§ 29. Preußen: Rechtlosigkeit und „Reformentwürfe“

In den Dezembertagen des Jahres 1789, als in der Pariser Nationalversammlung die Frage von der Anerkennung der Juden als „aktive Staatsbürger“ leidenschaftlich erörtert wurde, versuchten preußische Beamte zu Berlin die jüdische Frage in ihren Kanzleien zu lösen. Die Früchte der Arbeit der vom König Friedrich Wilhelm II. eingesetzten speziellen Kommission zur Milderung einiger Härten des judenfeindlichen „Reglements“ seines Vorgängers, des „großen“ Friedrich (siehe oben § 4), gelangten in diesem Augenblick zur Reife. Nach zweijährigen Betrachtungen und Untersuchungen verfasste die Regierungskommission einen Gesetzentwurf zur „Verbesserung der jüdischen Lage“, und das Generaldirektorium unterbreitete es dem Könige. Die alte Stufenleiter der „geduldeten“ — und „Schutzjuden“, deren ganzes Leben in einem Netze demütigender Rechtseinschränkungen verstrickt war, wurde von diesem Reformentwurfe nicht im geringsten angetastet. Aber er gewährte auch einige eigentümliche Erleichterungen und Zugeständnisse: die solidarische Haftung der Gemeindemitglieder bei der Entrichtung der Abgaben wurde abgeschafft, jedoch mit Beibehaltung aller ausschließlichen die jüdische Bevölkerung ruinierenden speziellen Abgaben und Steuern; den Juden wurde eine gewisse Handelsfreiheit gewährt, aber nur den Reichen und nur an solchen Orten, wo keine genügende Anzahl christlicher Kaufleute vorhanden war. Die Beschäftigung mit Ackerbau wurde ihnen gestattet, aber der Ankauf bebauter Grundstücke blieb nach wie vor unter strengem Verbot; Handwerke wurden ihnen freigestellt, doch nur solche, für die es keine Zünfte gab. Als Entgelt für alle diese Wohltaten wurde die Germanisierung sämtlicher in Deutschland ansässiger Juden verlangt: sie sollten im öffentlichen Leben sich der deutschen Sprache bedienen und in ihren Schulen christliche Lehrkräfte anstellen; dann und nur dann würde die jüdische Jugend mit der Zeit die große Ehre erleben, zum Militärdienst zugelassen zu werden. Zum Schlusse stellten es die Verfasser des Entwurfes den Juden in großmütiger Weise anheim, sich nicht „Juden“, sondern „Mosaisten“ oder ,,Deisten“ zu nennen; einige aufgeklärte Berliner hatten sich nämlich darum bemüht. Als das Generaldirektorium diesen Entwurf dem Könige überreichte, fügte es folgende Bemerkung hinzu: „Übrigens ist es höchst wahrscheinlich, dass in der dritten Generation, nach etwa 60 — 70 Jahren, die Juden in allen bis auf wenige, dem Staat ganz unschädliche und gleichgültige Religionsdifferenzen, den Christen durchaus gleich sein werden, und alsdann werden auch die noch bis dahin nötigen Einschränkungen gänzlich aufgehoben werden können.“

Zu Beginn des Jahres 1790 wurde dieser Kanzleientwurf den von der jüdischen Gemeinde zu Berlin und den anderen Städten bevollmächtigten „Delegierten“ zur Kenntnisnahme vorgelegt, auf deren Initiative hin die ganze Reform unternommen worden war. So wenig nun die jüdischen Vertreter von der reaktionären preußischen Regierung erwarteten, so mussten sie doch von einem Gesetzentwurf, der den Juden alle möglichen Begünstigungen erst im dritten Geschlechte in Aussicht stellte, aber die schmähliche Entrechtung in der Gegenwart nicht antastete, schmerzlich enttäuscht werden. Und nun gaben im Februar 1790 der bekannte Berliner David Friedländer, ein Schüler Mendelssohns, und andere Bevollmächtigte dem Generaldirektorium eine Erklärung ab, dass sie von ihren Gemeinden keine Vollmachten zur Übernahme irgendwelcher Verpflichtungen ohne die gründliche Aufräumung mit den bisherigen Rechtseinschränkungen erhalten hätten. Sie bitten um die Abschaffung aller Ausnahmegesetze, insbesondere auf dem Gebiete des Handels und des Gewerbes, und erklären sich mit den strengsten Maßregeln gegen jeden unehrlichen Schacher und Wucher einverstanden. Die Erklärung schließt mit folgenden feierlichen, der Feder Friedländers entstammenden und an die Regierung gerichteten Sätzen: „Es ist Zeit, dass uns die Fesseln abgenommen werden, die uns so lange beschweren. Wenigstens getrösten wir uns, dass Eine Hohe Landesregierung Ihrerseits Alles anwenden wird, den Unterschied, den die Verschiedenheit der Religion festgestellt hat, so viel wie möglich in Vergessenheit zu bringen. Dies kann aber nicht anders geschehen, als wenn wir in vollkommene Gleichheit mit anderen Untertanen gesetzt werden; wenn die Landesgesetze, bei Erwähnung des Namens Jude, seiner mit keiner Wegwerfung, oder auch nur mit Misstrauen in seine Moralität gedenken; mit einem Worte: wenn Eine Hohe Landesregierung es nicht unter Ihrer Würde hält, den Juden nicht allein mehr Nahrungsquellen zu eröffnen, sondern auch ihre bürgerliche Ehre wiederherzustellen . . . Sollte aber die allgerechte Vorsehung beschlossen haben, unsere Hoffnung zu täuschen, so müssen wir mit tiefgekränktem Herzen einen Wunsch äußern — einen schrecklichen Wunsch — , in den aber doch alle Mitglieder der Kolonie einstimmig werden, nämlich den, dass Ew. Königl. Majestät geruhen möchten, uns in der alten Verfassung zu lassen, ob wir gleich voraussehen, dass die Bürde dann von Tage zu Tage unerträglicher werden wird . . .“


