§ 26. Italien (die Römische und Zisalpinische Republik und das Königreich Italien)

In keinem Lande hatte die aus dem revolutionären und napoleonischen Frankreich verpflanzte ephemere Emanzipation einen so plötzlichen Umschwung in der Lage der Juden hervorgerufen, wie in Italien, insbesondere im Kirchenstaate, wo die sich befehdenden Mächte — die Kirche und die Revolution, das Ghetto und die Freiheit, gleich im ersten Augenblick aufeinander prallten. In den meisten Staaten des zerstückelten Italiens (Toskana und einige einzelne Städte ausgenommen) gerieten die Juden in den Zustand der bürgerlichen Freiheit direkt aus dem einer niedrigen Knechtschaft und nicht aus dem einer halben Freiheit, wie es in Holland der Fall war. Das Judenviertel von Rom lag noch ganz in den Fesseln des inquisitorischen Reglements von 1775 (§7); das mittelalterliche gelbe Abzeichen prangte noch an den Hüten der „Ausgestoßenen“, und die Jagdhunde der Kirche hetzten noch die Masse der gebrandmarkten Menschen, die für diese Jagd an das schlammige Ufer des Tibers zusammengetrieben waren, als sich bereits das ferne Tosen der Revolution vernehmen ließ und die französische Freiheitsarmee an die Mauern Roms immer näher heranrückte. Im Januar 1793 loderten die ersten Flammen eines vom französischen Agenten Basseville angestifteten Aufstandes auf, der ein trauriges Ende nahm: Basseville wurde von einer Menge fanatischer Anhänger der Kirche getötet. Die Menge versuchte, die in Rom ansässigen Franzosen zu überfallen und auszuplündern, aber da sie auf energische Gegenwehr stieß, wählte sie die Linie des geringsten Widerstandes und ging auf das Judenviertel los. Hier feierte sie ihren Sieg über die französische Revolution durch die Plünderung einiger jüdischer Läden. Auch die päpstliche Regierung ließ sich die Gelegenheit zu einer Plünderung nicht entgehen. Sie verbreitete das Gerücht, dass man bei einem jüdischen Händler einige Tausend dreifarbige, für die Revolutionäre vorbereitete Kokarden gefunden habe. Daraufhin verhaftete die Polizei die Rabbiner und die Gemeindevorsteher des Judenviertels, um sie dann gegen Zahlung einer ungeheuren Geldbuße aus der Haft zu entlassen. Um den Verkehr des Judenviertels mit der Stadt zu erschweren, befahl die Regierung, scharf aufzupassen, dass die Paragraphen des alten Reglements, wonach die Juden ein gelbes Abzeichen auch innerhalb des Ghettos tragen mussten und die Grenzen ihres Aufenthaltsortes nachts nicht überschreiten durften, streng eingehalten werden. Man suchte in Rom an den Ghettobewohnern das Missgeschick der weltlichen und kirchlichen Macht in Frankreich zu rächen. Die Hinrichtung Ludwigs XVI. in Paris bot dem römischen Pöbel einen neuen Vorwand, um das Judenviertel zu überfallen. Die Einführung der ,,Religion der Vernunft“ in Paris wurde in Rom durch Taufen von Juden beantwortet, die man gewaltsam oder mit List ins ,,Haus der Katechumenen“ gelockt hatte. In Paris hatte der jüdische Jakobiner Pereira den Erzbischof Gobel gezwungen, in einer Sitzung des Konvents das Kreuz abzulegen, und in Rom wurden die jüdischen Kinder gewaltsam mit Kreuzen geschmückt . . .

