§ 25 Holland (Batavische Republik und Königreich Holland)

Die Emanzipationsbewegung folgte in Europa der Bewegung der französischen Armeen, zunächst der republikanischen und dann der napoleonischen. Überall, wo unter französischem Einflüsse eine republikanische oder konstitutionelle Gesellschaftsordnung eingeführt wurde, erhielten die Juden die Gleichberechtigung für die ganze Lebensdauer der neuen staatlichen Ordnung, entweder mit einem Male oder nach mehr oder minder langen Kämpfen innerhalb der Parlamente der betreffenden Länder. Auf diese Weise wurde die Judenemanzipation in allen ephemeren Republiken jener Zeit vollzogen — in der Batavischen (Holland), der Zisalpinischen und römischen (Italien) und in der Helvetischen (Schweiz), von denen die beiden ersten unter dem napoleonischen Kaiserreich in „Königreiche“ verwandelt worden waren. In der Schweiz und in Italien, wo sie von außen aufgezwungen war, zeigte sich die Emanzipation als eine nur vorübergehende Erscheinung; hingegen fasste sie feste Wurzeln in Holland, wo der französische Einmarsch den ersten Anstoß zu einer selbständigen Lösung der Judenfrage gab.

Früher als alle anderen Länder wurde Holland, das Land der halben Freiheit und der verhältnismäßigen Toleranz, von den Strömungen der französischen Revolution ergriffen. Die 50.000 Juden Hollands, von denen sich ungefähr 20.000 in Amsterdam konzentrierten, bildeten den Mittelpunkt einer bedeutenden Kulturmacht, die zahlenmäßig der französischen Judenheit keineswegs nachstand und diese in Bezug auf die gesellschaftliche Organisiertheit sogar bei weitem übertraf. Obwohl die holländischen Juden nur Stiefkinder dieses reformierten Landes waren, wo auch die Katholiken Rechtseinschränkungen unterlagen, blieben ihnen doch alle die Formen gesellschaftlicher Sklaverei erspart, unter denen ihre Brüder in den benachbarten Ländern so viel zu leiden hatten. Eine weitgehende Gemeindeautonomie hielt in ihnen das Bewusstsein ihres kulturellen Zusammenhanges wach, der hin und wieder durch die Spaltung der Gemeinden in „portugiesische“ und „aschkenasische“ eine Schwächung erfuhr. Eine stramme Gemeindedisziplin prägte der Masse der holländischen Judenheit den Stempel einer konservativen Gesinnung auf, die auf die neue Emanzipationsbewegung eine hemmende Wirkung ausübte. Nur wenige Vertreter der jüdischen Gesellschaft von Amsterdam, die unter dem Einflüsse der Ideen des XVIII. Jahrhunderts und der Mendelssohnschen Schule standen, zeigten sich in der ersten Zeit für die Losungen der französischen Revolution und die aus dieser folgenden reformatorischen Forderungen empfänglich. Diese vereinzelten Vorkämpfer der Befreiungsbewegung schlössen sich dem liberalen, noch vor dem französischen Einmarsch in Amsterdam entstandenen Klub ,,Felix Libertate“ an, der die Prinzipien der Menschenrechte auf seine Fahne geschrieben hatte (1793 — 1794). In diesem Klub fanden sich einige angesehene Amsterdamer Juden mit Christen zusammen: der Kaufmann und Jurist Moses Salomon Asser und der Arzt de Lemon. Im Jahre 1795 ging der Traum der holländischen liberalen „Patrioten“ in Erfüllung: mit Hilfe der Truppen der französischen Republik vertrieben sie den Statthalter, Wilhelm V. von Oranien, und verwandelten die niederländischen Staaten in die Batavische Republik. Es wurde eine Deklaration der Rechte der holländischen Bürger erlassen, die die volle bürgerliche Gleichberechtigung aller Konfessionen zum Gesetze erhob. Am 4, März 1795 veranstalteten die Amsterdamer Juden in Gemeinschaft mit den Christen eine republikanische Kundgebung: die jüdischen Mitglieder des Klubs „Felix Libertate“ und die Zöglinge der Waisenanstalten beteiligten sich gemeinsam an der Zeremonie der Pflanzung des ,,Freiheitsbaumes“ vor dem Rathause.


