§ 28. Allgemeine Lage

Wenn in der inneren Politik der deutschen Staaten sich eine gewisse Wandlung vollzog, so geschah es nicht unter dem Einflüsse der französischen Revolution, sondern unter dem Drucke des napoleonischen Kaiserreichs. Die französischen Ideen hatten einen gewissen Teil der deutschen Gesellschaft bezwungen, die französischen Waffen besiegten aber die deutschen Machthaber und trieben sie auf die Bahn der Reformen. Das Jahr 1806 kennzeichnet den historischen Augenblick des innerpolitischen Umschwungs; es ist das Jahr der Zerschmetterung Preußens durch Napoleon, das Jahr der Gründung des Rheinbundes und der Einsetzung des französischen Protektorats über einen erheblichen Teil der deutschen Lande . . . Das Schicksal der deutschen Juden hängt mit diesem Umschwünge aufs engste zusammen. Zwischen den Jahren 1789 und 1806 liegt die düstere Periode der Rechtlosigkeit im Geiste der alten Staatsordnung; einzelne Lichtpunkte — die ersten Emanzipationsversuche — tauchen hier und da in der kurzen Zeitspanne zwischen 1807 bis 18 13 auf.

Die Einflüsse der großen Revolution und das Beispiel der durch sie erzeugten Emanzipation der französischen Juden berührten die deutschen Regierungskreise nur insofern, als in einigen Staaten zur kanzleimäßigen Behandlung der jüdischen Frage geschritten wurde: Kommissionen wurden eingesetzt, uni. Beamte heckten die denkbar gemäßigtsten Reformentwürfe aus; aber dieses ganze Kanzleigeschreibsel führte zu keinem nennenswerten Ergebnis. Die Rechtlosigkeit der Juden war mit dem gesamten Regierungsapparate so eng verwachsen, dass sie nur durch eine gründliche Erschütterung der ganzen alten Gesellschaftsordnung beseitigt werden konnte. Eine bei weitem tiefer greifende Gärung rief die Befreiungsepoche bei den Unterdrückten selbst aus. Die aufgeklärte jüdische Gesellschaft Deutschlands, die sich die europäische Kultur: zu eigen machte, lernte für ihre Gleichberechtigung kämpfen und bürgerliche Rechte im Namen der unwiderruflichen „Menschenrechte“ fordern. Als aber alle diese Anstrengungen an der Hartnäckigkeit der absolutistischen deutschen Regierungen zerschellten, wandten sich die Kämpfer an die internationalen Organisationen: sie pochten an die Türen all jener europäischen Kongresse und diplomatischen Konferenzen, die am Ende des XVIII. und zu Beginn des XIX. Jahrhunderts häufig zusammentraten, als infolge der napoleonischen Kriege die Landkarte Europas einer Revision unterworfen wurde.


Dem Kongresse von Rastatt (1797 — 1798), der einberufen war, um die französischen Errungenschaften auf dem linken Rheinufer und im nördlichen Italien zu festigen, wurden zwei Denkschriften über die jüdische Frage unterbreitet. Diese Denkschriften wandten sich hauptsächlich an die deutschen und österreichischen Gesandten. Der anonyme Verfasser einer dieser Broschüren*) stellt den Mitgliedern des Kongresses die Notwendigkeit vor Augen, ein treues und arbeitsames Volk in seinen Menschheitsrechten wiederherzustellen, ein Volk, das den unterdrückenden Staat nicht lieben kann. Den verstorbenen Kaiser Joseph II. von Österreich stellt er dem ,,guten“ König von Preußen und den übrigen Herrschern Deutschlands als Muster hin. Die Juden müssen vom Handel abgelenkt werden, denn der Handel sei unfähig, eine vornehme Nation zu schaffen; er schaffe nur Engländer (Tribut an den Engländerhass jener Zeit); man müsse sie zum Ackerbau heranziehen, für ihre Kinder deutsche Schulen gründen, und ihre Absonderung beseitigen, welche letztere unter anderem „in ihrer hässlichen Mundart“ (dem Jargon) wurzele. Dann werden sämtliche Vorurteile gegen die Juden von selber schwinden. Als Verteidiger der Judenheit trat in einer anderen Denkschrift der deutsche Rechtsgelehrte Christian Grund**) auf, den die Berliner Juden vorgeschoben hatten. Allein die Stimme der Verfechtet der Gleichberechtigung verlor sich im Lärm des Rastatter Kongresses, dessen Tätigkeit durch einen neuen Ausbruch des österreichisch-französischen Krieges unterbrochen wurde.