Dies war eine stolze und schöne Kundgebung. Die Vertreter der Unterdrückten wiesen das von den Unterdrückern hingeworfene Almosen zurück. Das unter dem Uniformrock verstockte Herz der Beamten des Generaldirektoriums blieb jedoch von der Tragik dieses Verzichts vollständig unberührt. Ein Mitglied der „Reformkommission“ sagte sogar zu der Antwort der jüdischen Delegierten, es sei nur eine spitzfindige Sophistik und schöne, anmutige Deklamation . . . Die Seufzer der Entrechteten und ihre Worte, die von Selbstbewusstsein und Würde zeugten, muteten also die preußische Bureaukratie wie eine Deklamation an. Der „Reformentwurf“ wurde vom Beamtentum in aller Ruhe begraben, und während eines Zeitraumes von zwei Jahren kam die jüdische Frage nicht mehr aufs Tapet.

Die alte Ordnung blieb in ihrer ganzen Hässlichkeit bestehen. Noch im Jahre 1790 unterschrieb der König einen Erlass über die Normierung der jüdischen Bevölkerung in einem ihrer Hauptzentren, in Breslau. Bisher waren die jüdischen Einwohner Breslaus in Kategorien nach folgender absteigender Stufenleiter ihres Geduldetwerdens eingeteilt: Generalprivilegierte, Privilegierte, Geduldete, Fixentristen (von fix-entrée: Zugereiste, die bei ihrer Ankunft eine bestimmte Gebühr zu entrichten hatten), Schutzgenossen, Angestellte, Bediente und Fremde. Die Preußische Regierung erfuhr jedoch zu ihrem nicht geringen Schrecken, dass „eine große Anzahl (Juden) unter allerlei Vorwand seit einiger Zeit daselbst sich eingeschlichen haben, die zum Schaden der christlichen Kaufleute verschiedene ihnen nicht zustehende Gewerbe getrieben“. So heißt es in der königlichen Verordnung. Aus diesem Grunde setzt der König eine genaue Norm für die jüdische Bevölkerung von Breslau fest, und zwar auf 160 Familien. Die den genannten Kategorien zugewiesenen Familienhäupter werden als das gesetzliche Wohnrecht genießende „Schutzjuden“ anerkannt; was darüber hinausgeht, kann nur lebenslänglich geduldet werden. Aber auch diese vom Schicksal begünstigten Juden, die innerhalb der festgesetzten Norm verblieben, unterlagen pharaonischen Einschränkungen im Punkte der natürlichen Vermehrung, damit die Norm nicht überschritten werde. Jedem Schutzjuden stand es frei, nur einen einzigen seiner Söhne zu verheiraten, denjenigen nämlich, der seine „Familiennummer“ erbte; was die anderen Söhne betrifft, so durften sie nur unter den folgenden zwei Bedingungen verheiratet werden: wenn sie aus Breslau nach einem anderen Orte übersiedelten oder wenn die Braut über eine vakante Nummer von den 160 verfügte. Es folgen des ferneren zahlreiche subtile Vorschriften, die die Schwankungen des Familienbestandes innerhalb der Grenzen der fatalen ,,Norm“, die vorübergehende Zulassung „überzähliger“ Juden, die speziellen Abgaben, den Tätigkeitsbereich der einem besonderen Polizeikommissar unterstellten Gemeindeältesten u. dgl. m. zu regeln suchen. Dieser königliche Erlass wurde zu jener Zeit als recht „müde“ angesehen, da er einige Härten im Reglement Friedrichs II. beseitigte, und der König hielt sich für berechtigt, in der Einleitung zu seinem Erlass die Sorge um „das Glück und die Wohlfahrt eines jeden Unserer Untertanen“, zu denen „auch die zur jüdischen Religion sich Bekennenden“ gehören, hervorzuheben. Aber gleich darauf macht er den Vorbehalt: „Ob Wir nun zwar wünschen, diese Nation den übrigen Staatsbürgern völlig gleich zu machen, und sie an allen Rechten der Bürger teilnehmen zu lassen, so stehen diesem Unserm Vorsatze doch Hindernisse entgegen, welche zum Teil in ihren religiösen Gebräuchen, zum Teil in ihrer ganzen Verfassung liegen, und die gänzliche Ausführung, wenigstens vor der Hand, noch unmöglich machen.“