Endlich kam auch der Augenblick, wo Rom nicht bloß den fernen Widerhall der Revolution, sondern ihre nahen Schritte zu hören bekam. In den Jahren 1796 und 1797 wurde Italien von den französischen Truppen überschwemmt. Das militärische Genie des jungen Korsikaners wirkte Wunder: vor ihm zerstoben die Armeen der Österreicher in der Lombardei, beugten sich die Herrscher Sardiniens, Toskanas, Venedigs und Genuas; selbst der päpstliche Thron erbebte in seinen Grundfesten. Durch die französischen Kontributionen ausgeplündert, mit geschmälertem Besitz, harrte Papst Pius VI. seines Schicksals. Den letzten Vorwand zu einer Intervention bot der Zusammenstoß des römischen klerikalen Pöbels mit den von Frankreich protegierten Republikanern. Der französische General Bertier besetzte Rom; die einheimischen Republikaner proklamierten die Absetzung des Papstes und die souveräne Gewalt des Volkes (15. Februar 1798). Am gleichen Tage, dem ersten Tage der ,,Römischen Republik“ entfernten die Juden das Schandmal der Sklaverei, das gelbe Abzeichen (Sciamano — vom hebräischen: Siman-Zeichen) und frohlockten über den Anbruch einer neuen Zeit. Zwei Tage darauf gab es im Ghettoviertel eine Festbeleuchtung, und vor der Synagoge wurde unter den feierlichen Klängen der Musik ein „Baum der Freiheit“ gepflanzt. Am Morgen des 20. Februar verließ der gestürzte Papst Pius VI., der Urheber des unmenschlichen Ediktes von 1775, die Stadt Rom für immer. Der alte Kerkermeister ging, als die Tore des Ghettokerkers sich weit auftaten und der Strom der befreiten Gefangenen sich über die Straßen der Stadt ergoss. Eine der ersten Handlungen der neuen Regierung war die Proklamierung der jüdischen Gleichberechtigung: „Da nach den durch den Verfassungsakt der Römischen Republik geheiligten Prinzipien die Rechte sämtlicher Bürger gleich sein müssen, geben wir folgendes Gesetz bekannt: Die Juden, die allen Bedingungen zur Erlangung der mit dem römischen Staatsbürgertum verbundenen Rechte genügen, unterliegen den für alle Bürger der Römischen Republik geltenden Gesetzen; infolgedessen werden mit diesem Augenblick alle besonderen, die Juden betreffenden Gesetze und Verfügungen für abgeschafft erklärt.“


Nur allmählich gewöhnten sich die christlichen Massen daran, die gestrigen Sklaven als gleichberechtigte Mitbürger anzusehen. Vielen von ihnen war es peinlich, zu sehen, wie die Juden anstatt des soeben abgelegten gelben Abzeichens die dreifarbige Offizierskokarde trugen und sich an den republikanischen Kundgebungen erhobenen Hauptes beteiligten. Um nicht mit den Juden verwechselt zu werden, befestigten die christlichen Nachbarn des Ghettoviertels an ihre Kokarden kleine Kreuze. In der ersten Zeit nahm die Nationalgarde nur widerwillig Juden in ihre Reihen auf, da aber die Juden einen republikanischen Eifer an den Tag legten, ihren Patriotismus bewiesen und der Nationalgarde sogar einige Offiziere lieferten (Barrafal u. a.), verflüchtigte sich allmählich dieses Misstrauen. Der Jude Ezechiel Marpurgo wurde zum ,,Senator“ am obersten Gerichtshof der Republik ernannt. Bei alledem hatten die Juden viel Ungemach unter den anarchischen Zuständen jener Zeit auszustehen. Unerträglich war die Last der unaufhörlichen Kontributionen, die der Bevölkerung von den französischen Generälen auferlegt wurden. Man zwang die Leute, ungeheure Geldsummen an die Kriegskasse abzuführen; groß war der Unmut und die Aufregung im Ghettoviertel, als die jüdischen Frauen gezwungen wurden, Soldatenunifonnen selbst an Sabbattagen zu nähen. Teuer bezahlten die Juden ihre Freiheit und die Genugtuung, ihre Feinde, die katholische Geistlichkeit, gedemütigt zu sehen. Die republikanischen Behörden beschlagnahmten alle Mobilien des Papstes und der Kardinäle und versteigerten es; unter den Käufern fanden sich auch Juden, denen unter anderen Dingen auch Kirchengeräte zufielen. Über diese Beteiligung der „Feinde der Kirche“ an der Liquidierung ihres Vermögens entrüsteten sich die frommen Katholiken; aber das Verhalten vieler Christen diesen Reliquien gegenüber war nicht viel besser. Die römische Geistlichkeit wurde zu jener Zeit verspottet und verhöhnt. In einer Bürgerversammlung wurde einmal der Wunsch geäußert, dass man die Geistlichen an der Stirn brandmarken solle; die anderen wiederum forderten, dass man den Priestern dasselbe Ghettoviertel als Wohnort zuweisen solle, in welchem sie früher die Juden eingesperrt hielten. Noch niemals hatte sich die geschichtliche Nemesis so deutlich zu erkennen gegeben, wie in dieser plötzlichen Schicksalswendung. Es war aber nur eine Augenblickswendung: das Ende der ephemeren Römischen Republik nahte heran.

