§ 22. Versammlung der Notabeln

Die Vorbereitungen zu dem durch den Beschluss vom 30. Mai 1806 einberufenen „jüdischen Parlament“ nahmen einen raschen Verlauf. Gemäß der ihnen erteilten Weisung setzten die Departementspräfekten eine bestimmte Zahl von Abgeordneten für ihre Wahlbezirke fest, die aus der Mitte der Rabbiner, Geschäftsleute und sonstiger angesehener Personen gewählt wurden. Man fasste vornehmlich gebildete, fortschrittlich gesinnte Personen ins Auge, die fähig wären, die ,,wohlwollenden Absichten der Regierung“ vollauf zu würdigen. In den Departements des eigentlichen Frankreichs, und dann auch in Elsaß-Lothringen und den angrenzenden deutschen Provinzen wurden 74 Abgeordnete gewählt, von denen zwei Drittel auf die Rheindepartements entfielen; diese Zahl wurde jedoch in der Folge vergrößert. Abgesehen davon, schickte auch das dem Kaiserreiche angegliederte Königreich Italien (Venedig, Turin, Ferrara usw.) seine Vertreter, so dass bei der Eröffnung der Versammlung etwa 112 Abgeordnete aus dem ganzen Kaiserreiche anwesend waren.

Unter den Abgeordneten ragten besonders die durch ihre frühere Tätigkeit bekannten Abraham Furtado aus Bordeaux. Beer-Jsaak Berr aus Nancy und der Straßburger Rabbiner David Sinzheim hervor. Furtado war der Vertreter der Sephardim, die während der Revolution so energisch ihre Verschiedenheit von der aschkenasischen Mehrheit (§ 16) unterstrichen hatten. Furtado, ein alter Voltairianer und Girondist, seiner Gemütsveranlagung nach mehr Franzose als Jude, flößte den Vertretern der deutschen Departements kein besonderes Vertrauen ein. Die elsässischen Abgeordneten meinten im Scherz, dass Furtado die Bibel ausschließlich aus den Werken Voltaires kenne. Dessen ungeachtet wurde er zum Vorsitzenden der Versammlung gewählt, da er über die nötigen äußerlichen Eigenschaften: politische Schulung und Rednergabe verfügte. Der bedeutendste Vertreter der Aschkenasim war der unermüdliche Anwalt der jüdischen Sache Isaak Berr, ein Anhänger der Mendelssohnschen Schule, der einen Ausgleich zwischen dem Judentum und der modernen Aufklärung herbeizuführen strebte. Kurz vor der Eröffnung der Versammlung wandte sich Berr an die jüdischen Kapitalisten mit einem Aufrufe, in dem er sie ermahnte, den Absichten der Regierung entgegenzukommen und zunächst die Eintreibung der Wechselschulden bei der ländlichen Bevölkerung für die Dauer eines Jahres einzustellen und dann das schändliche Wuchergeschäft überhaupt aufzugeben. Unter den Rabbinern ragte der tiefe Kenner der talmudischen Literatur, der Straßburger Gelehrte David Sinzheim hervor, der in der Zeit des Konvents von den übereifrigen Verbreitern des ,,Kultes der Vernunft“ viel auszustehen gehabt hatte. Er war durchaus orthodox gesinnt, hielt es aber auch für möglich, die Schärfe seiner religiösen Prinzipien zu mildern, wenn es die politischen Umstände verlangten. Diesen Führern der Versammlung schlössen sich eine Anzahl durch ihre Bildung und soziale Verdienste hervorragender Personen an: der erste jüdische Rechtsanwalt in Europa, Michael Berr, der Schriftsteller Rodrigues, die italienischen Rabbiner Segre, de-Cologna und Nepi. Nach dem Zeugnisse eines der kaiserlichen Kommissare, der an der Versammlung teilgenommen, machte diese Zusammensetzung einen sehr vorteilhaften Eindruck. „Wir befinden uns“, schrieb er, „unter Menschen, die die Menge weit überragen . . . unter Menschen mit entwickeltem Geiste, denen auch allgemein menschliches Wissen nicht fremd ist. Es ist unmöglich, der Existenz einer jüdischen Nation die Anerkennung länger zu verweigern, einer Nation, in der sich bisher nur der Abschaum bemerkbar machte, und die nun durch den Mund ihrer auserlesenen Vertreter eine höchst beachtenswerte Sprache zu führen beginnt.“