Als im Jahre 1801, nach dem Frieden von Lunéville, eine aus Vertretern der deutschen Staaten bestehende „Reichsdelegation“ zwecks neuer Verteilung der durch Napoleon zerstückelten deutschen Gebiete in Regensburg tagte, wurde dieser Versammlung eine Bittschrift „im Namen der deutschen Judenschaft“ von dem genannten Grund vorgelegt*). In dieser Bittschrift wurde auf die gedrückte Lage der deutschen Juden hingewiesen, die teilweise in Ghettos zusammengepfercht, teilweise durch den Leibzoll entehrt, teilweise von einem Netz von Handelseinschränkungen umgarnt seien. Die Bittsteller ersuchen die Reichsdelegation, die Juden von ihrem harten Joch zu befreien und ihnen staatsbürgerliche Rechte zu gewähren, um „dieses Volk mit der deutschen Nation zu verschmelzen“. Die Bittschrift fand bei dem böhmischen Gesandten Unterstützung, führte aber nicht zum gewünschten Erfolg: die Vertreter des auseinanderfallenden Reiches, die ausschließlich um die Heilung der von Napoleon geschlagenen Wunden besorgt waren, konnten in jenem Augenblick an die Juden nicht denken. Den gleichen Misserfolg erlebte bei den regierenden Kreisen Deutschlands der vorher veröffentlichte Aufruf des jungen jüdischen Rechtsgelehrten aus Frankreich, Michael Berr, der sich an „das Gerechtigkeitsgefühl der Völker und der Könige“ wandte („Appel à la justice des nations et des rois, ou adresse d'un citoyen français au Congrès de Lunéville“, 1801). Michael Berr, ein Sohn des Isaak Berr, des Kämpfers für die jüdische Emanzipation in Frankreich, gehörte bereits der neuen vom Geiste der Assimilation erfüllten Generation an. In seinem Aufrufe erklärte er selber, dass ,,er sich mehr als Franzose, denn als Jude fühlt“ und dessen ungeachtet sich für berechtigt hält, „im Namen aller Bekenner der jüdischen Religion in Europa“ aufzutreten. Sein Aufruf ist vom Stolz eines in der Gegenwart lebenden Franzosen und eines in der Vergangenheit lebenden Juden erfüllt. „Nicht als Mitglied einer unterdrückten Klasse“, heißt es im Aufrufe, „appelliere ich an das Gerechtigkeitsgefühl der Könige und Völker, denn ich darf mit lauter Stimme sagen; die französischen Juden haben den Zutritt zum staatsbürgerlichen Leben erhalten. Als französischer Bürger, als Freund der Menschheit trete ich zum Schutze der gerechten Sache aller derjenigen auf, die ihre Laster dem grausamen Hasse ihrer Feinde, ihre Tugenden aber nur sich selber zu verdanken haben . . . Allen Schrecknissen, Foltern und Todesqualen zum Trotz widerstanden sie dem Strome der Zeit, der in seinem Laufe Völker, Religionen und Jahrhunderte wegfegte. Während von Rom und Griechenland nur glänzende Erinnerungen geblieben sind, lebt noch dieses, einige Millionen Seelen zählende Volk, das durch dreißig Jahrhunderte selbständigen Lebens und sechzehn Jahrhunderte verschiedenster Verfolgungen hindurchgegangen ist.“ Der Verfasser bittet, dieser Nation, „die einzig und allein durch das Missgeschick erniedrigt ist“, mehr Aufmerksamkeit zu schenken und ihre Rolle während der französischen Revolution und der Schreckensherrschaft zu würdigen, wo man Juden weder in den Reihen der Terroristen**) noch in denen der Vendéer, die „Feuer und Schwert in einen Teil des Vaterlandes gebracht haben“, finden konnte. „Möge das neue Jahrhundert“, heißt es zum Schluss, „mit diesem erhabenen Akt der Befreiung der Juden von Unterdrückung und Demütigung, mit dem Akt der vollen bürgerlichen Gleichstellung der Juden in ganz Europa, die in Frankreich und Holland schon durchgeführt ist, eröffnet werden.“

*) „Bittschrift der Juden in Deutschland an die Repräsentanten unserer Nation um das deutsche Bürgerrecht von Hofrat Grund in Regensburg“ 1802.

**) Diese Behauptung ist falsch. Vgl. oben § 19.


Aber das Morgenrot des XIX. Jahrhunderts ging unter dem blutigen Zeichen der napoleonischen Kriege auf. Die „Könige und Völker“ konnten in jenem Augenblick weniger denn je an die Judenemanzipation denken, und nur die Krise des deutschen. Reiches und die Unterwerfung vieler seiner Teile unter das Protektorat Napoleons schaffen einige Jahre darauf den Boden für das fremdländische Gewächs — die Gleichberechtigung der Juden. Wie sich der Übergang der Juden vom Zustande der bürgerlichen Versklavung zu dem der bürgerlichen Freiheit oder Halbfreiheit gestaltete, wird uns ein Überblick ihres Lebens in den einzelnen Staaten Deutschlands, und insbesondere im Hauptstaate des letzteren, in Preußen, lehren.