§ 21. Napoleon und die Juden; das Dekret von 1806
Die neue zerstörende und zugleich aufbauende Kraft, in der sich despotische Willkür mit Revolutionsfreiheit paarte — diese wilde, über das Leben Europas hereingebrochene Gewalt ging auch an dem jüdischen Volke nicht ohne Wirkung vorüber. Napoleon I. war für die Juden Unterdrücker und Befreier in einer Person, ein guter und ein böser Genius; das Verhältnis des Weltbezwingers zu einer Nation, die von der Welt nicht niedergerungen werden konnte, zeigte eine Mischung von Niedertracht und Größe.
Das erste Zusammentreffen Bonapartes mit den Juden fällt in die Zeit des märchenhaften Feldzuges des ruhmreichen Generals nach Syrien und Ägypten und spielte sich auf dem Boden der alten jüdischen Heimat ab. Nach der Einnahme von Gaza und Jaffa (Februar bis März 1799) erließ der vor den Toren Jerusalems stehende Bonaparte einen Aufruf an die asiatischen und afrikanischen Juden, in dem er sie ermahnte, dem französischen Heere behilflich zu sein, und die Wiederherstellung des alten Jerusalems in Aussicht stellte. Es war dies ein politisches Manöver, ein Versuch, in den orientalischen Juden wohlgesinnte Vermittler bei der Einnahme der palästinischen Städte zu gewinnen. Dieser Ruf fand bei den Juden keinen Widerhall; die jüdische Bevölkerung der betreffenden Gebiete hielt treu zu der türkischen Regierung. Die Gerüchte von den durch die französischen Truppen verübten Gräueltaten veranlassten die in Jerusalem ansässigen Juden, sich an den Vorkehrungen zum Schutze der Stadt zu beteiligen. Der phantastische Plan der Niederwerfung Asiens ging nicht in Erfüllung, und Bonaparte kehrte nach dem Westen zurück, um Frankreich durch den Streich vom 18. Brumaire kirre zu machen und dann Europa zu erobern.
Das Problem der Regelung jüdischer Verhältnisse im modernen Staatswesen weckte die Aufmerksamkeit des regierenden Napoleon, des ersten Konsuls, zum ersten Male, als die Frage der Organisierung der religiösen Kulte in Frankreich nach Abschluss des Konkordates mit dem Papste auf der Tagesordnung stand (1801). Da der erste Konsul auch die Beziehungen des jüdischen Kultes zum Staate regeln wollte, beauftragte er den Minister der Bekenntnisse, Portalis, einen Bericht über dieses Problem zu verfassen. Der Bericht wurde verfasst und in der Sitzung der gesetzgebenden Versammlung (5. April 1802) verlesen, aber er enthielt statt eines Vorschlags zur Regelung der geistlichen Angelegenheiten der jüdischen Bürger nur Beweise für die Schwierigkeit der Durchführung eines derartigen Entwurfs. „Die Regierung“, schrieb Portalis, „die für die Organisierung der verschiedenen Konfessionen Sorge trug, hat auch die jüdische Religion nicht außer acht gelassen: gleich allen anderen soll sie sich der durch unsere Gesetze gewährleisteten Freiheit erfreuen. Aber die Juden stellen weniger ein Glaubensbekenntnis als eine Nation dar (forment bien moins une réligion qu'un peuple); sie leben unter allen Nationen, ohne sich mit ihnen zu vermischen. Es war die Pflicht der Regierung, die Ewigkeit dieses Volkes in Betracht zu ziehen, eines Volkes, das durch alle Umwälzungen und alles Missgeschick der Jahrhunderte hindurch sich in unsere Zeit hinüberrettete, das auf dem Gebiete des Kultes und seiner geistigen Verfassung im Besitze eines der größten Privilegien ist — des Privilegiums, Gott selbst zum Gesetzgeber zu haben.“ Diese Sätze verrieten bereits die spätere Zwiespältigkeit der napoleonischen Regierung in der jüdischen Frage: einerseits historische Komplimente für die Standhaftigkeit des Judentums, und andererseits die Besorgnis, dass eine derart standhafte Nation sich an die französische Staatlichkeit nicht werde anpassen können, d. h. dass sie auch künftighin ihre Standhaftigkeit bewahren werde. Derartige Befürchtungen bewirkten, dass die Lösung der Frage von der Organisation des Judentums vertagt wurde.