Im Herbst des Jahres 1799 wurde die Herrschaft der Franzosen in Rom von der der neapolitanischen Truppen abgelöst. Es kam der Augenblick, wo die Juden für ihre Beteiligung an den revolutionären Umtrieben empfindlich büßen mussten. Es begann eine Reihe von Strafkontributionen, die von der jüdischen Bevölkerung mit äußerster Härte eingetrieben wurden. Abgesehen von einer allgemeinen Summe, die fünf Synagogen auferlegt wurde, wurde noch von jedem einzelnen Einwohner eine Geldbuße im Betrage von 2% seines Vermögenswertes gefordert. So arg hausten die Neapolitaner, dass, als sich die militärischer Banden entfernten, und der neugewählte Papst Pius VII. in Rom seinen Einzug hielt (sein Vorgänger, Pius VI., starb als Verbannter in Frankreich), die Juden ihn beinahe als einen Befreier begrüßten (3. Juli 1800). Sie glaubten, dass der neue Papst, belehrt durch die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit, die veralteten, inquisitorischen Verwaltungsmethoden nicht mehr in Anwendung bringen werde. Ihre Hoffnung täuschte sie nicht ganz. Pius VII. milderte in der Tat einigermaßen das harte Ghettoregime: er erleichterte die Steuerlast, gab der Gewerbefreiheit etwas weiteren Raum und drang nicht auf die Anwendung der demütigenden kanonischen Gesetze. Mit Genehmigung des Papstes wurde eine aus 27 Mitgliedern bestehende Gemeindeverwaltung gewählt; die gewählten Rabbiner und Gemeindevorsteher wurden dabei von der persönlichen Haftung für die zivilen und kriminellen Angelegenheiten der Gemeindemitglieder befreit, die in früheren Zeiten die Ghettoführer in beständiger Angst hielt.

Nach 8 Jahren wurde die Restauration durch einen neuen politischen Umschwung über den Haufen geworfen. Zu Beginn des Jahres 1808 wurde Rom von den napoleonischen Truppen besetzt, und am 10. Juni 1809 der ganze Kirchenstaat dem französischen Kaiserreich angegliedert. Pius VII. wurde als Gefangener nach Fontainebleau abgeführt, wo er fast 8 Jahre verbringen musste. Die jüdische Emanzipation wurde von neuem verkündet; von neuem wurden innere Reformen im Geiste der Synhedrionsbeschlüsse durchgeführt. Ein Erlass Napoleons vom 4. Juni 1811 verkündete die Gründung eines Zentralkonsistoriums in Rom für sämtliche jüdische Gemeinden des früheren Kirchenstaates. An der Spitze des Konsistoriums stand der römische Großrabbiner, Leon de Leone. Bei der Eröffnungsfeier des Konsistoriums hielt eines seiner Mitglieder eine Rede, in der er Kaiser Napoleon als Befreier verherrlichte und unter anderem folgendes sagte: ,,In der kurzen Frist von zwei Jahren (der französischen Herrschaft) gelangten bei uns Ackerbau und Fabrikindustrie zur Entfaltung; unsere Söhne strebten mutig den Wissenschaften und den Künsten zu; mehr als dies: sie sind berufen, an den Siegeszügen (der napoleonischen Heere) teilzunehmen.“ Die Teilnehmer dieser Feier ahnten in jenem Augenblicke nicht, dass man sie in weniger als drei Jahren in das Ghettodunkel zurückwerfen würde. Als der Stern Napoleons unterging, kam der Kirchenstaat unter die Botmäßigkeit des zurückgekehrten Papstes, und für die Juden setzte eine Periode schwerer Reaktion ein (1814). Diesen circulus vitiosus — von Versklavung zur Freiheit, von Freiheit zur Versklavung — machten die Juden auch in den anderen Staaten des zerstückelten Italiens durch. Aus der aristokratischen Republik Venedig machte die durch die französischen Siege hervorgerufene Revolution des Jahres 1797 eine demokratische Republik, die sich während eines halben Jahres behauptete. In dieser kurzen Zeit vollzog sich die jüdische Emanzipation. Am 11. Juli wurden die Mauern des Ghettos von Venedig unter dem Jubel der Bevölkerung geschleift, und die mit der Stadt in Verbindung gebrachte Judengasse erhielt zum Zeichen der Verbrüderung und der Einigung aller Bürger den Namen „die Bundesstraße“ (Contrada dell' Unione). Bei dieser Gelegenheit wurden viele schöne Reden gehalten; selbst katholische Geistliche beteiligten sich an dieser Kundgebung der Freiheit und der Gleichheit. In den neu gebildeten demokratischen Stadtrat traten drei Vertreter der jüdischen Bevölkerung ein. Die neue Ordnung erwies sich jedoch als nicht von langer Dauer. Eine Folge des Siegeszuges der französischen Armee, fiel sie bald den selbstsüchtigen politischen Plänen des kaiserlichen Heerführers zum Opfer. Nach dem Friedensvertrag von Campo Formio wurde Venedig an den Hort der alten Ordnung, Österreich ausgeliefert. Die österreichische Herrschaft (Januar 1798) fegte alle liberalen Neuerungen, darunter auch die Gleichberechtigung der Juden, weg. Im Jahre 1805 kam Venedig an das von Napoleon gegründete Königreich Italien, welches letztere seinerseits dem französischen Kaiserreiche einverleibt wurde. Die Gleichberechtigung der Juden wurde von neuem statuiert und dauerte diesmal 9 Jahre, bis zum Triumphe der Reaktion im Jahre 1814.

