§ 27. Die Schweiz (Helvetische Republik)

Das Bild einer ephemeren Emanzipation wiederholte sich im kleinen auch in der Schweiz, wenn auch mit einer spezifischen lokalen Färbung. Die 200 jüdischen Familien, die in den beiden ,,Zufluchtsstädten“ Endingen und Lengnau im Badischen ansässig waren, erneuerten im Jahre 1792 ihren Vertrag mit der Regierung, demzufolge sie das Recht erhielten, in dieser Gegend zu wohnen und sich mit knapper Not zu ernähren — unter der Bedingung jedoch, dass sie ihr Geschlecht nicht fortpflanzen dürfen (§8). Das Überschreiten der ,,Ansiedelungszone“ und die Einwanderung von Juden aus anderen Ländern und Gegenden wurden nur vorübergehend und unter den schwersten Bedingungen gestattet: die fremden Kaufleute mussten den sogenannten „Leibzoll“ und viele andere spezielle Abgaben entrichten. Die erste Bresche in diese chinesische Mauer wurde durch ein Werkzeug französischer Herkunft geschlagen. Die französische Regierung des Direktoriums verlangte vom schweizerischen Bundesrat die Befreiung aller in Handelsangelegenheiten nach der Schweiz reisenden französischen Juden von den speziellen Abgaben; die Schweizer Regierung sah sich genötigt, dieser Forderung nachzukommen; auf diese Weise gab sie den ausländischen Juden vor den einheimischen den Vorzug (1797). Nach einem Jahre errichtete Frankreich sein Protektorat in der Schweiz und zerstörte deren mittelalterliche, wenn auch republikanische Staatsordnung. Im Jahre 1798 entstand auf den Ruinen der alten schweizerischen Konföderation die „einige und ungeteilte“ Helvetische Republik mit einem Direktorium an der Spitze und zwei gesetzgebenden Kammern. Unmittelbar nach diesem Umschwünge wandten sich die Juden des Badischen Bezirkes an die gesetzgebenden Versammlungen mit dem Gesuche, sie mit den bevorzugten ausländischen Juden in Bezug auf Freizügigkeit und Abgabenentrichtung gleichzustellen. Dieses Gesuch wurde von der Regierung (dem Direktorium) befürwortet. Nach leidenschaftlichen Debatten nahmen beide Kammern den Antrag an und fassten folgenden Beschluss: „In allen Gebieten Helvetiens werden künftighin alle den Juden auferlegten und die menschliche Würde verletzenden speziellen Steuern und Abgaben abgeschafft“ (31. Mai und 1. Juni 1798). So wurde die Gleichstellung der Juden in Bezug auf die Steuern durchgeführt; nun musste auch noch die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung durchgesetzt werden.

Die Frage der vollen Gleichberechtigung tauchte im Parlamente im Zusammenhange mit dem bürgerlichen Eid oder dem „Verfassungseid“ auf. Die Zulassung der Juden zu einem solchen Eide bedeutete die Anerkennung ihrer Gleichberechtigung, und darauf konnte die judenfeindliche Partei nicht eingehen. Langwierige Debatten in den beiden Kammern und in einem speziellen Ausschuss (August 1798) ergaben eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zwischen den Konservativen und Liberalen in der Frage der Emanzipation. Der Delegierte von Zürich, Escher und der von Lausanne Secrétan forderten die Gleichberechtigung für sämtliche in der Schweiz geborenen und allen Bedingungen der bürgerlichen Rechtsfähigkeit genügenden Juden. Ihre Gegner griffen zu der üblichen Beweisführung: die Juden wären unfähig, einen bürgerlichen Eid reinen Herzens zu leisten, da sie Mitglieder einer besonderen Nation seien und von einem Messias träumen, der ihr eigenes Reich wiederherstellen solle. Es wurde eine vermittelnde Lösung beantragt: Nur solche Juden sollen zum bürgerlichen Eide zugelassen werden, die ein von den Gemeinden ausgestelltes Zeugnis über ihre gute Aufführung vorweisen, auf jede nationale Absonderung verzichten und die Verpflichtung übernehmen, sich der helvetischen Verfassung zu unterwerfen. Aber auch in dieser Form wurde der Antrag von den Kammern abgelehnt, und das Direktorium erhielt auf seine Anfrage folgende Antwort: Die Frage wegen des von den Juden zu leistenden bürgerlichen Eides ist bis zur eingehenderen Behandlung in einer eigenen Kommission zu vertagen.


Im Februar 1799 unterbreitete die Kommission das von ihr gesammelte Material den Kammern. Es enthielt die Antworten der französischen und deutschen Rabbiner sowie die der schweizerischen Juden auf die an sie gerichteten Rundfragen. Die Antworten lauteten dahin, dass der jüdischen Religion jeder Separatismus fern sei und dass sie ihre Bekenner verpflichte, sich den Gesetzen ihrer Wirtsländer zu unterwerfen. Anlässlich dieser Denkschrift entspannen sich in den vier Sitzungen der damals in Luzern tagenden Kammer (6., 12. bis 13. Februar und 6. März) stürmische Debatten. Der Führer der Emanzipationsanhänger, Secrétan sagte, dass es nicht angehe, die Voreingenommenheit der ungebildeten Schichten des Volkes gegen die Juden mit in Rechnung zu ziehen. „Wir vertreten hier die Interessen der Aufklärung und der Vernunft und nicht die der Vorurteile des Volkes.“ Der Gegner der Emanzipation, Elmliger, schilderte in düsteren Farben das Bild einer zukünftigen Schweiz, in der sich die Juden der Gleichberechtigung erfreuen. Die beste Lösung der Judenfrage wäre es, sagte er, sämtliche Juden zu Napoleon Bonaparte zu schicken, damit er sie in Palästina ansiedele (es war dies die Zeit des syrisch-ägyptischen Feldzuges und des bonapartischen Aufrufes an die palästinischen Juden). Nach längeren Debatten lehnte die Kammer den Antrag wegen der jüdischen Gleichberechtigung mit einer geringen Mehrheit ab.