In der Amsterdamer jüdischen Gemeinde fehlte es jedoch an Eintracht. Während die freidenkerische Minderheit die vollzogene Umwälzung mit Begeisterung aufnahm und sich von deren Folgen das Heil des jüdischen Volkes versprach, erblickte — oder vielmehr witterte — die orthodoxe Mehrheit den Beginn einer Auflösung des Judentums als einer nationalen Organisation. Die Konservativen begriffen, dass die frühere Gemeindeautonomie, die nicht nur das religiöse, sondern auch das öffentliche Leben der Juden regelte, einem unvermeidlichen Zusammenbruch entgegeneilen werde, sobald die Juden als vollberechtigte Mitglieder in die bürgerliche Gesellschaft eintreten, sobald das bisher einheitliche und auch wirtschaftlich abgesonderte jüdische Volk sich nunmehr in der einheimischen Bevölkerung nach Stand und Gewerbe verteilt: die jüdische Gerichtsbarkeit, die jüdische Schule, die Umgangssprachen der Aschkenasim und der Portugiesen (der deutsche und spanisch-portugiesische Jargon) werden vollständig verschwinden, und was die religiöse Disziplin betrifft, so wird sie dem landläufigen französischen Unglauben kaum standhalten können und unter dessen Einwirkung eine innere Lockerung erfahren. Zu diesen Befürchtungen allgemeiner Natur gesellten sich auch rein persönliche Erwägungen: Die Rabbiner und Oberhäupter der aschkenasischen und portugiesischen Gemeinde in Amsterdam, die allmächtigen „Parnassim“, konnten sich mit dem Gedanken einer Schmälerung ihrer Macht unmöglich befreunden, und die bevorstehende Abschaffung der alten Reglements, die ihnen die gesetzliche Möglichkeit gaben, innerhalb der jüdischen Bevölkerung die Rolle einer Regierung zu spielen, flößte ihnen Besorgnis ein. Und da geschah es, dass, als die freigesinnten Mitglieder der Amsterdamer Gemeinde sich an die Parnassim mit der Bitte wandten, die republikanische Deklaration der Rechte in der Synagoge zu verlesen, sie eine entschiedene Absage erhielten. Die Parnassim sammelten eine stattliche Anzahl von Unterschriften, welche bestätigten, dass die Verlesung einer republikanischen Deklaration in den Bethäusern den Forderungen der jüdischen Religion zuwiderlaufe. Die Liberalen verfassten darauf einen Protest gegen die Handlungsweise der Führer und ließen ihn in den Synagogen anschlagen; diese Aufrufe wurden jedoch auf Befehl der Parnassim heruntergerissen.

So entstand eine Spaltung innerhalb der holländischen Judenheit in einem Augenblick, wo ein einheitliches Vorgehen am nötigsten gewesen wäre, denn die Wahlen für die Nationalversammlung der Batavischen Republik standen vor der Türe. An diesen Wahlen durften sich die Juden frei beteiligen; aber infolge der inneren Zwistigkeiten und Reibungen nahmen sie an der Wahlkampagne einen nur schwachen Anteil; daher gelang es ihnen nicht, irgendeinen jüdischen Delegierten in das erste Parlament zu bringen. Als die Nationalversammlung zu tagen begann, ging ihr ein Gesuch von den jüdischen Mitgliedern des Klubs Felix Libertate zu, das seitens der Aschkenasim von Moses Asser und seinem jungen Sohn Karl, Herz Bromet und Isaak Jonge, seitens der Sephardim — vom Arzt de Lemon imd Jakob Sasportas unterzeichnet war. Die Führer der jüdischen liberalen Partei ersuchten die Mitglieder der Nationalversammlung, für die rechtliche Gleichstellung der Juden mit allen anderen Bürgern zu sorgen. Nachdem die Juden — hieß es im Gesuch — effektiv zu Bürgern geworden sind, erwarten sie die juristische Bekräftigung ihrer Gleichberechtigung; nachdem die jüdische Bevölkerung sich an den Wahlen beteiligt hat, kommt ihr auch das Recht zu, die christlichen Delegierten als ihre eigenen Vertreter zu betrachten und von ihnen den Schutz ihrer Interessen zu verlangen (März 1794). Die Nationalversammlung setzte eine besondere Kommission zur Untersuchung der jüdischen Frage ein.