Drei Sekretäre des Staatsrats wurden von Napoleon zu Regierungskommissaren für die Versammlung der jüdischen Abgeordneten ernannt. Es waren dies die Kreatur Napoleons, der obenerwähnte Graf Molé*), der jüngere Portalis (Sohn des Kultusministers) und Pasquier, der uns Memoiren über die Tätigkeit des „jüdischen Parlamentes“ hinterließ. Die offizielle Aufgabe der Kommissare bestand in der Übermittlung und Erläuterung der vom Kaiser redigierten Fragen und in der Entgegennahme der Antworten; inoffiziell waren aber diese Kommissare (nach dem späteren Geständnisse eines von ihnen) beauftragt, „mit den einflussreichsten Mitgliedern der Versammlung Fühlung zu suchen und Mittel und Wege zur Erreichung des angestrebten Zieles ausfindig zu machen“; sie sollten also hinter den Kulissen einen Druck ausüben, um die Tätigkeit der Versammlung in eine dem Kaiser genehme Richtung zu lenken.

*) Wie das Verhältnis Molés zu den Juden im gegebenen Augenblick war, ist aus folgender, kürzlich in den Memoiren eines anderen Kommissars (Pasquier) aufgedeckten Tatsache ersichtlich. Einige Tage vor Eröffnung der jüdischen Versammlung erschien in der offiziellen Zeitung ,,Moniteur“ ein langes judenfeindliches Pamphlet unter dem Titel: „Vom Zustande der Juden seit Moses bis auf den heutigen Tag“, in dem bewiesen wurde, dass das Laster des Wuchers schon in der Religion der Juden begründet sei. Diese „Anklageschrift gegen die jüdische Nation“ war, nach Mitteilung Pasquiers, im Auftrage Napoleons vom Kommissar Molé verfasst (oder redigiert). Vgl.: Brann, „Aktenstücke“ I, 19 — 76, 81 — 95.

Als die Abgeordneten in Paris eintrafen, war die Eröffnung der Versammlung bereits für Sonnabend, den 29. Juli 1806 festgesetzt. Die gesetzestreuen Abgeordneten nahmen zunächst Anstoß an der bevorstehenden Verletzung der Sabbatruhe, und in einer privaten Konferenz wurde viel darüber gestritten, ob man nicht um die Verlegung der ersten Sitzung auf den darauffolgenden Tag bitten solle. Aber Erwägungen politischer Natur nahmen überhand: es handelte sich darum, der Regierung zu zeigen, dass die Juden nötigenfalls bereit seien, ihre Gesetze zu übertreten, wenn diese der Ausführung obrigkeitlicher Befehle im Wege stehen. Die erste Konzession wurde gemacht: die erste — vielleicht von der Regierung beabsichtigte — Prüfung des Gehorsams war bestanden. Die feierliche Eröffnung der Versammlung erfolgte an dem festgesetzten Sonnabend in einer zu einem großen Saale umgebauten Kapelle am Stadthaus. Der Hauptkommissar Mole hielt die Eröffnungsrede. Durch die höflichen Redensarten drang der schlecht versteckte feindselige Inhalt hervor. „Jeder von euch,“ sagte Molé, „die ihr von allen Ecken und Enden des weiten Reiches hierher berufen worden seid, kennt zweifellos die Ziele, um derentwillen seine Majestät geruhte, euch hier zu versammeln. Es ist euch bekannt, dass das Benehmen vieler Bekenner eurer Religion zu Klagen Anlass gab, die sogar bis zu den Stufen des Thrones gedrungen sind. Die Klagen erwiesen sich als wohl berechtigt, und doch beschränkte sich der Kaiser nur darauf, dass er dem weiteren Wachstum der Krankheit Einhalt gebot und den Wunsch äußerte, von euch Ratschläge zur Beseitigung des Übels zu hören.“ Der Redner sprach des Ferneren die Hoffnung aus, dass die Deputierten die Gnade des Kaisers zu würdigen wissen und mit der Regierung und nicht gegen die Regierung arbeiten werden. „Seine Majestät verlangt von euch, dass ihr Franzosen seid, und von euch hängt es ab, diesen Titel anzunehmen oder auch einzubüßen, wenn ihr euch seiner als unwürdig erweiset. Die an euch gerichteten Fragen werden euch gleich vorgelesen werden, und eure Pflicht ist es, zu jeder von ihnen die ganze Wahrheit zu sagen.“ Nach Beendigung der Rede, die mehr Drohungen als Begrüßungen enthielt, wurden die zwölf vom Kaiser an die Versammlung gerichteten Fragen verlesen. Die ersten drei Fragen betrafen Angelegenheiten der Ehescheidung: Ob den Juden die Vielweiberei gestattet ist? Ob eine Ehescheidung auch ohne die gerichtliche Sanktion gültig ist? Ob Mischehen zwischen Juden und Christen zugelassen werden ? Die folgenden drei Fragen betrafen den Patriotismus: Ob die Franzosen von den Juden als Brüder oder als Fremde angesehen werden? Wie stellt sich das jüdische Gesetz zu den Franzosen christlichen Glaubens? Ob die in Frankreich geborenen Juden dieses Land als ihr Vaterland anerkennen, ob sie sich für verpflichtet halten es zu verteidigen und seinen bürgerlichen Gesetzen zu gehorchen? Die weiteren Fragen beziehen sich auf die Tätigkeit der Rabbiner und insbesondere auf deren gerichtliche Funktionen. Die letzteren drei Fragen beziehen sich auf die Berufe und insbesondere auf den Wucher: Ob es Berufe gibt, die den Juden verboten sind? Ob es dem Juden verboten ist, einem Juden Geld auf Zins zu leihen, und ob ihm dies bei einem Fremdstämmigen ertaubt ist?

