen Formalismus, das Christentum — in mystischen Dogmatismus. Die jüdischen Gebräuche hindern uns wirklich an der Erfüllung unserer Bürgerpflichten, und wir müssen, dem Glück unserer Nachkommen zuliebe, das Joch der Riten vor uns werfen. Wir können aber auch nicht ohne weiteres zum Christentum übertreten, weil uns dabei seine Dogmen, seine ,,Geschichtswahrheiten“, die unseren „Vernunftwahrheiten“ widersprechen, im Wege sind. Wir können z. B. unmöglich ohne Heuchelei das Dogma vom Sohne Gottes im kirchlichen Sinne hinnehmen. „Wir sind nunmehr am Ziele, ehrwürdiger Menschenfreund,“ wenden sich die Verfasser an Teller, „wo wir Sie dringend auffordern müssen, uns Ihren Rat nicht zu versagen. Pflicht und Gewissen fordern von uns, dass wir unseren bürgerlichen Zustand durch Reinigung unserer religiösen Verfassung verbessern, aber auch schlechterdings nicht auf Kosten der Wahrheit und der Tugend unsere Glückseligkeit erkaufen oder erschleichen sollen. Wir sehen, dass viele aus unserer Mitte sich leichtsinnig in den Schoß der Kirche werfen: ein paar Worte erretten sie vor Rechtlosigkeit; die Vermehrung solcher Neophyten kann aber einen verständigen Menschen nicht freuen . . . Belehren Sie uns, edler Tugendfreund: wenn wir uns entschließen sollten, die große christliche protestantische Gesellschaft zum Zufluchtsorte zu erwählen, welches öffentliche Bekenntnis würden Sie, würden die Männer, die mit Ihnen in dem ehrwürdigen Rate sitzen, von uns fordern?“ —


„. . . Unsere Zahl ist sehr klein, aber wir hoffen, dass noch eine namhafte Zahl von Hausvätern unserem Beispiele folgen wird. Wir leugnen nicht, „dass unser Ziel mit dahin geht, durch unsere Erklärung die Rechte von Staatsbürgern zu erlangen“. Aber wir fürchten, dass wir unser Ziel nicht erreichen, dass wir nur „ein Mittelding zwischen Juden und Christen“ bleiben und in die christliche Gesellschaft nicht aufgenommen werden. „Schreibt die Religion der Protestanten gewisse Zeremonien vor, so können wir uns diesen als bloßen Formen, die zur Aufnahme in eine Gesellschaft erfordert werden, wohl unterwerfen; wohlverstanden, dass diese Zeremonien nur als Handlungen, als Gebräuche gefordert werden, um zu beurkunden, dass das aufgenommene Mitglied die ewigen Wahrheiten angenommen und sich den daraus fließenden Pflichten als Mensch und Staatsbürger unterwirft; nicht aber als Zeichen, dass derjenige, der sie vollzieht, eingesteht, er nehme die Dogmen der Kirche dieser Gesellschaft gläubig an.“