Das Schicksal der Juden in all jenen Teilen Italiens (der Lombardei, dem Herzogtum Modena und den dem Kirchenstaat und der Republik Venedig entrissenen Ländern), die sich unter dem gleichen Drucke der französischen Invasion zur Zisalpinischen Republik vereinigten, wies minder schroffe Schwankungen und Übergänge auf. Die Republik bestand 8 Jahre, bis sie dem „Italischen Königreiche“ (1805) einverleibt wurde und ihre jüdischen Einwohner als gleichberechtigte Mitglieder in den Verband des französischen Volkes eintraten; in diesem Zustande verharrten sie bis zum Ende des „Zeitalters der ersten Emanzipation“. Derartige Freiheitspausen von längerer oder kürzerer Dauer wurden auch den anderen Gebieten des zerstückelten Italiens in jenen stürmischen Zeiten der Umwälzungen zuteil. Die Juden Toskanas mit ihrer Hauptgemeinde Livorno erlangten die Emanzipation im Jahre 1808, als das Herzogtum Medici an Frankreich abgetreten wurde. Die wirtschaftlich und kulturell hochstehende jüdische Bevölkerung der Hafenstadt Livorno, der die demütigenden Formen der Rechtlosigkeit auch früher fremd waren, erwies sich als völlig reif für das neue staatsbürgerliche lieben. — Etwas schroffer gestaltete sich der Übergang für die Juden in Piemont (die Gemeinden Turin, Alessandria und andere), wo die alten Fürsten der sardinischen Dynastie regierten und der Geist des kirchlichen Roms herrschte. Nach den Berichten der französischen Präfekten, die die piemontesischen Bezirke während des Kaiserreichs verwalteten, waren die Juden unter dem Druck der sardinischen Herrscher auf einen derartigen Grad physischer Erschöpfung gebracht, dass bei den Aushebungen viele militärpflichtige Juden wegen körperlicher Unzulänglichkeit zurückgestellt werden mussten.

Die vorübergehend in Italien konstituierte neue Staatsordnung beeinflusste nicht nur die staatsbürgerliche Stellung der Juden, sondern auch ihre gemeindliche Selbstverwaltung. Die Verzichtleistung auf die Gemeindeautonomie bildete überall die Bedingung für die Emanzipation. An Stelle der früheren Selbstverwaltung, die sich in so bedeutenden jüdischen Zentren, wie Rom, Venedig, Livorno, in einem weitverzweigten System national-kultureller Institutionen verkörperte, bot die Regierung des Kaiserreichs einen schlechten Ersatz in der Konsistorialorganisation nach Pariser Muster. Die italienischen Juden fanden sich in den meisten Fällen mit dieser offiziellen Selbstverwaltung ab und beklagten nicht die verlorene Autonomie, wie es mit den holländischen Juden der Fall war. Die Rabbiner und die Gemeindevorsteher nahmen einen überaus regen Anteil an den Arbeiten der Notabelnversammlung und des Synhedrions in Paris. An jeder dieser Versammlungen beteiligten sich etwa 25 Mitglieder aus Italien (was ungefähr ein Viertel der Gesamtzahl der Delegierten der ersten und ein Drittel der Delegierten der zweiten Versammlung ausmachte). Zwei italienische Rabbiner hatten sogar ihre Sitze im Präsidium; es waren dies der Rabbiner von Mantua Abraham de Cologna, früheres Mitglied der Regierung der Zisalpinischen Republik, und der Rabbiner von Piemont, Jehoschua Segre; als zweiter Referent des Synhedrions nach dem berühmten Furtado trat der Rabbiner von Venedig, Jakob Cracovia, auf. Die meisten italienischen Rabbiner schlossen sich der radikalen Gruppe der beiden Versammlungen an, die den assimilatorischen Bestrebungen Napoleons ein freundliches Entgegenkommen zeigte. Aus Italien stammte auch jener Delegierte Avigdor von Nizza, der in der Notabelnversammlung den Antrag stellte, die Wohltaten der katholischen Geistlichkeit im Andenken des dankbaren jüdischen Volkes zu verewigen (§22). Italien atmete damals