Als beim Verlesen der Fragen die Reihe an die Frage kam: ob Frankreich von den Juden als Vaterland angesehen wird, und ob sie es für ihre Pflicht halten, dieses Vaterland zu verteidigen, erhoben sich die Abgeordneten von ihren Sitzen und riefen aus: ,,Ja, bis zum Tode!“ In seiner Erwiderung auf die unfreundliche Rede Molés sprach der Vorsitzende der Versammlung, Furtado, die freudige Bereitschaft der Versammlung aus, an der Verwirklichung der „großmütigen Absichten“ des Kaisers mitzuwirken, da er darin ein Mittel erblicke, ,,manchen Irrtum zu zerstreuen und manches Vorurteil zu beseitigen“. Es wurde eine besondere Kommission aus zwölf Mitgliedern eingesetzt, der Isaak Berr, Rabbiner Sinzheim und andere angehörten, und die mit der Ausarbeitung der Antworten auf die gestellten Fragen betraut wurde. Die Beantwortung der ersten Fragengruppe nahm nur einige Tage in Anspruch, so dass die Versammlung schon in der Sitzung vom 4. August an ihre Erörterung herantreten konnte. Die erste der Fragen (die von der Vielweiberei), wurde mit Leichtigkeit durch den Hinweis auf den Umstand abgefertigt, dass die Sitte der strengen Monogamie sich bei den europäischen Juden seit langem eingebürgert hätte. Die Frage wegen der Ehescheidung wurde dahin beantwortet, dass der vom Rabbiner vollzogene religiöse Akt der Ehescheidung erst nach dessen Bestätigung durch das allgemeine bürgerliche Gericht in Kraft trete; es wurde dabei darauf hingewiesen, dass die französischen Rabbiner seit der Emanzipation am bürgerlichen Eide treu festhalten und die religiösen Akte der Kontrolle der staatlichen Institutionen unterstellen. Größere Schwierigkeiten bereitete die Beantwortung der dritten Frage, der von den Mischehen. Aber auch hier fand sich ein Ausweg: die Antwort lautete, dass alle zwischen Juden und Christen geschlossenen Ehen die Kraft nicht religiöser, sondern bürgerlicher Akte besäßen, wie es auch bei den Mischehen zwischen Katholiken und Andersgläubigen der Fall sei: die katholische Geistlichkeit anerkenne zwar solche Ehen, erteile ihnen aber keine kirchliche Weihe. Andererseits wurde festgestellt, dass , ein mit einer Christin verheirateter Jude in den Augen seiner Stammesgenossen nicht aufhört, Jude zu sein“.