Der Kaiser musste das Werk zu Ende führen, das der erste Konsul unternommen hatte. Aber dieses neue Unternehmen war mehr vom Geiste des Verdachtes und der Befürchtungen als von dem der Hochachtung für die „Ewigkeit des jüdischen Volkes“ getragen. Napoleon, der dem jüdischen Leben vollständig fern stand, bildete sich einen Begriff davon auf Grund flüchtiger, bei Feldzügen empfangener Eindrücke, privater Beschwerden und offizieller Berichte. Unter dem bunten, aus verschiedenen Völkerschaften zusammengesetzten, durch die Uniform nivellierten Heere bemerkte er die jüdischen Soldaten nicht, um so weniger als diese Soldaten des öfteren ihre Abstammung unter militärischen Pseudonymen verbargen (§ 20); dafür aber fielen ihm die Scharen jüdischer, dem Heere auf die Spur folgender Händler in die Augen, die der Geldbeute überall nachjagten, wo der Führer der französischen Truppen auf Kriegsbeute ausging. Als der Kaiser im Jahre 1805 aus dem Feldzuge von Austerlitz zurückkehrte und durch Straßburg zog, bekam er mehrere Klagen gegen die Juden zu hören, die angeblich durch ihre Kreditoperationen die ganze bäuerliche Bevölkerung des Landes ausbeuteten. Die christliche Bevölkerung von Straßburg, die sich seit langem um die Wiedererlangung des ,,Privilegiums“ der Nichtzulassung von Juden bemühte, konnte sich noch immer nicht mit dem Emanzipationsakte von 1791 versöhnen; ebensowenig behagte ihr die Entstehung einer gleichberechtigten jüdischen Gemeinde innerhalb einer Stadt, wo es früher „den Juden verboten war, zu übernachten“. Die Straßburger und Elsässer Judenfeinde erwarteten von Napoleon das, worum sie sich in den Revolutionsjahren vergeblich bemüht hatten: die tatsächliche Hintertreibung der jüdischen Gleichberechtigung. Sie täuschten sich nicht; der Kaiser versprach, die Klagen zu prüfen und Maßnahmen zu ergreifen.
Als Napoleon nach Paris zurückkehrte, befand er sich in einem Zustande äußerster Missstimmung gegen die Juden und fasste den festen Beschluss, einen Kampf gegen sie aufzunehmen, der nötigenfalls bis zur Verletzung ihrer Gleichberechtigung gehen sollte. Er gab dem Staatsrat den Befehl, diese Frage einer sofortigen Erörterung zu unterziehen. Der in der Folge bekannt gewordene konservative Staatsmann Graf Mole, damals noch ein junger Beamter und Anhänger des napoleonischen Regimes, wurde mit der Berichterstattung betraut. Als Mole in seinem Berichte von der Notwendigkeit sprach, die Juden, wenigstens auf dem Gebiete des Handels, Ausnahmegesetzen zu unterwerfen, gerieten die meistens liberal gestimmten Mitglieder des Rates in große Aufregung. Es wurden Stimmen laut gegen den reaktionären Versuch, das alte Regime für die Juden wiederherzustellen. Als die Frage auf der nächsten, unter dem Vorsitz des Kaisers abgehaltenen Sitzung (30. April 1806) von neuem erhoben wurde, hielt das liberale Ratsmitglied Beugnot eine feurige Rede gegen das Vorhaben, die Juden in ihren Rechten einzuschränken, wobei er sich dahin ausdrückte, dass jede ausschließliche Maßregel dieser Art „einer auf dem Felde der Gerechtigkeit verlorenen Schlacht“ gleichkäme. Die Mehrheit erklärte sich mit dem Redner einverstanden. Aber den Männern des Gesetzes erwiderte der Mann des Schwertes. In einer sehr scharfen Rede