Die Kommission stand vor einer schwierigen Aufgabe: es handelte sich darum, eine Frage zu lösen, an die sich so viele Vorurteile innerhalb der christlichen Gesellschaft knüpften und die die jüdische Gesellschaft selbst in zwei Parteien spaltete. Die holländischen Volksvertreter mussten dem in der Geschichte der Emanzipationsbewegung einzig dastehenden Umstände Rechnung tragen, dass nur die Minderheit der jüdischen Gesellschaft die Gleichberechtigung erstrebte, während die Mehrheit dem alten Regime zuneigte. Um die Wirkung dieser Tatsache abzuschwächen, begann eine winzige Gruppe jüdischer Fortschrittler eine intensive Agitation zu betreiben. Sie ließen der Parlamentskommission eine Anzahl von Denkschriften zugunsten der Gleichberechtigung zugehen, unter anderen auch das Werk von. David Friedrichsfeld*), einem aus Deutschland stammenden Vertreter der Mendelssohnschen Schule.

*) Die Denkschrift Friedrichsfelds erschien später in hebräischer Sprache unter dem Titel: „Diwre Negidim“ (vgl. die bibliographischen Anmerkungen zu diesem Paragraphen).

Im August 1796 unterbreitete die Kommission der Nationalversammlung einen in einem liberalen Geiste verfassten Bericht. In der Kammer entspannen sich allgemeine Debatten, die acht Tage dauerten und sich durch außerordentliche Leidenschaftlichkeit auszeichneten. Als Referent der Kommission trat der Delegierte Hahn auf, der eine überzeugende Rede zugunsten der Emanzipation hielt. Die holländischen Juden — sagte er — erwiesen sich als Anhänger der alten Ordnung und der oranischen Dynastie, die ihnen Schutz gewährte, aber durch Gewährung der Freiheit und Gleichberechtigung kann sie die Republik viel stärker an sich fesseln. Derartige Ergebnisse zeitigte bereits die Judenemanzipation in Nordamerika und in Frankreich. Der Redner berührte auch den wundesten Punkt des Emanzipationskampfes: die Frage der jüdischen Nationalität. „Können wir Menschen, die während 2.000 Jahre über keinen Staat mehr verfügen, als eine Nation oder ein besonderes Volk betrachten ? Der Ausdruck Nation lässt sich nur auf einen staatlichen, keineswegs religiösen Verband anwenden: wir bezeichnen die Gruppen der Anhänger der lutherischen oder calvinischen Glaubenslehre in den verschiedenen Staaten doch nicht als Nationen. Wahr ist es allerdings, dass die Juden an den Wiederaufbau ihres alten palästinischen Staates glauben, aber wir Christen sind doch davon überzeugt, dass dieser messianische Glaube niemals in Erfüllung geht.“ Darauf ergriff der Abgeordnete Hammelsfeld das Wort: „Die Juden sind keine Bürger, sondern Fremdlinge. Sie kamen einst als Verfolgte nach Holland und fanden hier Unterkunft und Duldung. Damit sollen sie sich begnügen und keine Ansprüche auf staatsbürgerliche Rechte erheben. Sie bezeichnen sich selbst als Nation, und auch wir bezeichnen sie so und halten sie nicht für einen Bestandteil des holländischen Volkes.“ In seiner Erwiderung auf die Rede Hahns berührte er das messianische Dogma und sagte: „Ich bin zwar selbst Christ, und doch glaube ich, dass die Verheißung Gottes dereinst in Erfüllung geht, und die Juden nach ihrem Heimatlande zurückkehren.“ Des ferneren machte der Redner auf den Umstand aufmerksam, dass von den 50.000 in Holland ansässigen Juden nur ein winziger Teil die Gleichberechtigung anstrebt, und dass die übrigen möglicherweise kein Verlangen danach tragen; er erinnerte daran, dass die Juden im Jahre 1787, zur Zeit des „Patriotenaufstandes“ gegen den Statthalter Wilhelm von Oranien die Partei des letzteren ergriffen hatten. Aus allem zog er die Schlussfolgerung, dass man den Juden Gleichberechtigung wohl gewähren könne, aber nur unter der Bedingung, dass sie auf ihre Sitten, Gemeinden und Institutionen (mit Ausnahme der religiösen) Verzicht leisten und nur eine Anzahl von „Individuen“ unter den batavischen Bürgern darstellen.