Den Antworten ging eine von der Versammlung angenommene charakteristische ,,Deklaration“ voraus. In dieser wurde gesagt, dass „die von den Gefühlen der Dankbarkeit, Liebe und Ehrfurcht gegenüber der geheiligten Person des Kaisers geleitete Versammlung berechtigt ist, seinen väterlichen Willen in allen Dingen zur Richtschnur zu nehmen“, dass die jüdische Religion befiehlt, in allen bürgerlichen und politischen Angelegenheiten den Gesetzen des Staates vor denen der Religion den Vorzug zu geben, so dass im Falle eines Widerspruches zwischen diesen und jenen die religiösen Gesetze zurücktreten müssen.

Die Versammlung, die von Anfang an die abschüssige Bahn der Nachgiebigkeit und Liebedienerei betreten hatte, glitt unaufhaltsam in dieser Richtung weiter. Und als die Reihe an die zweite Gruppe der Fragen kam, die sich auf die Vereinbarkeit des bürgerlichen Patriotismus mit dem nationalen Gefühl bezogen, überschritt die servile Gesinnung der Versammlung jedes erdenkliche Maß. Statt sich darauf zu beschränken, die Zulässigkeit einer derartigen Vereinbarkeit festzustellen, gingen die Antworten der Versammlung weit darüber hinaus und leugneten die nationale Einheit der Juden. Der Satz, dass die Franzosen von den Juden als Brüder angesehen werden, wurde folgendermaßen erläutert: „Im gegenwärtigen Moment bilden die Juden keine Nation mehr, da ihnen der Vorrang zuteil wurde, einer großen Nation (der französischen) angegliedert zu werden, und sie erblicken darin ihre politische Erlösung.“ Es wurde das Fehlen jedes Solidaritätsgefühls zwischen den Juden verschiedener Länder hervorgehoben: ein französischer Jude fühle sich als Fremder unter seinen Stammesgenossen in England; französische Juden kämpfen gern gegen ihre in feindlichen Truppen eingereihten Stammesgenossen . . . Auf diese Weise wurde die Formel der nationalen Selbstverleugnung verkündet. Nicht alle schlossen sich dieser Formel mit derselben Aufrichtigkeit an. Angesichts der offenkundigen Drohungen, die in der „Begrüßungsrede“ Molés im Namen des Kaisers enthalten waren, enthielten sich viele einer Entgegnung. Man drohte den Juden mit der Entziehung der staatsbürgerlichen Rechte, wenn sie sich dem Wunsche des Kaisers, „Franzosen zu sein“, widersetzten; die eingeschüchterten Abgeordneten mussten sich fügen und erklären, dass die Juden nur „Franzosen mosaischer Religion“ und auch bereit seien, aus dieser Religion alles auszuschließen, was mit den Forderungen der Regierung sich nicht vereinbaren ließe.

Mit derselben äußerlichen Leichtigkeit, doch anscheinend nicht ohne schwere Kämpfe in den Seelen vieler Abgeordneter, verzichtete die Versammlung auch auf jeden Anspruch auf eine weitgehende Gemeindeautonomie. Die Versammlung sprach sich in ihren Antworten auf die das Rabbinat betreffenden Fragen für die Abschaffung der Rabbinergerichtsbarkeit aus, wie auch für die Beschränkung der Tätigkeit der Rabbiner auf die religiösen Funktionen, wagte aber dabei nicht, irgendwelche Forderungen hinsichtlich der Organisation der jüdischen Gemeinden aufzustellen. Die Antworten der Versammlung auf die letzte Fragengruppe „bezüglich des Wuchers“ bildeten eine lange Apologie der jüdischen Gesetzgebung, die die Wucherer niemals in Schutz genommen habe. Mit Entrüstung wies die Versammlung den Gedanken von sich, dass die Juden „eine natürliche Neigung zum Wucher“ hätten: Gewiss gäbe es unter ihnen eine bestimmte Gruppe von Personen, die sich „diesem schändlichen, von ihrer Religion verpönten Beruf widmen“. Aber sollen denn Zehntausende für die Schuld eines Häufleins büßen?