Und so trafen einige Bedrängte im jüdischen Lager alle Anstalten in das ihrer Feinde überzugehen, indem sie sich dabei hinter verschiedene Klauseln versteckten und von den Bedrängern nur minder demütigende Kapitulationsbedingungen zu erreichen suchten. Für die Berliner war es kein Geheimnis, dass der Verfasser des „Sendschreibens an Teller“ kein anderer als David Friedländer war, und dieser Umstand trug nur dazu bei, das Interesse an der Broschüre zu steigern. Ein Vertreter der fortschrittlich gesinnten Judenheit, ein Nachfolger Mendelssohns, ein Mitglied des jüdischen Gemeinderats zu Berlin, tritt im Namen seiner Gesinnungsgenossen als Vermittler zwischen Judentum und Christentum auf — welch bedeutsame Erscheinung! . . . Teller ließ nicht lange auf sich warten. Er veröffentlichte eine „Beantwortung des Sendschreibens einiger Hausväter jüdischer Religion“, in der er die von einer jüdischen Gruppe abgegebenen Erklärungen über ihre Lossagung von den Riten der jüdischen Religion begrüßt, sich aber dann sofort als Missionar aufspielt: Ihr seid nicht mehr gegen Christus, also seid ihr für ihn. Warum solltet ihr nun nicht auch „das kirchliche Ansehen derer haben, die nach seinem Namen genannt sind? Wer vermag es zu entscheiden, ob es nicht der Plan des Ewigen sei, Sie dazu zu brauchen? . . .“ Ihr sagt, ihr könnt das christliche Dogma vom Sohne Gottes nicht annehmen, aber dass ihr „kein Mittelding zwischen Juden und Christen“ sein wollet. Um aber Christen zu sein, müsst ihr wenigstens Taufe und Abendmahl anerkennen und von der „Geschichtswahrheit“ ausgehen, dass Christus der Stifter der besseren moralischen Religion war . . . Ich kann auch nur die „Lehrmeinungen“, aber nicht die „Grundlehren“ freistellen . . . „Dies alles ist nur mein Privaturteil. Wie viele oder wie wenige unter meinen Mitbrüdern ihm beitreten möchten, weiß ich nicht.“ Was aber die Beantwortung der Frage betrifft, „was und wieweit von bürgerlichen Rechten und Freiheiten ein christlicher Staat Ihnen auf solches Bekenntnis einzuräumen für sich ratsam finden möchte — gehört für ein ganz anderes Forum“. Denn im Protestantismus ist die Kirche dem Staate untergeordnet, und der letztere darf der einen oder anderen Sekte, selbst einer christlichen, die Gleichberechtigung versagen.

Um diese öffentliche Erörterung der Kapitulation des Judentums entbrannte ein heftiger und lärmender Streit. In christlichen Kreisen sprach man ironisch von einer „trockenen“, einer „wasserlosen“ Taufe, zu der die Juden bereit seien. Die Verfasser des Sendschreibens wurden aufgefordert, in der einmal eingeschlagenen Richtung fortzuschreiten, bis sie die Schwelle der Kirche erreichen. Der klerikale Professor an der Universität Göttingen du Luc entrüstete sich in seinem „Brief an die jüdischen Verfasser“ über deren philosophischen Rationalismus, deren Glauben an den „Fortschritt“ und an die falsche und aberwitzige Idee der Menschenrechte; nach Ansicht des Professors stammte das alles von Mendelssohn und gereiche sowohl dem Judentum wie dem Christentum zum Schaden. Ein anderer Verfasser kommentiert in der Broschüre ,,Moses und Christus“ wohlwollend das „den edlen Geist Mendelssohns“ atmende „Sendschreiben“ und ermuntert die Verfasser zu weiteren Schritten in dieser Richtung, ganz in der christlichen Gesellschaft aufzugehen. „Lasst uns zusammen durch das Tor des Christentums in die Religion der Vernunft treten.“ Auch „unser edler Fürst“ — fügt der anonyme Autor hinzu — wird daran nicht achtlos vorübergehen.

Aus dem Dutzend der um jene Zeit anlässlich des „Sendschreibens“ in Berlin erschienenen Broschüren, verdienen die „Briefe eines Predigers außerhalb Berlins“ eine besondere Beachtung. Dieser „Prediger“ war niemand anders als der christliche Modetheologe Friedrich Schleiermacher, der Verfasser der „Reden über Religion“, der Liebling der Berliner jüdischen Salons, zugleich aber prinzipieller Gegner des Judentums. Dem jüdischen „Sendschreiben“ misst er keine Bedeutung bei: es sei dies einfach ein pompöser Versuch, die bürgerliche Lage der Juden zu verbessern. Eine derartige Praktik müsse alle diejenigen jüdischen Männer aufs tiefste betrüben, die früher mit anderen Mitteln für die Gleichberechtigung gekämpft haben. Schleiermacher, der den Namen des Verfassers nicht kannte (oder bloß so tat), rief aus: „Wie tief verwundet muss besonders der treffliche Friedländer sein! Ich bin begierig darauf, ob er nicht seine Stimme gegen diesen Verrat an der besseren Sache erheben wird, er, ein echterer Anhänger Mendelssohns als dieser hier!“ Unschön ist, sagt Schleiermacher, dieses Streben zur neuen Religion, das nur von praktischen Erwägungen diktiert ist. Diese Religion wechsele heutzutage wie der Kurs, und es gäbe Juden, die bereit wären, „ihre Kinder zugleich taufen und beschneiden zu lassen“. Auch die Taufwut, die sich der jüdischen Gesellschaft bemächtigte, macht dem Verfasser keine Freude:

es sei „ein Christentum ohne Christus“. In die christliche Gesellschaft treten Ungläubige ein, die in den Schoß der Kirche lediglich durch politischen Druck hineingedrängt werden; der Kirche drohte die Gefahr, mit einem „Judenchristentum“ angesteckt zu werden. Zur Vermeidung dieser Gefahr müsse die Kirche die Regierung zu veranlassen suchen, den Juden alles, was sie zu solcher Heuchelei bewegt, aus dem Wege zu räumen und wenigstens ihren Kindern irgendwelche Bürgerrechte zu gewähren, um deren Zukunft die „Väter“ (die Verfasser des Sendschreibens) dermaßen besorgt sind, dass sie sich bereit erklären, ihre religiösen Überzeugungen preiszugeben. Was die volle bürgerliche „Naturalisierung“ der Juden anbetrifft, so hält sie Schleiermacher so lange für ausgeschlossen, solange die Juden eine besondere Nation bilden, die ihre eigenen Gesetze hat und von der Ankunft des Messias träumt.

Wie war es Friedländer wohl zumute, als er diesen Schlag von der Hand eines vermummten Freundes erhalten hatte? Auf der einen Seite — Pastor Teller, der von denen, die der Kirche nur einen Finger hingestreckt hatten, die ganze Hand forderte; auf der anderen Seite — ein christlicher Philosoph, der diesen Kompromiss mit dem Gewissen mit scharfen Worten geißelte. Erinnerte sich Friedländer daran, dass er vor neun Jahren das in Gestalt des „Reformentwurfes“ den Juden hingeworfene demütigende Almosen stolz zurückgewiesen und die Würde seines Volkes, die er jetzt unter dem Deckmantel einer Gruppe so roh mit Füßen trat, verteidigt hatte ? . . . Er schwieg. Irgend etwas, was im Schüler vom geistigen Erbe des Lehrers erhalten geblieben war (und Mendelssohn hasste das Renegatentum), hielt ihn Von weiteren skandalösen Schritten zurück. Der Versuch, eine jüdisch-christliche Sekte zwecks Erlangung bürgerlicher Rechte zu gründen, scheiterte. Es fanden sich aber mutigere und entschlossene Menschen, Personen, die ohne viel Federlesens zu machen, den kürzesten Weg wählten: in den oberen Schichten der jüdischen Gesellschaft entwickelte sich eine Taufepidemie, und diesmal waren es echte Taufen, ganz ohne Vorbehalte und Gewissensbisse.

Die „Hausväter“ aus dem Friedländerschen Kreise konnten sich bald überzeugen, dass der Hass gegen die Juden nicht nur auf den Widersprüchen zwischen Judentum und Christentum beruhte. Im Jahre 1803 brach in Preußen eine noch nie dagewesene judenfeindliche Agitation aus, die weniger auf der Abgeschlossenheit der Juden, als auf der Angst vor ihrem Eindringen in die christliche Gesellschaft beruhte. Der Anführer im literarischen Feldzuge gegen die Juden war ein kleiner Berliner Gerichtsbeamter, der minderwertige Agitator Grattenauer. Hinter ihm standen anscheinend die konservativklerikalen Kreise der deutschen Gesellschaft, die schon seit langer Zeit mit Unruhe den hartnäckigen Kampf der Juden für die Gleichberechtigung und insbesondere ihren Verkehr mit der liberalen Gruppe der preußischen Aristokratie in den vornehmen Berliner jüdischen Salons verfolgten. Grattenauer veröffentlichte ein scharfes Pamphlet „Wider die Juden“ (1803), in dem er nachwies, dass es schmachvoll sei, mit den Juden Umgang zu pflegen, dass die Gleichberechtigung sie nicht bessern könne, weil zwischen ihnen und den Christen ein Abgrund liege; die Juden seien in ihrer Masse widerlich, ihre „elegante“ Jugend bestehe aus Gottlosen, Stutzern und Verschwendern; ihre Salondamen seien unerzogen, obwohl sie mit deutschen Fürsten und Grafen verkehrten; die Juden müssen den Stempel der Verachtung tragen: man müsse sie wieder zum Tragen des mittelalterlichen gelben Abzeichens an der Kleidung verpflichten, damit man sie wie die Pest fliehen könne.