Auf diese beiden Reden, die die ganze Zwiespältigkeit des jüdischen Problems je nach dessen politischer und nationaler Gestaltung und Verwurzelung klar zum Ausdruck brachte, folgten viele andere, die nur die Beweisführung des ersten oder des zweiten Redners wiederholten. Die grundlegende Meinungsverschiedenheit zwischen den Befürwortern und Gegnern der Emanzipation trat hier mit weit größerer Deutlichkeit und Prägnanz als in der französischen Nationalversammlung hervor. Dass das Staatsbürgertum sich mit der jüdischen Nationalität nicht vertrage — darin waren sich beide Parteien einig, aber während die eine das Vorhandensein einer jüdischen Nationalität überhaupt leugnete, stellte die andere die Möglichkeit eines jüdischen Staatsbürgertums in Abrede. Der Abgeordnete Floh beantragte, die Juden selbst zu befragen, ob sie sich in Bezug auf die Nationalität als „Batavier“ oder als Juden betrachten. Er gab der Überzeugung Ausdruck, dass, abgesehen von einer winzigen Gruppe „Atheisten oder Naturalisten“, alle anderen ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Volke anerkennen werden; trotzdem schlug er vor, die Juden in rechtlicher Beziehung allen anderen Bürgern gleichzustellen, aber unter der einzigen Bedingung, dass jeder Jude binnen eines Jahres die Verpflichtung eingehe, keine andere Nationalität als die batavische anzuerkennen. Ein anderer angesehener Abgeordneter, der bekannte Staatsmann Schimmelpenninck, verfocht die Gleichberechtigung für die Juden als „Individuen“, aber nicht für die Juden als einen völkischen Verband. Auf dem Boden dieser abstrakten Idee (einer Wiederholung der Losung Clermont-Tonnerres, siehe oben § 15) vereinigten sich die Anhänger und die Gegner der Emanzipation, so dass sie zum Schlüsse die konkreten Meinungsverschiedenheiten außer acht ließen. Nach achttägigen Debatten, an denen sich etwa dreißig Abgeordnete beteiligten, gelangte die Nationalversammlung zu einem für die Juden günstigen Resultat. Unter dem Drucke des französischen Botschafters Noël, der auf die Proklamierung der jüdischen Emanzipation nach dem französischen Muster drängte, wurde dieses Resultat beschleunigt, und am 2. September 1796 wurde folgender Beschluss dekretiert: ,,Kein einziger Jude darf der mit dem batavischen Staatsbürgertum verbundenen Rechte und Vorrechte beraubt werden, sofern er von ihnen Gebrauch machen will, und zwar unter der Bedingung, dass er allen Forderungen genügen und alle durch die Verfassung festgestellten Pflichten erfüllen wird.“

Dieses Dekret beseitigte mit einem Schlage die weitgehende Selbstverwaltung der jüdischen Gemeinden mit allen ihren autonomen Institutionen außer der rein religiösen; die von den konservativ-nationalen Kreisen der Amsterdamer Judenheit gehegte Befürchtung wurde also zur Tatsache. In diesem Akte, der den Fortschrittlern als Triumph der Gerechtigkeit und der bürgerlichen Freiheit erschien, spürten sie eine Verletzung der inneren Freiheit der Nation. Nach allem, was vorgefallen war, konnten die Fortschrittler innerhalb der alten Gemeinde nicht weiter verbleiben; eine kleine Gruppe schied aus und bildete zu Amsterdam eine besondere Gemeinde, die sich „Adath