Die in den Augustsitzungen des Jahres 1806 von der Versammlung ausgearbeiteten Antworten wurden dem Kaiser unterbreitet; im großen und ganzen befriedigten sie ihn*). Mit dem Instinkte eines gewohnten Eroberers begriff der Kaiser, dass er diesmal einen neuen Sieg davontrug — den Sieg über das Judentum. Nun galt es, die Ergebnisse dieses Sieges zu festigen. Die Beschlüsse einer zufälligen Versammlung von Personen, unter denen sich sehr wenige Vertreter des geistlichen Standes befanden, konnten für die ganze jüdische Bevölkerung auch nicht bindend sein. Es müsste also ein maßgebendes Organ ins Leben gerufen werden, das diese Beschlüsse bestätigen und ihnen bindende Bedeutung verleihen sollte. Und da verfiel Napoleon, der eine Vorliebe für großartige Gesten hatte, auf den Gedanken, eine große alljüdische Synode, das Synhedrion einzuberufen. Aus den ihm unterbreiteten Antworten der Notabelnversammlung erfuhr er, dass das jüdische Volk seit dem Falle Judäas über kein Kollegium von autoritärer Macht verfügte, das mit dem großen alten Synhedrion, welches die die Thora ergänzende Gesetzgebung ausgearbeitet hatte, zu vergleichen wäre. Um all diesen neuen Beschlüssen, die das jüdische Leben von Grund aus umgestalten sollten, besonderen Nachdruck zu verleihen, müsse man in Paris ein eigenes Synhedrion einberufen, das ihnen die Weihe zu erteilen hätte. Die neue Synode müsste nach dem Vorbild der alten ebenfalls aus 71 Mitgliedern, vornehmlich aus Personen geistlichen Standes und aus Gelehrten bestehen. Da aber Napoleon andererseits befürchtete, dass die „fanatischen Rabbiner“ in der künftigen Synode durch ihr numerisches und vielleicht auch geistiges Übergewicht die Liberalen verdränget würden, so sorgte er rechtzeitig für die Sicherung einer gefügigen Zusammensetzung. ,,Man muss“, schrieb er an den Minister des Innern, Champagny (3. September), „eine achtunggebietende Versammlung von Männern schaffen, die um die Wahrung und Aufrechterhaltung ihrer Errungenschaften (der Gleichberechtigung) besorgt wären, eine Synode jüdischer Führer, die sich scheuen würden, die Schuld am Unglück des jüdischen Volkes (wenn nämlich dem Kaiser unerwünschte Beschlüsse angenommen werden) zu tragen.“ Eine zuverlässige Mehrheit der Synode „wird die schüchternen Rabbiner mit sich reißen und auf die fanatischen unter ihnen, die möglicherweise einen zähen Widerstand an den Tag legen werden, einen entscheidenden Einfluss insofern ausüben, als sie sich vor dem Dilemma sehen werden, entweder die Beschlüsse (der Notabelnversammlung) anzunehmen oder die Gefahr einer Vertreibung des jüdischen Volkes heraufzubeschwören.“

*) Wie aus einem Privatbrief Napoleons zu ersehen ist, wollte er, dass die Versammlung einen kühneren Entschluss in Sachen der Mischehe fasse und „solche Verbindungen zwischen Juden und Franzosen als ein Mittel des Schutzes und als Zeichen der Ehre(!) für das jüdische Volk empfehle“.

