§ 23. Das große Synhedrion zu Paris

Am 9. Februar 1807 wurden in Paris die Sitzungen des Synhedrions eröffnet. Die Synode setzte sich aus 46 geistlichen Personen und 25 Laien zusammen, dazu 10 Stellvertretern und 2 Schriftführern. Der überwiegende Teil der neu gewählten Rabbiner gehörte den italienischen und deutschen Provinzen an. Das vom Minister des Inneren ernannte Präsidium bestand aus 3 Rabbinern, die die Ehrentitel der Mitglieder des Präsidiums des alten Synhedrions führen durften: als Präsident (nassi) fungierte der elsässische Rabbiner David Sinzheim, als sein erster Gehilfe (ab-bethdin) der italienische Rabbiner Segre, als sein zweiter Gehilfe (chacham) Abraham de Cologna aus Mantua. Nach einem Gottesdienste in der Synagoge, bei dem die Rabbiner Sinzheim und Cologna Reden hielten, wurde die Sitzung in einem der Räume derselben, „Hôtel de Ville“, eröffnet, wo früher die „Notabeln“ getagt hatten. Große Aufmerksamkeit wurde der dekorativen Seite der Sache zugewendet. Nach Anordnung der Behörden waren alle Mitglieder des Synhedrions mit schwarzen Mänteln und schwarzen Hüten bekleidet, die Mitglieder des Präsidiums außerdem mit Talaren aus Samt oder Seide mit breiten Gürteln und pelzverbrämten Hüten. Die Mitglieder saßen im Halbkreise, zu beiden Seiten des Präsidiums, in einer nach dem Alter bestimmten Rangordnung. Die Sitzungen waren öffentlich und boten ein interessantes Schauspiel nicht nur für das jüdische, sondern auch für das christliche Publikum. Dies störte die Freiheit der Debatten und verurteilte viele Delegierte, die sich genierten, ihre tiefempfundenen, aber nicht modernen Überzeugungen auszusprechen, zum Schweigen.

Und in der Tat bildeten die Synhedrionssitzungen nur einen mit feierlichen Zeremonien umstellten Nachtrag zu der Arbeit, die von der Versammlung der Notabelndelegierten bereits vollendet worden war. Der lebendige Zusammenhang zwischen diesen beiden Versammlungen machte sich auf eine drastische Weise geltend und lag klar vor aller Augen: der Vorsitzende der früheren Versammlung, Furtado, trat als Referent in den wichtigsten Fragen der Synhedrionssitzungen auf. Das Synhedrion brachte es im Verlaufe von sieben Sitzungen fertig, die Antworten der Delegiertenversammlung auf alle zwölf Fragen einer Prüfung zu unterziehen und außerdem einen schönen Vortrag Furtados über jede einzelne Frage anzuhören; die Antworten der früheren Versammlung wurden fast ohne Debatten und einstimmig angenommen; dargelegt wurden sie jedoch in der Form von „belehrenden Beschlüssen“ (decisions doctrinales) mit Zusätzen in der Formulierung und im erläuternden Texte. In der neuen, dem Texte der Antworten vorangeschickten ,,Deklaration“ wurde die prinzipielle Stellungnahme des Synhedrions zur Frage der Verträglichkeit der jüdischen Gesetze mit denen des Staates zum Ausdruck gebracht. In dieser offensichtlich von Furtado inspirierten Deklaration wurde gesagt, dass die jüdischen Gesetze in zwei Kategorien eingeteilt werden müssen: in religiöse und politische. Die ersteren seien unveränderlich und weder an zeitliche noch an örtliche Bedingungen gebunden. Was jedoch die politischen Gesetze betrifft, die aus einer Zeit stammen, als das jüdische Volk ein selbständiges Dasein in seinem ehemaligen Heimatlande Palästina führte, so hätten sie ,,jede Wirksamkeit eingebüßt, seitdem das jüdische Volk aufgehört hat, einen nationalen Organismus zu bilden“. Aber auch die religiösen Vorschriften müssen bei einem eventuellen Zusammenstoße mit den staatsbürgerlichen Gesetzen vor diesen zurücktreten oder wenigstens sich ihnen anzupassen suchen — der letztere Gedanke wurde zwar in der einleitenden Deklaration nicht direkt ausgesprochen, gewann aber greifbare Gestalt in einer ganzen Reihe von Synhedrionsbeschlüssen. So hat beispielsweise das Synhedrion in den mit der Ehescheidung zusammenhängenden Fragen die Ungültigkeit aller rabbinischen Entscheidungen betreffs Eheschließungen und Ehescheidungen beschlossen, denen nicht entsprechende standesamtliche Akte vorangegangen waren. In der


