§ 20. Die ersten Früchte der Emanzipation (1796 — 1806)

Das Jahrzehnt zwischen dem Direktorium und der Errichtung des Napoleonischen Kaiserreichs war im Leben der französischen Juden durch keine hervorragenden Geschehnisse ausgezeichnet, aber es ebnete den Weg zu den Ereignissen der darauffolgenden Jahre. In dieser Zeit reiften die ersten Früchte der Emanzipation heran, die süßen wie die bitteren. Das bürgerliche und insbesondere das wirtschaftliche Wachstum der jüdischen Bevölkerung löste seitens der von diesem Wachstum getroffenen fremden Interessen eine Gegenwirkung aus, und unter der Sonne der Freiheit reifte eine Frucht heran, die ihre Säfte aus dem Boden der Knechtschaft sog.

Seit der Revolutionszeit nahm die jüdische Bevölkerung Frankreichs zusehends zu. Die jüdische Einwanderung aus dem benachbarten Deutschland nach den östlichen Departements Frankreichs, nach Elsaß und Lothringen, gewann an Ausdehnung; die entrechteten Bewohner des deutschen Ghettos fanden hier eine ihr in Lebensgestaltung und Sprache (jüdisch-deutsche Mundart) verwandte jüdische Bevölkerung vor und akklimatisierten sich rasch den neuen Verhältnissen. Viele von ihnen drangen noch tiefer ins Land und gingen insbesondere nach Paris, dessen jüdische Bevölkerung in fünfzehn Jahren auf das Dreifache gestiegen war: um das Jahr 1806 lebten da an die 3.000 Juden. Eine bedeutende jüdische Gemeinde bildete sich in Straßburg, das früher den Juden verschlossen war. Die Eroberungen der französischen Revolution und des Kaiserreichs (Belgien, Holland, die Schweiz, Teile Italiens und Deutschlands) hatten eine mechanische Vergrößerung der jüdischen Bevölkerung im Gefolge, die in den ersten Jahren des Kaiserreichs (1804 — 1808) die Zahl 135.600 überstieg. Ungefähr die Hälfte davon entfiel auf die rein französischen Departements.


Diese ganze Menschenmasse zeigte sich bestrebt, ihre Kräfte im Lande der Freiheit zu entfalten; aber jene stürmische Zeit war nicht dazu angetan, das normale Wachstum des befreiten Volkes zu fördern. Die inneren Revolutionskrisen wurden von einer Periode ununterbrochener äußerer Kriege abgelöst. Der Drang nach Freiheit machte dem Drange nach militärischem Ruhme Platz, der den Militarismus Napoleons I. so üppig emporschießen ließ. Unwillkürlich mussten die Juden in dieses Fahrwasser hineingeraten, das die bürgerlichen Tugenden in die Kasernen und auf die blutigen Schlachtfelder mit sich riss. Sie lieferten nicht wenig Stoff für jenes Kanonenfutter, das der ,,Ruhm Frankreichs“ benötigte. Durch die starken Aushebungen wurden die jugendlichen Reihen der jüdischen Bevölkerung erheblich gelichtet. Die Juden begäben sich unter die Fahnen der Republik und des Kaiserreiches, indem sie persönlich den Militärdienst leisteten oder gedungene Söldner stellten. Es gab unter ihnen auch, viele Freiwillige und Berufssoldaten, die es zuweilen bis zum Offiziersrange brachten. Die Lage der Juden unter ihren christlichen Kameraden war mitunter eine sehr schwierige; dies bewog viele Juden im Heere, ihre Abstammung zu verheimlichen und ein militärisches Pseudonym (nom de guerre) anzunehmen. In dem Maße, als sich die Aushebungen verstärkten, und die „Blutsteuer“ immer unerträglicher wurde, wuchs auch die Zahl der Drückeberger. Die Präfekte der östlichen Departements berichteten darüber, dass viele Juden zur Musterung überhaupt nicht erschienen, dass die jüdischen Geburtsscheine nicht in Ordnung seien, und dass viele jüdische Eltern ihre Kinder männlichen Geschlechts unter Mädchennamen eintragen ließen, um sie dem Militärdienste zu entziehen. Trotzdem Fälle des Nichterscheinens zur Musterung und selbst solche der Fahnenflucht sich auch unter den Christen immer häuften, wurden sie doch den Juden besonders zur Last gelegt, da man darin einen Mangel an staatsbürgerlichem Gefühl erblickte. Dass die Juden der Beteiligung an den Hekatomben Napoleons I., der im Verlaufe von fünfzehn Jahren über drei Millionen Menschen unter die Fahnen sammelte, sich zu entziehen suchten, galt für viele als Beweis dafür, dass sie die Gleichberechtigung nicht verdienten. Die Tragik der Geschichte bestand darin, dass das Morgenrot der Befreiung den französischen Juden im blutigen Nebel der Schreckensherrschaft und im Pulverrauch der Schlachten aufging, dass man den Befreiten keine Zeit ließ, sich den neuen Verhältnissen des staatsbürgerlichen Lebens anzupassen und sich auf normalem Wege zu zivilisieren.