In der Sitzung vom 17. September erklärten die Kommissare der Versammlung der Abgeordneten, dass die Beschlüsse der Versammlung den Kaiser zufriedenstellten, und verkündeten die bevorstehende Einberufung des „Großen Synhedrions“ (Grand Sanhedrin). Diesmal hielt Molé eine Rede, die bei weitem versöhnlicher klang. Er sprach von dem großartigen Anblick, den „diese Versammlung aufgeklärter, aus der Nachkommenschaft des ältesten der Völker gewählter Männer“ gewährte; er versicherte, dass Napoleon der einzige Erlöser „der über den ganzen Erdball verstreuten Überreste einer auch in ihrem Falle herrlichen Nation“ wäre; aber dieser mächtige Beschützer „fordere religiöse Bürgschaften“ dafür, dass die in den Antworten der Versammlung niedergelegten Prinzipien streng gewahrt werden. Eine derartige Bürgschaft müsse von einer anderen maßgebenderen Versammlung ausgehen ,,deren Beschlüsse neben die des Talmuds gestellt und für die Juden aller Länder die größte Autorität haben sollten“. Das Große Synhedrion sei berufen, den wahren Sinn der jüdischen Gesetze zu interpretieren „und die falschen Auslegungen der früheren Jahrhunderte“ zu beseitigen. Das Synhedrion solle zu zwei Dritteln aus Rabbinern bestehen; letztere können aus der Zahl der Versammlungsabgeordneten entnommen, können aber auch von den Gemeinden neu gewählt werden. Das andere Drittel jedoch müsse auf dem Wege geheimer Abstimmung aus Laien gewählt werden. Der Kaiser beauftragt die jetzige Abgeordnetenversammlung das dem Synhedrion vorzulegende Material vorzubereiten; sie werde aber auch nach dem Zusammentritt des Synhedrions bis zum Abschlüsse seiner Arbeiten bestehen bleiben. Vorderhand müsse die Versammlung einen aus neun Mitgliedern bestehenden Organisationsausschuss wählen, in welchem alle drei Abgeordnetengruppen — „portugiesische“, deutsche und italienische Juden — gleicherweise vertreten sein sollen. Dem Organisationsausschuss wird der Auftrag erteilt, „sämtlichen Synagogen Europas“ mitzuteilen, dass sie ihre Abgeordneten zur Teilnahme am Synhedrion schicken dürfen.

Die Versammlung, die in die Pläne Napoleons nicht eingeweiht war, nahm diese Mitteilung mit Begeisterung auf. Viele freuten sich aufrichtig über die traditionelle Form der bevorstehenden Synode; schon der bloße Name, der die glorreiche Vergangenheit in der Erinnerung hervorzauberte, brachte die Gemüter in Wallung. Diese historische Dekoration verdeckte vor den einen die dreiste Anmaßung, das Judentum nach Weisungen der Obrigkeit erneuern zu wollen; die anderen wiederum sahen es wohl, aber billigten im Stillen das Vorhaben der Regierung. Einer von den Befürwortern der offiziellen Reformation, der Vorsitzende der Versammlung, Furtado, hielt in Erwiderung auf die Ansprache Moles eine lange begeisterte Rede. Er verherrlichte den Kaiser, der die „Schicksale Europas reguliere“ und der mitten in seinen Sorgen um den Erdball sich Zeit nehme und es für nötig erachte, an „unsere Wiedergeburt“ zu denken, und brachte den Gedanken zum Ausdruck, dass jede „positive Religion“ der Kontrolle der Regierung unterstellt werden müsse, um die Verbreitung von abergläubischen Vorstellungen und moralschädigenden Ideen zu verhüten.

Die letzten Monate des Jahres 1806 und der Beginn des Jahres 1807 verliefen für die Notabeln Versammlung in vorbereitenden Arbeiten für das Synhedrion, die von dem neungliedrigen Ausschuss unter Beteiligung der kaiserlichen Kommissare mit besonderem Eifer ausgeführt wurden. Anfangs Oktober erließ der Ausschuss einen Aufruf an sämtliche Juden Europas, in dem das „große Ereignis“, die Eröffnung des Synhedrions, verkündet wurde; die Eröffnung sollte am 20. Oktober stattfinden (später wurde sie auf drei Monate verschoben): dieses Ereignis werde ,,für die zerstreuten Überbleibsel von Abrahams Nachkommen eine Periode der Erlösung und des Glückes“ eröffnen. Der in vier Sprachen — französisch, hebräisch, italienisch und deutsch — abgefasste Aufruf machte einen gewaltigen Eindruck, insbesondere auf die außerhalb Frankreichs lebenden Juden, die von den eigentlichen Triebfedern der vom Kaiser unternommenen parlamentarischen Organisation des Judentums nichts ahnten. Im Dezember wurde ein vom „Ausschusse der Neun“ ausgearbeiteter Entwurf der Organisierung jüdischer Konsistorien als Bindeglieder zwischen den Gemeinden und der Regierung von der Notabelnversammlung gutgeheißen. In einem erläuternden Zusatz zum Projekt wurde als Beweis für dessen Notwendigkeit nicht sowohl das Interesse der gemeindlichen Selbstverwaltung als vielmehr der Umstand angeführt, dass die genannten Konsistorien den Absichten der Regierung dienen, indem sie für die strikte Durchführung aller Beschlüsse der Abgeordnetenversammlung und des Synhedrions, und unter anderem auch für die Heranziehung der jüdischen Jugend zum „edlen Kriegshandwerk“, sorgen werden. In all diesen Erklärungen und Beschlüssen lässt sich nur ein einziges Bestreben erkennen, und zwar das, dem Kaiser gefällig zu sein.