Das in der rohen Sprache der Straße abgefasste Pamphlet Grattenauers hatte eine zündende Wirkung. In kurzer Zeit erschien es in sechs Auflagen und 13.000 Exemplaren. Die Vertreter der Berliner Judenschaft hielten es anfangs nicht für notwendig, gegen Grattenauer vorzugehen, und nur einzelne Personen nahmen an ihm Rache: ein Jude gab ihm einmal öffentlich eine Ohrfeige, und seine Gläubiger übergaben seine Wechsel dem Gerichtsvollzieher. Dies versetzte den Agitator in noch größere Wut. Er veröffentlichte einen Nachtrag zu seiner Broschüre, in dem er sich stolz „Haman“ nannte und die Leser leidenschaftlich zu einer Judenhetze aufrief. Ihm antwortete der christliche Professor Kosmann mit einer „Für die Juden“ betitelten Broschüre. Der Verteidiger der Juden beging aber die Unvorsichtigkeit, auf dem Titel seines Buches die Widmung: „Den Ältesten der Berliner Judenschaft und allen guten Menschen ohne Unterschied der Religion“ anzubringen, was viele auf den Gedanken bringen konnte, dass seine Verteidigungsschrift von interessierter Seite inspiriert sei. Die Apologie Kosmanns war außerdem recht schwach, und in Berlin sagte man im Scherz, dass sie für die jüdische Sache gefährlicher sei als der Angriff Grattenauers. Man verbreitete sogar ein Epigramm, in dem der Jude spricht:

A Grattenauer hat mich beleidigt, — es sei!
A Kosmann hat mich verteidigt, — ai wai!


Der Büchermarkt war wieder mit Flugschriften für und wider die Juden überschwemmt. Die sich für „Gelehrte“ ausgebenden Paalzow und Buchholz*) wiesen auf Grund der Geschichte und der Lehre der Juden die Minderwertigkeit dieses Volkes und die Unmöglichkeit, es in einem christlichen Staate zu dulden, nach. Paalzow erfand das Märchen, dass die Juden 280 Tage im Jahre feiern und folglich ein Volk von Müßiggängern sei. Buchholz wunderte sich, dass Lessing mit Mendelssohn Freundschaft gepflogen habe: eine Freundschaft zwischen einem Deutschen, dem Vertreter des vollkommenen Christentums, und dem Juden, der sich zu einer „viehischen Religion“ bekenne, sei doch unmöglich. Die ganze Judenfrage ginge nur darauf hinaus, wie man die Christen vor den Juden schützen könne; diese Ruchlosen müsse man zum Militärdienst verpflichten und in die Strafbataillons stecken.

Als die Ältesten der Berliner Gemeinde sahen, dass die Polemik den Charakter einer gefährlichen Hetze annahm, erwirkten sie bei der Behörde einen Erlass, der der Zensur vorschrieb, keine weiteren Veröffentlichungen für und wider die Juden zuzulassen, da diese Polemik zu einem „Unfug“ ausgeartet sei. Grattenauer wandte sich mit einer Beschwerde an den Kanzler und sogar an den König: man beraube ihn der Freiheit des Wortes, ihn, der Deutschland von den Juden, die „nicht mit uns, sondern von uns leben“, retten wolle; er werde aber seine Angriffe fortsetzen, in denen er „wesentliche Dienste dem Staate“ erblicke. Die Beschwerde dieses literarischen Pogromhelden blieb unbeachtet.