Frage der Mischehen wurde dem betreffenden Beschluss eine sehr konziliante Form gegeben: solche Ehen bewahren ihre volle Gültigkeit in staatsbürgerlicher Hinsicht, und obwohl sie keine religiöse Sanktion erhalten können, ziehen sie doch kein Anathema nach sich. Über das Verschwinden des nationalen Familientypus bei Mischehen brauchte man sich keine Sorgen zu machen, nachdem das Judentum zu einer abgestorbenen Nation erklärt worden war . . . Des ferneren beschloss das Synhedrion, dass die jüdischen Soldaten während ihres Dienstes aller mit dessen Ausübung unvereinbaren religiösen Verpflichtungen enthoben werden. Und nur in den die Gewerbe und den Wucher betreffenden Fragen führte das Synhedrion eine würdige Sprache, indem es die schändlichen Wuchergeschäfte aufs Entschiedenste verurteilte und die Stammesgenossen zu nutzbringenden, nunmehr allen zugänglichen Beschäftigungen aufrief.

Die Tagung des Synhedrions dauerte genau einen Monat. Die Schlusssitzung fand am 9. März 1807 statt. Der Vorsitzende verlas ein Schreiben der kaiserlichen Kommissare, in dem es hieß, dass die Regierung die Arbeiten des Synthedrions für glücklich abgeschlossen erachte. Das Synhedrion wurde geschlossen, aber die meisten seiner Mitglieder kehrten zur Delegiertenversammlung zurück, die die Rolle einer allgemeinen Versammlung spielte und am 25. März ihre Sitzungen wieder aufnahm. Furtado referierte über die Tätigkeit des Synhedrions und redete im Tone eines Menschen, der eine mühevolle Heldentat vollbracht hatte. Und nur als die Rede auf den alle Anwesenden peinlich berührenden Umstand kam, dass die Synhedrionsmitglieder keiner Audienz beim Kaiser gewürdigt worden waren, verriet seine Rede eine etwas resignierte Wendung: die plötzliche Abreise des Kaisers an die Front habe ihn verhindert, die jüdischen Vertreter zu empfangen, sowie sie auch diese Vertreter daran verhindert habe, sich bei „unserem herrlichen Wohltäter“ persönlich zu bedanken. In den darauffolgenden Sitzungen nahm die Versammlung nach langen Debatten eine Resolution an, worin dem Wunsche Ausdruck gegeben wurde, gegen all jene jüdischen Wucherer und Trödler mit äußerster Strenge vorzugehen, die durch ihr Benehmen zu verschiedenen Beschwerden Anlass geben und auf alle anderen „Glaubensgenossen“ einen Schatten werfen; zugleich wurde jedoch beschlossen. Schritte zur Abschaffung des die Juden ruinierenden Erlasses vom 30. Mai 1806 zu unternehmen, der die Schuldforderungen annullierte. Nach der Verlesung einer einfachen Erklärung der Kommissare, dass sämtliche der Versammlung überwiesenen Arbeiten nun beendet seien, wurde die Delegiertenversammlung am 6. April 1807 geschlossen.

Diese beiden jüdischen „Parlamente“, die ihre Entstehung einer Laune Napoleons verdankten, verloren für ihn nach und nach jedes Interesse. Anfangs wuchsen die Gelüste des Kaisers immer mehr in dem Maße, als die jüdischen Vertreter sich gefügiger und nachgiebiger zeigten. Abgesehen von den bereits gemachten Konzessionen, erwartete er vom Synhedrion folgende drei gegen die jüdische Bevölkerung gerichtete Maßnahmen*); das Verbot von Leihoperationen und die Beschränkung aller anderen Geschäftszweige für eine bestimmte Frist; die Förderung von Mischehen, die sogar einer bestimmten Norm unterliegen sollten: eine Mischehe auf zwei jüdische Ehen („damit das jüdische Blut seine spezifischen Eigenschaften einbüße“); schließlich verlangte er, dass das Synhedrion die genaue Erfüllung der Militärpflicht durch die Juden sicherstelle. Das Bestreben Napoleons ging überhaupt darauf aus, durch Vermittlung der jüdischen ,,Vertreter“ die Juden dauernd bevormunden zu können; das Synhedrion sollte ihm die nötigen Handhaben dazu geben. Sein getreuer Diener, der Minister Champagny, war mit seinem Herrn in diesem Punkte eines Sinnes. „Diese Versammlungen“, schrieb er dem Kaiser, „sollen uns eine Waffe gegen sich selbst, wie gegen das durch sie vertretene Volk in die Hände spielen.“ Dies war die Sprache, die die zwei Auguren der Politik in jenen Tagen führten, als die jüdischen Delegierten sich in Lobhymnen auf den ,,herrlichen Wohltäter, Napoleon den Großen“ ergingen, den Gott zur Rettung der bedrückten ,,Nachkommen des alten Jakob“ als „Werkzeug seiner Gnade“ erkoren habe. Bald traten die geheimen Pläne des Kaisers ans Licht, und die Juden bekamen seine ,,wohltätige“ Hand am eigenen Leibe zu spüren.

*) Wie aus dem Briefwechsel Napoleons mit dem Minister des Inneren Champagny zu ersehen ist.