Jeschurun“ nannte und eine eigene Syniagoge mit einem eigenen Rabbiner an ihrer Spitze hatte. Die neue Kongregation führte bei sich eine Anzahl Reformen ein: der religiösen Erziehung wurde statt des Talmudstudiums das der Bibel zugrunde gelegt, die Predigt in holländischer Sprache eingeführt, die Sitte der schnellen Bestattung der Verstorbenen abgeschafft, aus dem Gebetbuche veraltete, gegen getaufte Juden gerichtete Fluchformen ausgemerzt usw. Diesen offenen Abfall beantwortete die alte orthodoxe Gemeinde mit Bannflüchen und Repressalien. Die Parnassim strengten gegen die „Abtrünnigen“ einen gerichtlichen Prozess an, indem sie von jedem der abgefallenen Mitglieder einen Schadenersatz im Betrage von 1.000 Gulden für die Entziehung der Gemeindesteuern und verschiedener anderer Gebühren forderten. Der Magistrat von Amsterdam und die Stadtrichter unterstützten diese auf alten Privilegien begründeten Ansprüche, und den Fortschrittlern drohten unangenehme Folgen. Da griff die von dem französischen Gesandten Noel inspirierte Regierung ein. Sie ließ durch Munizipalbeamte bekanntgeben, dass die alten Statuten der Amsterdamer Gemeinde, die nicht nur die religiösen, sondern auch die zivilen Angelegenheiten der Juden regelten, im Augenblick der Veröffentlichung des Dekretes von der Gleichberechtigung ihre Gültigkeit verloren hätten und dass infolgedessen die frühere Verwaltung in Person der Parnassim ihrer Vollmachten verlustig ginge; die Parnassim müssten ihrer Ämter enthoben werden und an ihre Stelle solle ein aus fünf Personen bestehendes Kollegium zur Regelung der Gemeindeangelegenheiten auf Grund neuer Statuten treten (16. März 1798). Die Reform wurde sofort verwirklicht. Die neuen Gemeindevorsteher wurden aus der Mitte jener fortschrittlich gesinnten Minderheit gewählt, die sich mit der geschmälerten Selbstverwaltung der Gemeinde bereits abgefunden hatte. Die errungene bürgerliche Gleichberechtigung versetzte auf diese Weise einen harten Schlag nicht nur der Verbohrtheit imd dem Fanatismus der eifrigen Hüter veralteter Traditionen, sondern auch der dutch die Anstrengungen von Generationen erworbenen autonomen Organisation des Judentums. Die Emanzipation heilte mit der einen und verwundete mit der anderen Hand.

Bei alledem verfehlte die Frühlingsluft der politischen Freiheit ihre Wirkung auf die Gemüter nicht. Die Juden kamen in immer engere Berührung mit dem politischen Leben des Landes. Als es zu den Wahlen für die zweite Nationalversammlung kam, entfalteten sie eine bei weitem regere Tätigkeit als früher und beteiligten sich am Wahlkampfe in weit größerem Umfange; es gelang ihnen, zwei Delegierte aus ihrer Mitte in das Parlament zu bringen — die Amsterdamer Liberalen de Lemon und Bromet (1797). Es waren dies die ersten jüdischen Parlamentsabgeordneten in Europa. Die Wahlen in die dritte Nationalversammlung (1798) ergaben einen neuen jüdischen Abgeordneten — Isaak da Costa Athias, ein ehemaliges Mitglied des Stadtrates von Amsterdam. Hervorragende Persönlichkeiten wurden in den Gerichts und Munizipaldienst aufgenommen. So wurde beispielsweise der bereits erwähnte Moses Asser zum Beamten am Justizministerium ernannt.