*) Die Titel der wichtigsten Werke der damaligen polemischen Literatur sind in den Anmerkungen am Schlüsse dieses Bandes verzeichnet.

Infolge des Zensurverbotes wurde die Polemik nun außerhalb Berlins fortgesetzt. In der Provinz traten einige gebildete Juden zur Verteidigung ihres Volkes auf und machten die verschiedensten, zuweilen recht naive Vorschläge zur Lösung der Judenfrage. Ein Königsberger Jude empfahl ein patentiertes Mittel: Mischehen mit Christen; ein anderer warnte dagegen die Töchter Israels vor dem Verkehr mit den Stammesgenossen Grattenauers. Der Breslauer Lehrer und Schriftsteller (Mitarbeiter der Zeitschrift „Meassef“), Aaron Wolfsohn, veröffentlichte eine Apologie des Judentums: „Jeschurun, oder unparteiliche Beleuchtung der dem Judentume neuerdings gemachten Vorwürfe, in Briefen,“ (Breslau 1804). Die „Unparteilichkeit“ des Autors bestand darin, dass er der Regierung empfahl, das ganze Leben der Juden zu reformieren und den Talmud und die ganze rabbinische Literatur zu zensurieren und von veralteten Aussprüchen zu „säubern“. Viel klüger als die Apologeten schrieben die Satyriker. Ein jüdischer Schriftsteller veröffentlichte unter dem Pseudonym Epiphanes zu Königsberg eine Broschüre, deren Titel für den ganzen Inhalt bezeichnend ist: ,,Unumstößlicher Beweis, dass ohne die schleunige Niedermetzelung aller Juden und den Verkauf aller Jüdinnen zur Sklaverei, die Welt, die Menschheit, das Christentum und alle Staaten notwendig untergehen müssen, ein Sendschreiben an Herrn Justizcommissarius Grattenauer von Dominicus Hamann Epiphanes, dem Judenfeind“ (1804). Eine heftige Abfuhr den Judenfeinden gab ein gewisser S. J. Lefrank aus Hamburg in der Broschüre: „Bellerophon, oder der geschlagene Grattenauer nebst einer Dedikazion an den Teufel“ (1803). Lefrank wandte sich an Grattenauer in dessen eigener Sprache: „Du selbst verfeilschst elende Lügen und boshafte Tücke auf Löschpapier gedruckt für sechs Groschen und du kannst behaupten: Betrug sei nur ein eigentümliches Laster der Juden ? . . . Du kannst es dem Juden nicht vergeben, dass er richtig deutsch spricht, dass er sich anständiger kleidet, dass er oft vernünftiger urteilt als du. Er hat nicht einmal einen Bart mehr, bei dem man ihn zupfen kann, er spricht nicht mehr kauderwelsch, dass du ihn nachäffen könntest . . .“ Der Verfasser behält aber nicht immer diesen anklagenden Ton, sondern wird stellenweise zu einem Apologeten, was dem Eindruck sehr schadet. Offenbar sieht er gar nicht ein, wie unpassend in der Polemik mit einem Gassenschreiber ein Satz wie der folgende ist: „Der Jude hat sich seit zwanzig Jahren Mühe gegeben, sich den Christen zu nähern, aber wie wurde er aufgenommen? Wie manche Eingriffe hat er schon in seine kanonischen Gesetze getan, um sie euch anzuschmiegen, aber — den Rücken kehrt ihr ihm zu aus lauter Humanität!“ Aus solchen Phrasen klingt der klägliche Ton verschmähter Liebe — ein trauriges Echo der Zeit, wo die jüdische Gesellschaft in Deutschland mit Eifer nationale Entpersönlichung betrieb, zum größeren Ruhme des deutschen Staatsbürgertums, das man ihr hartnäckig verweigerte.