drückte Napoleon seine Verachtung gegen alle solche „Ideologen“ aus, die „die Wirklichkeit einer Abstraktion opfern“, die Wirklichkeit erscheine ihm aber in einem furchtbaren laichte. „Die Regierung“, sagte Napoleon gereizt, , kann nicht gleichgültig und teilnahmslos zusehen, wie eine gesunkene, verlotterte und zu allen Schandtaten bereite Nation die beiden schönen Departements des alten Elsaß an sich reißt. Die Juden müssen als Nation und nicht als Sekte angesehen werden — sie sind eine Nation innerhalb einer Nation . . . Man darf sie nicht in die gleiche Kategorie wie die Protestanten und Katholiken setzen ; ihnen gegenüber muss man nicht das bürgerliche, sondern das politische Recht anwenden, denn sie sind keine Bürger . . . Ich will den Juden, wenigstens für eine Zeitlang, das Recht entziehen, Immobilien in Pfand zu nehmen. Ganze Dörfer sind schon von den Juden in Beschlag genommen: sie sind an die Stelle der früheren Lehnsherren getreten . . . Nicht unangemessen wäre es, ihnen den Handel zu verbieten, den sie durch Wucher schänden, und alle ihre früheren auf Betrug beruhenden Abmachungen zu annullieren.“ Zum Schlüsse gab der Kaiser die Quellen seiner Informationen über die Juden an: sie bestanden in den Beschwerden der christlichen Bevölkerung der Stadt Straßburg und in dein Berichten des dortigen Präfekten.
Wenn man die Gedankengänge des Kaisers von den zufälligen Stimmungen lostrennt, so kann man in ihnen ein bestimmtes System erblicken: Die Revolution hatte den Juden Gleichberechtigung gegeben, die einer Sekte innerhalb der französischen Nation galt (§ 15); da sie aber eine besondere Nation bilden, so gehören sie nicht in das Gebiet der staatsbürgerlichen, sondern in das der politischen Gesetzgebung; wir wissen aber, dass der politische Kodex Napoleons in demselben Maße schlecht war, wie sein „Code civil“ gut ... In der Praxis nahm der Kaiser von konsequentem Vorgehen, das ihm den zweifelhaften Ruf eines Unterdrückers der Juden einbringen würde, Abstand. In der folgenden Sitzung des Staatsrats vom 7. Mai verwarf er den radikalen Vorschlag des Berichterstatters, die jüdischen Hausierer des Landes zu verweisen und den Wucher der Überwachung der Tribunale zu unterstellen. „Fern liegt es mir,“ sagte er, „Schritte zu unternehmen, die meinen Ruf beeinträchtigen und die Verurteilung bei den künftigen Generationen nach sich ziehen könnten ... Es wäre eine Schwäche, die Juden zu verfolgen, aber es ist ein Zeichen der Kraft, sie zu bessern.“ Unter „Besserung“ verstand der Kaiser nicht nur Repressalien gegen die Schattenseiten des jüdischen Handels, sondern auch eine gründliche Reform der ganzen Lebensgestaltung der Juden. Nachdem er den Gedanken ausgesprochen, dass „der von den Juden verursachte Schaden nicht von einzelnen Personen ausgehe, sondern in der ganzen Verfassung des gesamten Volkes begründet sei“, beeilte er sich, die Erklärung hinzuzufügen, dass es notwendig sei, jüdische „Generalstaaten“ einzuberufen. Die Vertreter des angeklagten Volkes sollten Rede stehen und die Frage beantworten, ob sich die schlechte „Verfassung“ des Judentums bessern und der Staatsverfassung des Wirtslandes unterordnen lasse, oder ob die Juden eines staatsbürgerlichen Lebens unfähig seien.