Trotzdem sind alle diese Erscheinungen der jugendlichen „Sturm- und Drang“-Periode der Batavischen Republik nur wenig geeignet, uns ein richtiges Bild von den realen Veränderungen innerhalb der sozialen Lage der Juden zu geben. In der Praxis konnte man auch hier die übliche Erscheinung beobachten: die auf dem Papier gewährte Gleichberechtigung, die mit alten Gewohnheiten schwer zu kämpfen hatte, setzte sich im Leben nur mit Mühe und Not durch. Während jüdische Abgeordnete an den Parlamentssitzungen teilnahmen, war jüdischen Kindern der Zutritt zu den öffentlichen Lehranstalten verwehrt. Eine stattliche Anzahl von Rechtseinschränkungen bewahrten noch ihre volle Geltung, und in den letzten Jahren dieser ephemeren Republik, als der Freiheitsdrang merklich nachzulassen begann, gaben sich diese Rechtseinschränkungen besonders scharf zu erkennen. Erst der Regierung des Königreichs Holland, das im Jahre 1806 die Batavische Republik ablöste, war es beschieden, die Sache der Emanzipation zu ihrem Abschlüsse zu bringen. Der neue Landesfürst Ludwig Bonaparte, ein Bruder des Kaisers von Frankreich, sorgte für die strikte Wahrung aller die Juden betreffenden Gesetzesparagraphen, wie er auch sonst den Juden sehr gewogen war. Unter anderem schaffte Ludwig den veralteten, das jüdische Ehrgefühl verletzenden, unter dem Namen „more judaico“ bekannten gerichtlichen Eid ab; aus Rücksicht auf die religiösen Überzeugungen der Juden ordnete er die Verlegung der Jahrmarktstage von Sonnabend auf Montag an.

Sein erstes Regierungsjahr fiel mit dem feierlichen Augenblick zusammen, als die "jüdischen Parlamente“ in Paris, die Notabeln- und Synhedrionsversammlungen ihre Tätigkeit zu entfalten begannen. Eine freudige Erregung hatte sich aller fortschrittlich gesinnten holländischen Juden bemächtigt. Mit Spannung und angestrengter Aufmerksamkeit verfolgten sie die Vorgänge innerhalb der Notabelnversammlung, deren Beschlüsse eine nahe Verwandtschaft mit ihren eigenen, von altersher genährten Idealen zu haben schienen. Die Freude der Fortschrittler steigerte sich zu einem grenzenlosen Jubel, als das Rundschreiben der Pariser Versammlung über die Einberufung des ,,Großen Synhedrions“ nebst der Einladung, Bevollmächtigte zu schicken, in Amsterdam anlangte. In der Sitzung vom 15. Oktober 1806 beschloss die Verwaltung der reformierten Gemeinde „Adath Jeschurun“, eine Abordnung zur Mitwirkung an den „großen Zielen“ des von „Napoleon dem Großen, dem Retter Israels“ einberufenen Synhedrions nach Paris zu schicken. In einer besonderen Audienz beim König Ludwig baten ihn die Gemeinde Vorsteher um die Erlaubnis, eine solche Abordnung zu schicken; dabei ergingen sie sich in begeisterten Gefühlsäußerungen über „die herrlichen, nur der Familie Napoleon eigenen Tugenden“ und gaben der Hoffnung Ausdruck, dass die lichten Freiheitstage, die in den letzten Jahren der Batavischen Republik durch die teilweise Wiederherstellung der alten Ordnung getrübt worden waren, mit dem neuen Herrscher zurückkehren würden. Die Erlaubnis wurde erteilt; die Abordnung bestand aus folgenden drei Personen: dem gewesenen Parlamentsmitglied de Lemon, dem jungen Advokaten Karl Asser und dem Talmudisten und Mathematiker Jehuda Litwak, einem aus Polen stammenden Juden, der zu einem der Führer der reformierten Amsterdamer Gemeinde