So war die Hölle des jüdischen Lebens in Preußen mit den guten Absichten des Königs gepflastert, was aber natürlich den Juden das Dasein nicht leichter machte. Und doch war Friedrich Wilhelm II. besser als seine Minister, die Reaktionäre Wällner und Bischoffswerder. Selbst dieser erbärmliche Reformentwurf wurde vom Generaldirektorium mit einem Gefühl der Genugtuung im Kanzleiarchiv begraben; aber der König selbst erinnerte sich seiner nach zwei Jahren. Ob hier die Proklamierung der Judenemanzipation in Frankreich (September 1791) oder irgendein anderer Umstand im Spiele war, ist unbekannt, wir wissen nur, dass der König im Januar 1792 das Generaldirektorium beauftragte, die Arbeiten in der Judenfrage wiederaufzunehmen. Wiederum wurde ein „Reformentwurf“ mit erbärmlichen Erleichterungen ausgearbeitet. Dieser Entwurf wurde von der gesetzgebenden Kommission gutgeheißen und harrte nur der Bestätigung durch den König. Aber in diesem Augenblick entbrannte der Krieg mit dem revolutionären Frankreich, und der König befahl, die diesbezüglichen Arbeiten bis zur Beendigung des Krieges zu verschieben. Bis dahin sollte die Regierung die Durchführung der Sache, „die in anderen Ländern längst eingeführt ist“, vorbereiten (21. Mai). Der Aufschub dauerte 20 Jahre, während welcher Preußen mehr als einen Krieg zu führen hatte.

Unterdessen bekam Preußen durch die zweite und dritte Teilung Polens (1793, 1795) neue Gebiete mit einer jüdischen Bevölkerung. Zu der früheren polnischen Provinz, die Westpreußen genannt wurde, kamen Süd- und Neuostpreußen — die Bezirke Posen, Kalisch, Warschau, Plozk und Bialystok hinzu. Es galt also diese ganze bunte Jüdische Masse der angegliederten Gebiete, die es noch nicht gewohnt war, mit einem jeder Familie aufgeklebten Etikette oder Nummer zu leben, unter das preußische Kasernenreglement zu bringen. Dies erwies sich als undurchführbar. Die Regierung musste eine besondere, den lokalen Bedingungen angepasste jüdische Verfassung ausarbeiten, „Das Generalreglement für die Juden von Süd- und Neuostpreußen“ (17. April 1797) gewährte das Wohnrecht an den früheren Orten nur derjenigen Juden, die im Augenblicke der Angliederung dieser Provinzen an Preußen dort dauernd ansässig waren und bestimmte Berufe ausübten; solche aber, die keinen bestimmten Beruf und keine dauernde Sesshaftigkeit nachweisen konnten, mussten zu einer festgesetzten Frist das Land verlassen. Die im Lande Zurückgebliebenen mussten registriert und mit Pässen oder ,, Schutzbriefen“ versehen werden. Die Abgaben erfuhren eine erhebliche Steigerung. Anstatt der polnischen „Kopfsteuer“ wurden die verschiedensten Steuern eingeführt: Steuer für „Schutz“, für die Eheerlaubnis usw. Ehen waren nur Männern von über 25 Jahren gestattet, die ein sicheres Einkommen oder Vermögen hatten. Die rabbinische Gemeindeselbstverwaltung wurde auf das Gebiet der religiösen Interessen beschränkt; das rabbinische Gerichtswesen wurde abgeschafft; in den Schulen wurden die deutsche und polnische Sprache als obligatorisch eingeführt.

Dieser gesetzgeberische Akt, der letzte in der Regierungszeit des Königs Friedrich Wilhelm II., wurde damals für „liberal“ gehalten. Der Rang eines „geduldeten“ und Schutzjuden war die höchste Stufe, die ein Jude erreichen konnte. In demselben Zustande verharrten die Dinge auch im ersten Dezennium der Regierung Friedrich Wilhelms III. (1797 — 1840.)