Alle diese Konferenzen hatten das aus zwei Teilen bestehende kaiserliche Dekret vom 30. Mai 1806 zur Folge. Im ersten Teile wurde befohlen, die Vollstreckung aller gerichtlicher Urteile betreffend die Schuldforderungen jüdischer Gläubiger an die ländliche Bevölkerung in den Departements des Ober- und Niederrheins und anderer „deutscher“ Gebiete für die Dauer eines Jahres einzustellen. Im zweiten Teile wurde verkündet, dass am 15. Juli 1806 „eine Versammlung von Personen, die sich zum jüdischen Glauben bekennen und in Frankreich sesshaft sind, in Paris einzuberufen sei. Die Versammlung soll aus mindestens 100 Personen bestehen, die sämtlich von den Präfekten unter den geistlichen und weltlichen Vertretern der jüdischen Gemeinden zu wählen sind. Beide Teile des Dekrets wurden in der Einleitung mit dem zwiefachen Wunsch begründet — einerseits der von dem jüdischen Wucher umgarnten ländlichen Bevölkerung behilflich zu sein, andererseits in den Juden alle die „Gefühle bürgerlicher Moral zu wecken, die infolge eines langwierigen Verharrens im Zustande von Erniedrigung, den wir jedoch weder unterstützen noch erneuern wollen, bei einem beträchtlichen Teile dieses Volkes eine Schwächung erlitten haben.“
Das Dekret von der Annullierung aller Schuldforderungen jüdischer Gläubiger bei der nichtjüdischen Bevölkerung bedeutete einen harten Schlag nicht nur für einzelne Personen, sondern für das Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit selbst: denn nicht um die Wucherer als solche handelte es sich hier, sondern ausdrücklich um jüdische Wucherer. Was nun den Plan der Einberufung jüdischer Volksvertreter betrifft, so ist er ganz gewiss von einer gewissen Größe, die aber durch die Verbindung mit demütigenden Repressalien und einer das Ehrgefühl verletzenden offiziellen Begründung beeinträchtigt wird. Nichtsdestoweniger war die jüdische Gesellschaft in Frankreich und auswärts mehr geneigt, die Lichtseite als die prosaische Schattenseite des Dekrets zu sehen: die Einberufung des jüdischen Parlaments war an sich ein bedeutungsvoller, achtunggebietender Schritt und schien den Beginn einer neuen Ära für das jüdische Volk zu kennzeichnen.
Zugleich mit den regierenden Kreisen beschäftigte sich auch die französische Presse sehr eifrig mit der jüdischen Frage. Gegen das Prinzip der jüdischen Emanzipation selbst trat die inzwischen erstarkte katholische Reaktion auf, die in dem bekannten Bonald ihren geistigen Vertreter hatte. In einem im Februar 1806 veröffentlichten Aufsatze (im „Mercure de France“) wiederholte Bonald die üblichen Anklagen gegen die Juden und gelangte zu der Schlussfolgerung, dass, „solange die Juden das Christentum nicht annehmen, es ihnen trotz aller Bemühungen nie gelingen wird, sich zu Bürgern eines christlichen Staates heranzubilden“. Gegen diese lange nicht mehr gehörte Losung der streitbaren Kirche traten die Verfechter jüdischer Interessen auf. Einer von ihnen, der sephardische Publizist Rodrigues, entrüstete sich darüber, dass „unter der Ägide des freiheitlichen und mächtigen Frankreichs im XIX. Jahrhundert Aufsätze veröffentlicht werden können, deren Bestreben darauf ausgeht, den Juden alle die staatsbürgerlichen und politischen Rechte zu entziehen, die ihnen nicht von den Staatsgesetzen, sondern von der Vernunft selbst gewährt wurden“. Es war kein Zufall, dass die judenfeindliche Agitation Bonalds mit dem Beginne der Verhandlungen über die jüdische Frage im Staatsrate zusammenfiel: der den Hofkreisen nahestehende Reaktionär, dem die Stimmung des Kaisers bekannt war, beabsichtigte, den Beschluss des Rates in eine bestimmte Richtung zu lenken. Als Graf Mole seinen obenerwähnten Bericht im Staatsrate verlas, stellten darin die liberalen Mitglieder des Rates den Einfluss der Ansichten der ,,antiphilosophischen Partei des Fontane und Bonald“ fest. Wohl spürten sie, woher der Wind der Reaktion kam, aber sie konnten nicht umhin, dem Umstände Rechnung zu tragen, dass bis zu einem gewissen Grade auch der Kaiser selbst von diesem Winde ergriffen war.