geworden war. Die Abordnung kam in Paris bereits nach der Eröffnung des Synhedrions an und beteiligte sich zum erstenmal an dessen zweiter Sitzung (12. Februar 1807). Die drei Mitglieder der Abordnung wandten sich an die Versammlung mit Begrüßungsreden in französischer und hebräischer Sprache (hebräisch sprach nur J. Litwak). Die Reden überströmten von Ausdrücken der Freude über die Einberufung des Synhedrions, das eine neue Ära in der Geschichte des jüdischen Volkes eröffnet habe, eine Ära des Glückes, der Freiheit und der Aufklärung. Dem Vorsitzenden der Versammlung überreichten die Abgeordneten eine schriftliche Erklärung der Gemeinde Adath Jeschurun, die sie ermächtigt hatte, sich den Resolutionen des Synhedrions in allen von Napoleon beantragten Fragen anzuschließen. Die Vollmachten wurden gewissenhaft ausgenützt: die Amsterdamer Abgeordneten fanden, dass sämtliche Beschlüsse des Synhedrions den Geist der Weisheit atmeten und das Wohl des jüdischen Volkes im Auge hätten; in ihren in der letzten Sitzung gehaltenen Abschiedsreden sprachen sie es deutlich aus. Karl Asser erinnerte in seiner Rede daran, dass die Aufklärungsprinzipien des Synhedrions mit jenen identisch wären, die die Gründer der Gemeinde Adath Jeschurun bereits im Jahre 1796 beseelt hätten. Der Redner sah schon im Geiste den „Tempel der Toleranz“, in welchem die Völker sich zusammenfinden werden, um dem „Vater aller Menschen“, wiewohl auf verschiedene Weise, zu dienen. De Lemon sagte, dass die aufgeklärten Juden in den Beschlüssen des Synhedrions Beruhigung für ihr Gewissen und eine feierliche Bestätigung ihrer notwendigen religiösen Reformen finden werden. Litwak prophezeite dem Synhedrion ewigen Ruhm bei den künftigen Generationen . . . Die künftigen Generationen bestätigten jedoch diese Prophezeiung nicht.

Die bittere Enttäuschung an den napoleonischen „Wohltaten“, die auf die Auflösung des Synhedrions folgte, wurde in Holland nicht so schmerzlich wie in Frankreich empfunden. Das „Schmachvolle Dekret“ von 1808 hatte in der Gesetzgebung dieses Königreichs keinen Nachhall gefunden. Und auch die Gemeindereform nach dem Muster des französischen Konsistoriums vermochte in diesem Boden keine festen Wurzeln zu fassen: die Zersplitterung der Gemeinden, die Kluft zwischen Konservativen und Fortschrittlern und der noch ältere Bruch zwischen den Aschkenasim und den Portugiesen — dies alles stand diesem Beginnen hindernd im Wege. Alle diese zersplitterten Elemente suchte die Regierung durch die Schaffung einer „starken Macht“ in Gestalt des „Zentralkonsistoriums“ zu vereinigen; dieses Konsistorium wurde in Amsterdam zur Verwaltung der Angelegenheiten der jüdischen Gemeinde im gesamten Königreich (September 1808) gegründet. Aber dieses aus zwölf Mitgliedern bestehende Zentralkonsistorium erwies sich als ohnmächtig und vermochte weder gegen den alten Streit zwischen den Aschkenasim und Portugiesen, noch gegen die allgemeine, durch die rasche politische und kulturelle Umwälzung im Leben der Juden bedingte Zerfahrenheit etwas auszurichten. Die geplante Eröffnung von Provinzialkonsistorien wurde verhindert. Das Amsterdamer Konsistorium, das vornehmlich aus der Regierung nahestehenden Reformisten bestand, spielte nur die Rolle eines besonderen Regierungsdepartements in jüdischen Angelegenheiten. Im