In einer der letzten Notabelnsitzungen (5. Februar 1807) hielt ein junger Abgeordneter aus dem Departement der Seealpen, ein gewisser Isaak-Samuel Avigdor aus Nizza eine seltsame Rede: er bemühte sich, den „historischen“ Nachweis zu liefern, dass die bedeutendsten Vertreter der christlichen Kirche sich zu allen Zeiten den Juden gegenüber freundlich verhalten hätten und deren Verfolgung verpönten, und dass sie daher auf den Dank des jüdischen Volkes Anspruch erheben dürfen. Avigdor beantragt eine Resolution folgenden Inhaltes: „Die an der jüdischen Synode teilnehmenden Abgeordneten des französischen Kaiserreichs und des italienischen Königreichs, die von den Gefühlen der Erkenntlichkeit für die fortwährenden Wohltaten der christlichen Geistlichkeit in vergangenen Jahrhunderten gegen die Juden verschiedener Länder Europas geleitet werden und von Dankbarkeit für die Aufnahme erfüllt sind, die verschiedene Oberhäupter der Kirche (Päpste) und andere geistliche Würdenträger den Juden verschiedener Länder in jenen Zeiten gewährten, als Barbarei, Aberglaube und Unwissenheit sich zur Verfolgung und Ausstoßung der Juden aus dem Schöße der Gesellschaft vereinten, fassen den Beschluss, den Ausdruck all dieser Gefühle im heutigen Protokolle der Versammlung niederzulegen, damit dies die Dankbarkeit der hier versammelten Juden für die von den kirchlichen Würdenträgern erwiesenen Wohltaten für immer besiegele. Eine Abschrift dieses Protokolls geht dem Kultusminister zu.“ Dieser seltsame Antrag wurde von der Versammlung angenommen. Die Abkömmlinge der im Mittelalter aus Frankreich vertriebenen Juden, der Marranen und der Opfer der päpstlichen Inquisition verewigten in dieser Kundgebung die „Wohltaten“ solcher Päpste, wie Innozenz III, Paul IV und der zeitgenössische Pius V, der Urheber des unmenschlichen „Judenedikts“ von 1775. Eine derartig knechtische Gesinnung setzte sogar die der Sitzung beiwohnenden kaiserlichen Kommissare in Erstaunen, und einer von ihnen (Portalis) teilte es dem Kaiser als einen „pikanten“ Fall mit: Juden preisen die Duldsamkeit und die Milde der katholischen Kirche zu einer Zeit, wo Viele Christen „im Namen einer vermeintlichen Philosophie gegen den Fanatismus und die Unduldsamkeit der katholischen Geistlichen auftreten“. Wer von den beiden Parteien hier im Rechte war, konnte man aus einer Beschwerde ersehen, die gleichzeitig mit der Resolution der jüdischen Versammlung beim Kultusminister einlief: ein Jude, der das Amt eines Munizipalrates der Stadt Cogny bekleidete, beklagte sich, dass der dortige katholische Geistliche ihm den Eintritt in die Kirche an einem Tage verwehrt hatte, an dem ein Tedeum für den Kaiser verrichtet wurde . . . Natürlich verschaffte die katholikenfreundliche Kundgebung der jüdischen Abgeordneten dem Kaiser eine riesige Genugtuung: er gewann die Überzeugung, dass man sich auf eine derartig gefügige Versammlung getrost verlassen könne und dass die von ihr gewählten Mitglieder die Absichten der Regierung auf dem bevorstehenden Pariser Synhedrion mit Erfolg durchsetzen würden.