Das erste Zusammentreffen Bonapartes mit den Juden fällt in die Zeit des märchenhaften Feldzuges des ruhmreichen Generals nach Syrien und Ägypten und spielte sich auf dem Boden der alten jüdischen Heimat ab. Nach der Einnahme von Gaza und Jaffa (Februar bis März 1799) erließ der vor den Toren Jerusalems stehende Bonaparte einen Aufruf an die asiatischen und afrikanischen Juden, in dem er sie ermahnte, dem französischen Heere behilflich zu sein, und die Wiederherstellung des alten Jerusalems in Aussicht stellte. Es war dies ein politisches Manöver, ein Versuch, in den orientalischen Juden wohlgesinnte Vermittler bei der Einnahme der palästinischen Städte zu gewinnen. Dieser Ruf fand bei den Juden keinen Widerhall; die jüdische Bevölkerung der betreffenden Gebiete hielt treu zu der türkischen Regierung. Die Gerüchte von den durch die französischen Truppen verübten Gräueltaten veranlassten die in Jerusalem ansässigen Juden, sich an den Vorkehrungen zum Schutze der Stadt zu beteiligen. Der phantastische Plan der Niederwerfung Asiens ging nicht in Erfüllung, und Bonaparte kehrte nach dem Westen zurück, um Frankreich durch den Streich vom 18. Brumaire kirre zu machen und dann Europa zu erobern.
Das Problem der Regelung jüdischer Verhältnisse im modernen Staatswesen weckte die Aufmerksamkeit des regierenden Napoleon, des ersten Konsuls, zum ersten Male, als die Frage der Organisierung der religiösen Kulte in Frankreich nach Abschluss des Konkordates mit dem Papste auf der Tagesordnung stand (1801). Da der erste Konsul auch die Beziehungen des jüdischen Kultes zum Staate regeln wollte, beauftragte er den Minister der Bekenntnisse, Portalis, einen Bericht über dieses Problem zu verfassen. Der Bericht wurde verfasst und in der Sitzung der gesetzgebenden Versammlung (5. April 1802) verlesen, aber er enthielt statt eines Vorschlags zur Regelung der geistlichen Angelegenheiten der jüdischen Bürger nur Beweise für die Schwierigkeit der Durchführung eines derartigen Entwurfs. „Die Regierung“, schrieb Portalis, „die für die Organisierung der verschiedenen Konfessionen Sorge trug, hat auch die jüdische Religion nicht außer acht gelassen: gleich allen anderen soll sie sich der durch unsere Gesetze gewährleisteten Freiheit erfreuen. Aber die Juden stellen weniger ein Glaubensbekenntnis als eine Nation dar (forment bien moins une réligion qu'un peuple); sie leben unter allen Nationen, ohne sich mit ihnen zu vermischen. Es war die Pflicht der Regierung, die Ewigkeit dieses Volkes in Betracht zu ziehen, eines Volkes, das durch alle Umwälzungen und alles Missgeschick der Jahrhunderte hindurch sich in unsere Zeit hinüberrettete, das auf dem Gebiete des Kultes und seiner geistigen Verfassung im Besitze eines der größten Privilegien ist — des Privilegiums, Gott selbst zum Gesetzgeber zu haben.“ Diese Sätze verrieten bereits die spätere Zwiespältigkeit der napoleonischen Regierung in der jüdischen Frage: einerseits historische Komplimente für die Standhaftigkeit des Judentums, und andererseits die Besorgnis, dass eine derart standhafte Nation sich an die französische Staatlichkeit nicht werde anpassen können, d. h. dass sie auch künftighin ihre Standhaftigkeit bewahren werde. Derartige Befürchtungen bewirkten, dass die Lösung der Frage von der Organisation des Judentums vertagt wurde.