den Geist der Freiheit. Viele suchten Berührung mit der christlichen Gesellschaft. Ein freundliches Entgegenkommen seitens der christlichen Gesellschaft genügte nicht selten, um in fortschrittlich gesinnten jüdischen Kreisen die Hoffnung auf ein baldiges Verschwinden aller nationaler und religiöser Schranken zu wecken. Über die Erfolge dieser Annäherung legten die Departementspräfekten in ihren Berichten ein beredtes Zeugnis ab (1808). Aber die annäherungssüchtigen Juden stießen nicht immer auf Gegenliebe. Das Zentralkonsistorium in Rom weiß darüber zu berichten (1810), dass in der katholischen Bevölkerung noch eine tiefe Abneigung gegen die Juden wurzelte. Die Berichte der Präfekten und der Konsistorien standen im Zusammenhange mit dem napoleonischen Unterdrückungserlass vom 17. März 1808, der im Eifer der Übereilung auch auf die italienischen Gebiete ausgedehnt worden war. Die Präfekten und die jüdischen Gemeinden unternahmen Schritte in Paris, um die Abschaffung des Erlasses herbeizuführen, indem sie den Nachweis zu liefern suchten, dass er die bereits begonnene Verschmelzung verhindern und den noch nicht ganz erloschenen religiösen Hass zu neuem Leben entfachen würde. „Die Anwendung des kaiserlichen Erlasses vom 17. März 1808 in dem mir unterstellten Departement“ — schrieb z. B. der Präfekt von Po (Piemont), „wird nicht nur die von seiner Majestät gewünschten Ergebnisse nicht zeitigen, sondern eher eine entgegengesetzte Wirkung erzielen: er wird den Prozess der Wiedergeburt der Juden, die mit dem Ausbruche der Revolution begonnen und nur durch die Gewährung der staatsbürgerlichen Rechte an die Juden erfolgreich fortgesetzt werden kann, beeinträchtigen und hemmen.“ Alle diese Gesuche blieben in Paris nicht ohne Wirkung und hatten einen gewissen Erfolg. Am 11. April 1810 wurden 15 italienische Departements von der Wirkung des „Schmachvollen Dekrets“ ausgenommen. Nur für die römischen Juden blieb der Erlass bestehen, und der Präfekt dieses Departements sowie das römische Zentralkonsistorium mussten sich noch im November 1810 um eine Erleichterung für Rom bemühen, „wo die Voreingenommenheit gegen die Juden stärker als irgendwo anders ist, und wo man solche Vorurteile doch nicht begünstigen darf“.

Die bürgerliche Gleichberechtigung, die das napoleonische Regime den italienischen Juden brachte, erlöste sie nicht von der wirtschaftlichen Not. Die italienische Bevölkerung überhaupt, und die jüdische im besonderen, war durch die ununterbrochenen politischen Krisen, durch Kriege, Requisitionen und französische Kontributionen wirtschaftlich zugrunde gerichtet: Unter diesen Krisen hatten besonders die jüdischen Handelsfirmen der Hafenstädte Livorno und Venedig zu leiden. Und doch blieb die durch die Gleichberechtigung ins Leben gerufene Gewerbefreiheit nicht ohne jede günstige Wirkung: sie brachte eine gleichmäßigere Beteiligung der jüdischen Bevölkerung an den verschiedenen Zweigen der wirtschaftlichen Tätigkeit mit sich. In dem am meisten zurückgebliebenen Teile Italiens, Piemont, trieb nur ein Drittel der jüdischen Bevölkerung Handel, die übrigen zwei Drittel beschäftigten sich mit Handwerk, Künsten, der Landwirtschaft und dem öffentlichen Dienste (nach Angaben aus den Jahren 1808 — 1811). Die im Staatsdienst beschäftigten Juden bekleideten in der Regel Ämter in der Stadtverwaltung als stellvertretende Maires und Munizipalräte, Postbeamte usw. Trotz der Vorurteile der christlichen Gesellschaft, deren Vertreter nach dem Zeugnis der Behörden nicht selten „in den Amtssitzungen nur ungern neben den Juden saßen,“ war die Zahl der jüdischen Beamten in einigen italienischen Städten nicht unerheblich.