Das schweizerische Parlament erwies sich auf diese Weise bei weitem konservativer als die Regierung. Das Direktorium, welches für unmöglich hielt, die Juden in ihrer früheren rechtlosen Stellung zu belassen, sorgte wenigstens dafür, dass ihre Lage teilweise verbessert wurde: es stellte die Juden der „Ansiedelungszone“ den ausländischen gleich. Fürderhin durften die Juden nicht nur in den zwei Siedelungen, sondern auf dem gesamten Gebiet des Badischen Kreises wohnen und auch unbewegliche Güter erwerben. Aber die im mittelalterlichen Geiste erzogene christliche Bevölkerung des Kantons konnte sich auch mit diesen unbedeutenden Erleichterungen nicht abfinden. Im September 1802 plünderte eine Menge wilder Gesellen während der jüdischen Feiertage die Wohnungen vieler Juden in Endingen und Lengnau. Allem Anscheine nach standen diese Unruhen im Zusammenhange mit der vorübergehenden Räumung der schweizerischen Kantone durch die französischen Truppen, die den unaufhörlichen Parteikämpfen nunmehr keinen Einhalt bieten konnten. Kurz darauf aber kehrten die französischen Truppen zurück, um den von Napoleon geplanten Staatsstreich- mit Waffengewalt zu unterstützen.

Durch die sogenannte Mediationsakte vom Jahre 1803 geriet die helvetische Republik in eine engere Abhängigkeit von Frankreich; andererseits wurde die alte eidgenössische Einrichtung wiederhergestellt. Jeder Kanton erhielt volle Autonomie in Bezug auf die Regelung seiner inneren Angelegenheiten. Die Juden gerieten unter die unmittelbare Botmäßigkeit des Kantons Aargau, dem der frühere Bezirk Baden, die jüdische „Ansiedelungszone“, angegliedert wurde. Im selben Jahre wandten sie sich an den Bundesrat der Eidgenossenschaft mit einem Gesuch, in dem sie sich um die Gleichstellung in den Rechten mit der christlichen Bevölkerung bewarben. Das Gesuch wurde von dem allmächtigen französischen General Ney unterstützt. Als aber der Bundesrat das Gesuch der Regierung des Kantons Aargau zur Beschlussfassung unterbreitete, erhielt er die Antwort, dass der neuen Verfassung zufolge die Kantonalbehörden ein Eingreifen der Zentralregierung in ihre inneren Angelegenheiten nicht zulassen können. Daraufhin arbeitete die Kantonalregierung selber einen Gesetzentwurf aus, der auf die Verbesserung der Lage der Juden im Aargau hinzielte, und unterbreitete ihn dem Kantonalrat zur Behandlung. Aber auch diesen gemäßigten Gesetzentwurf, der die im Kanton während eines Zeitraumes von nicht weniger als 26 Jahren ansässigen Juden als gleichberechtigt anerkannt wissen wollte, fand der Kantonalrat zu liberal (1805). Nach langen Vorbereitungen wurde ein neues Gesetz über die Juden des Kantons Aargau ausgearbeitet, das die denkbar geringfügigsten Konzessionen an den fortschrittlichen Geist der Zeit enthielt (5. Mai 1809). Dieses Gesetz, das schließlich angenommen wurde, gab den Juden, wie ein schweizerischer Geschichtschreiber meldet, „alle Pflichten, aber keine Rechte der Kantonbürger“. Die Ansiedelungszone blieb aufrechterhalten, aber das Gesetz gewährte in großmütiger Weise allen Juden, die sich über ihre treffliche Sittlichkeit, ihr Wissen und ihren wirtschaftlichen Eifer ausweisen konnten, das Recht, sich in allen anderen Kantonen mit Ausnahme von Endingen und Lengnau niederzulassen. In Wirklichkeit aber war es den Juden, die in ihrer Freizügigkeit und Berufswahl durch diese selbe Regierung beschränkt waren, unmöglich, derartige Belege zu liefern. Nur das Hausieren blieb den Juden freigestellt: der arme Bewohner der Ansiedelungszone schwang sich jeden Sonntag seinen mit Waren beladenen Korb auf die Schultern, ging auf die Wanderung durch die Dörfer der Bezirke Endingen und Lengnau, wo er seine Waren absetzte, und kehrte Freitag abends nach Hause zurück, um den Sabbattag im Familienkreise zu verbringen. Andererseits wiederum blieb im Gesetz die alte pharaonische Maßregel aufrechterhalten: es war den Juden verboten, ohne die Genehmigung der Kantonalbehörden eine Ehe einzugehen. Eine solche Genehmigung wurde nur auf Grund eines Zeugnisses über den Beruf des Aspiranten und die Sicherheit seiner materiellen Lage bewilligt.

Den Schweizern gelang es, auf diese Weise ihre eigenartige Gesetzgebung in Bezug auf die Juden nach einigen vorübergehenden Konzessionen noch vor dem Ausbruche der allgemeinen europäischen Reaktion wiederherzustellen. Und auch in der Folge widersetzte sich dieses freie Völkchen auf das Hartnäckigste allen Versuchen der Befreiung des auf sein Gebiet verschlagenen winzigen Häufleins Juden.