Der Kaiser musste das Werk zu Ende führen, das der erste Konsul unternommen hatte. Aber dieses neue Unternehmen war mehr vom Geiste des Verdachtes und der Befürchtungen als von dem der Hochachtung für die „Ewigkeit des jüdischen Volkes“ getragen. Napoleon, der dem jüdischen Leben vollständig fern stand, bildete sich einen Begriff davon auf Grund flüchtiger, bei Feldzügen empfangener Eindrücke, privater Beschwerden und offizieller Berichte. Unter dem bunten, aus verschiedenen Völkerschaften zusammengesetzten, durch die Uniform nivellierten Heere bemerkte er die jüdischen Soldaten nicht, um so weniger als diese Soldaten des öfteren ihre Abstammung unter militärischen Pseudonymen verbargen (§ 20); dafür aber fielen ihm die Scharen jüdischer, dem Heere auf die Spur folgender Händler in die Augen, die der Geldbeute überall nachjagten, wo der Führer der französischen Truppen auf Kriegsbeute ausging. Als der Kaiser im Jahre 1805 aus dem Feldzuge von Austerlitz zurückkehrte und durch Straßburg zog, bekam er mehrere Klagen gegen die Juden zu hören, die angeblich durch ihre Kreditoperationen die ganze bäuerliche Bevölkerung des Landes ausbeuteten. Die christliche Bevölkerung von Straßburg, die sich seit langem um die Wiedererlangung des ,,Privilegiums“ der Nichtzulassung von Juden bemühte, konnte sich noch immer nicht mit dem Emanzipationsakte von 1791 versöhnen; ebensowenig behagte ihr die Entstehung einer gleichberechtigten jüdischen Gemeinde innerhalb einer Stadt, wo es früher „den Juden verboten war, zu übernachten“. Die Straßburger und Elsässer Judenfeinde erwarteten von Napoleon das, worum sie sich in den Revolutionsjahren vergeblich bemüht hatten: die tatsächliche Hintertreibung der jüdischen Gleichberechtigung. Sie täuschten sich nicht; der Kaiser versprach, die Klagen zu prüfen und Maßnahmen zu ergreifen.
Als Napoleon nach Paris zurückkehrte, befand er sich in einem Zustande äußerster Missstimmung gegen die Juden und fasste den festen Beschluss, einen Kampf gegen sie aufzunehmen, der nötigenfalls bis zur Verletzung ihrer Gleichberechtigung gehen sollte. Er gab dem Staatsrat den Befehl, diese Frage einer sofortigen Erörterung zu unterziehen. Der in der Folge bekannt gewordene konservative Staatsmann Graf Mole, damals noch ein junger Beamter und Anhänger des napoleonischen Regimes, wurde mit der Berichterstattung betraut. Als Mole in seinem Berichte von der Notwendigkeit sprach, die Juden, wenigstens auf dem Gebiete des Handels, Ausnahmegesetzen zu unterwerfen, gerieten die meistens liberal gestimmten Mitglieder des Rates in große Aufregung. Es wurden Stimmen laut gegen den reaktionären Versuch, das alte Regime für die Juden wiederherzustellen. Als die Frage auf der nächsten, unter dem Vorsitz des Kaisers abgehaltenen Sitzung (30. April 1806) von neuem erhoben wurde, hielt das liberale Ratsmitglied Beugnot eine feurige Rede gegen das Vorhaben, die Juden in ihren Rechten einzuschränken, wobei er sich dahin ausdrückte, dass jede ausschließliche Maßregel dieser Art „einer auf dem Felde der Gerechtigkeit verlorenen Schlacht“ gleichkäme. Die Mehrheit erklärte sich mit dem Redner einverstanden. Aber den Männern des Gesetzes erwiderte der Mann des Schwertes. In einer sehr scharfen Rede