Jahre 1809 betätigte es sich an der Heranziehung der Juden zum Militärdienst. Da verschiedene Bataillone der holländischen Bürgermiliz keine Juden aufnahmen, wurde beschlossen, ein besonderes, aus jüdischen Milizionären bestehendes Regiment zu bilden. Dieser vom König Ludwig gebilligte Plan ging bald in Erfüllung, und noch im selben Jahre kam ein eigenartiges jüdisches Korps zustande. Das Korps setzte sich aus zwei Bataillonen Infanterie zusammen, von denen jedes 883 Mann zählte. An der Spitze standen jüdische Offiziere. Diese eigentümliche Armee war nicht von langer Dauer. Als nach der Abdankung Louis Bonapartes Holland im Jahre 1810 an das französische Kaiserreich kam, wurden auch die jüdischen Soldaten den verschiedenen französischen Regimentern zugeteilt. Zwei Jahre darauf wurde Holland von den deutsch-russischen verbündeten Truppen, die die Franzosen vertrieben hatten, besetzt, und im Jahre 1815 wurde die oranische Dynastie wiederhergestellt. Die Übergangsperiode der „ersten Emanzipation“ war zu ihrem Abschluss gekommen.

Es war dies eine stürmische Epoche, die alle Lebenssphären, der holländischen Judenheit erschütterte. Ganz besonders machte sich die Krise auf wirtschaftlichem Gebiete geltend. Das napoleonische „Kontinentalsystem“, das gegen den Handel Großbritanniens gerichtet war und den gesamten europäischen Handel in Mitleidenschaft zog, wirkte besonders verheerend auf Holland und dessen jüdische Kaufmannschaft, die in vielverzweigten und mannigfachen Beziehungen zu Großbritannien stand. Die reichen Kaufleute schlössen ihre Handelshäuser und lebten von ihren angehäuften Vermögen; die unbemittelten Klassen litten äußerste Not. Die Armut nahm derartige Dimensionen an, dass zwei Drittel der Aschkenasim in der Amsterdamer Gemeinde von Unterstützungen leben mussten. Die Bevölkerung Amsterdams hatte sich während der Republik und des Kaiserreichs vergrößert: in den Jahren 1808 — 1813 zählte die Gemeinde der Aschkenasim 30.000 und die der Portugiesen 2.800 Seelen. Im Haag lebten 2.180 Juden; bedeutende Gemeinden von Aschkenasim befanden sich außerdem in Rotterdam, Leyden und Groningen. Auf dem Gebiete der geistigen Kultur tobte ein ununterbrochener Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen. In den breiten Schichten der Aschkenasim behauptete sich mit Zähigkeit der deutsch-polnische „Jargon“. In den traditionellen Schulen, den Chedarim und den Jeschiwoth, die von der reformierten jüdischen Schule noch lange nicht verdrängt waren, wurde der Unterricht in dieser Sprache geführt. Um die letztere kümmerten sich übrigens die Reformer sehr wenig: die „neuen Männer“ schickten ihre Kinder in die allgemeinen christlichen Schulen, sobald man sie dort aufnahm; aber diese Schulen zogen eine Generation von Assimilanten groß. Das Zentralkonsistorium, die Hochburg der Neologen, führte einen hartnäckigen Kampf gegen den „Jargon“ und verlangte von den Synagogenverwaltungen, dass sie ihre geschäftliche Korrespondenz in holländischer Sprache führen; aber diese Forderung wurde selten erfüllt. Die begonnene Übertragung des Pentateuchs in die holländische Sprache wurde nicht zum Abschluss gebracht. Im allgemeinen machte hier die relative Dichte der jüdischen Bevölkerung den Widerstand gegen die Assimilation stärker und erfolgreicher als in allen anderen Ländern.