drückte Napoleon seine Verachtung gegen alle solche „Ideologen“ aus, die „die Wirklichkeit einer Abstraktion opfern“, die Wirklichkeit erscheine ihm aber in einem furchtbaren laichte. „Die Regierung“, sagte Napoleon gereizt, , kann nicht gleichgültig und teilnahmslos zusehen, wie eine gesunkene, verlotterte und zu allen Schandtaten bereite Nation die beiden schönen Departements des alten Elsaß an sich reißt. Die Juden müssen als Nation und nicht als Sekte angesehen werden — sie sind eine Nation innerhalb einer Nation . . . Man darf sie nicht in die gleiche Kategorie wie die Protestanten und Katholiken setzen ; ihnen gegenüber muss man nicht das bürgerliche, sondern das politische Recht anwenden, denn sie sind keine Bürger . . . Ich will den Juden, wenigstens für eine Zeitlang, das Recht entziehen, Immobilien in Pfand zu nehmen. Ganze Dörfer sind schon von den Juden in Beschlag genommen: sie sind an die Stelle der früheren Lehnsherren getreten . . . Nicht unangemessen wäre es, ihnen den Handel zu verbieten, den sie durch Wucher schänden, und alle ihre früheren auf Betrug beruhenden Abmachungen zu annullieren.“ Zum Schlüsse gab der Kaiser die Quellen seiner Informationen über die Juden an: sie bestanden in den Beschwerden der christlichen Bevölkerung der Stadt Straßburg und in dein Berichten des dortigen Präfekten.
Wenn man die Gedankengänge des Kaisers von den zufälligen Stimmungen lostrennt, so kann man in ihnen ein bestimmtes System erblicken: Die Revolution hatte den Juden Gleichberechtigung gegeben, die einer Sekte innerhalb der französischen Nation galt (§ 15); da sie aber eine besondere Nation bilden, so gehören sie nicht in das Gebiet der staatsbürgerlichen, sondern in das der politischen Gesetzgebung; wir wissen aber, dass der politische Kodex Napoleons in demselben Maße schlecht war, wie sein „Code civil“ gut ... In der Praxis nahm der Kaiser von konsequentem Vorgehen, das ihm den zweifelhaften Ruf eines Unterdrückers der Juden einbringen würde, Abstand. In der folgenden Sitzung des Staatsrats vom 7. Mai verwarf er den radikalen Vorschlag des Berichterstatters, die jüdischen Hausierer des Landes zu verweisen und den Wucher der Überwachung der Tribunale zu unterstellen. „Fern liegt es mir,“ sagte er, „Schritte zu unternehmen, die meinen Ruf beeinträchtigen und die Verurteilung bei den künftigen Generationen nach sich ziehen könnten ... Es wäre eine Schwäche, die Juden zu verfolgen, aber es ist ein Zeichen der Kraft, sie zu bessern.“ Unter „Besserung“ verstand der Kaiser nicht nur Repressalien gegen die Schattenseiten des jüdischen Handels, sondern auch eine gründliche Reform der ganzen Lebensgestaltung der Juden. Nachdem er den Gedanken ausgesprochen, dass „der von den Juden verursachte Schaden nicht von einzelnen Personen ausgehe, sondern in der ganzen Verfassung des gesamten Volkes begründet sei“, beeilte er sich, die Erklärung hinzuzufügen, dass es notwendig sei, jüdische „Generalstaaten“ einzuberufen. Die Vertreter des angeklagten Volkes sollten Rede stehen und die Frage beantworten, ob sich die schlechte „Verfassung“ des Judentums bessern und der Staatsverfassung des Wirtslandes unterordnen lasse, oder ob die Juden eines staatsbürgerlichen Lebens unfähig seien.
Alle diese Konferenzen hatten das aus zwei Teilen bestehende kaiserliche Dekret vom 30. Mai 1806 zur Folge. Im ersten Teile wurde befohlen, die Vollstreckung aller gerichtlicher Urteile betreffend die Schuldforderungen jüdischer Gläubiger an die ländliche Bevölkerung in den Departements des Ober- und Niederrheins und anderer „deutscher“ Gebiete für die Dauer eines Jahres einzustellen. Im zweiten Teile wurde verkündet, dass am 15. Juli 1806 „eine Versammlung von Personen, die sich zum jüdischen Glauben bekennen und in Frankreich sesshaft sind, in Paris einzuberufen sei. Die Versammlung soll aus mindestens 100 Personen bestehen, die sämtlich von den Präfekten unter den geistlichen und weltlichen Vertretern der jüdischen Gemeinden zu wählen sind. Beide Teile des Dekrets wurden in der Einleitung mit dem zwiefachen Wunsch begründet — einerseits der von dem jüdischen Wucher umgarnten ländlichen Bevölkerung behilflich zu sein, andererseits in den Juden alle die „Gefühle bürgerlicher Moral zu wecken, die infolge eines langwierigen Verharrens im Zustande von Erniedrigung, den wir jedoch weder unterstützen noch erneuern wollen, bei einem beträchtlichen Teile dieses Volkes eine Schwächung erlitten haben.“
Das Dekret von der Annullierung aller Schuldforderungen jüdischer Gläubiger bei der nichtjüdischen Bevölkerung bedeutete einen harten Schlag nicht nur für einzelne Personen, sondern für das Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit selbst: denn nicht um die Wucherer als solche handelte es sich hier, sondern ausdrücklich um jüdische Wucherer. Was nun den Plan der Einberufung jüdischer Volksvertreter betrifft, so ist er ganz gewiss von einer gewissen Größe, die aber durch die Verbindung mit demütigenden Repressalien und einer das Ehrgefühl verletzenden offiziellen Begründung beeinträchtigt wird. Nichtsdestoweniger war die jüdische Gesellschaft in Frankreich und auswärts mehr geneigt, die Lichtseite als die prosaische Schattenseite des Dekrets zu sehen: die Einberufung des jüdischen Parlaments war an sich ein bedeutungsvoller, achtunggebietender Schritt und schien den Beginn einer neuen Ära für das jüdische Volk zu kennzeichnen.
Zugleich mit den regierenden Kreisen beschäftigte sich auch die französische Presse sehr eifrig mit der jüdischen Frage. Gegen das Prinzip der jüdischen Emanzipation selbst trat die inzwischen erstarkte katholische Reaktion auf, die in dem bekannten Bonald ihren geistigen Vertreter hatte. In einem im Februar 1806 veröffentlichten Aufsatze (im „Mercure de France“) wiederholte Bonald die üblichen Anklagen gegen die Juden und gelangte zu der Schlussfolgerung, dass, „solange die Juden das Christentum nicht annehmen, es ihnen trotz aller Bemühungen nie gelingen wird, sich zu Bürgern eines christlichen Staates heranzubilden“. Gegen diese lange nicht mehr gehörte Losung der streitbaren Kirche traten die Verfechter jüdischer Interessen auf. Einer von ihnen, der sephardische Publizist Rodrigues, entrüstete sich darüber, dass „unter der Ägide des freiheitlichen und mächtigen Frankreichs im XIX. Jahrhundert Aufsätze veröffentlicht werden können, deren Bestreben darauf ausgeht, den Juden alle die staatsbürgerlichen und politischen Rechte zu entziehen, die ihnen nicht von den Staatsgesetzen, sondern von der Vernunft selbst gewährt wurden“. Es war kein Zufall, dass die judenfeindliche Agitation Bonalds mit dem Beginne der Verhandlungen über die jüdische Frage im Staatsrate zusammenfiel: der den Hofkreisen nahestehende Reaktionär, dem die Stimmung des Kaisers bekannt war, beabsichtigte, den Beschluss des Rates in eine bestimmte Richtung zu lenken. Als Graf Mole seinen obenerwähnten Bericht im Staatsrate verlas, stellten darin die liberalen Mitglieder des Rates den Einfluss der Ansichten der ,,antiphilosophischen Partei des Fontane und Bonald“ fest. Wohl spürten sie, woher der Wind der Reaktion kam, aber sie konnten nicht umhin, dem Umstände Rechnung zu tragen, dass bis zu einem gewissen Grade auch der Kaiser selbst von diesem Winde ergriffen war.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (1789-1914) Band 1