Dies zog Anomalien auch im kulturellen Wachstum nach sich: jähe Sprünge auf der einen, Starrheit auf der anderen Seite. Die Spitzen der jüdischen Gesellschaft, insbesondere die der sephardischen in Paris und im Süden verfielen rasch dem Prozesse der Französierung. Statt eine reformierte jüdische Schule zu schaffen, brachten die Eltern ihre Kinder in allgemeinen Lehranstalten und in „erlesenen Pensionaten“ unter, wo sie in einer christlichen Atmosphäre erzogen und allem Jüdischen entfremdet wurden. Wie bereits erwähnt, zerriss auch der Militärdienst das den jungen Juden mit seiner nationalen Gemeinschaft verknüpfende Band. Wohl taten sich einige Juden in öffentlichen Diensten, wie auch in freien Berufen, hervor; aber von der jüngeren Generation waren es nur sehr wenige, die ein Interesse für das Schicksal ihres Volkes bekundeten (der Rechtsanwalt Michael Berr, Sohn des bekannten Emanzipationskämpfers Isaak Berr und andere). Es wurde auch der erste Keim zur Rassenassimilation gelegt — es kamen die ersten Mischehen zwischen Juden und Christen auf. Der Prozess der Assimilierung hatte selbst in den großen jüdischen Zentren von Elsaß und Lothringen bedeutende Erfolge zu verzeichnen. Schon im Jahre 1791, gleich nach Verkündung des Emanzipationsaktes, forderte Isaak Berr seine Stammesgenossen auf, ihre deutsch-jüdische Mundart aufzugeben, sich im täglichen Verkehr der französischen Sprache zu bedienen und ihre Kinder in französische Schulen zu schicken, da durch den Verkehr mit den christlichen Kindern in der Schule die gegenseitige Entfremdung schwinden und bald darauf einer „brüderlichen Liebe“ zwischen Juden und Christen Platz machen würde. Die Wünsche Berrs begannen im inneren Leben der jüdischen Gesellschaft greifbare Gestalt zu gewinnen; die Volkssprache wurde nach und nach durch die offizielle Staatssprache — das Fanzösische verdrängt, die jüdische Schule begann allmählich der französischen zu weichen, die Entfremdung der jungen Generation gegen alles Jüdische vollzog sich unaufhaltsam, aber vom ,,brüderlichen“ Verhältnis zu der umgebenden Bevölkerung war man noch weit entfernt. Nach fünfzehn Jahren seit der Verkündung des Emanzipationsaktes musste derselbe Isaak Berr folgende traurige Zeilen niederschreiben: „Gewiss, das segensreiche Dekret vom 28. September 1791 stellte uns in unseren Rechten wieder her und verpflichtete uns zu einem Gefühle ewiger Dankbarkeit, aber bis auf den heutigen Tag ist der Gebrauch, den wir davon machen, nur ein scheinbarer, denn in der Lebenspraxis ermangeln wir alles dessen, was wir de jure errungen haben. Die Verachtung, die dem Namen Jude anhaftet, bildet eines der Haupthindernisse zu unserer Wiedergeburt. Kommt ein jüdischer junger Mann zu einem Handwerksmeister, einem Fabrikinhaber, einem Künstler, einem Landmann, um Fachkenntnisse zu erwerben, so wird er zurückgewiesen, weil er Jude sei. Wird ein Jude vor Gericht geladen — so wird sich die gegnerische Partei selten das Vergnügen entgehen lassen, allgemeine und unziemliche Auslassungen gegen die Juden vorzubringen und sie mit all jenen Vorwürfen zu überschütten, die von altersher geltend gemacht werden. Man trägt nicht einmal Bedenken, uns auf der Bühne zur Zielscheibe des Spottes zu machen.“

Dieser passive Widerstand gegen die Praxis der Gleichberechtigung seitens der christlichen Gesellschaft begünstigte die sozial-wirtschaftliche Rückständigkeit unter den jüdischen Volksmassen. Trotz der Beseitigung aller Rechtseinschränkungen auf dem Gebiete der Berufe und der Gewerbe, verharrten die meisten Juden im Elsaß und Lothringen (den Departements des unteren und oberen Rheins, der Mosel usw.) in ihrer alten wirtschaftlichen Position — dem Kleinhandel und dem Geldgeschäft. Die langanhaltende finanzwirtschaftliche Krise Frankreichs während der Revolution und des Kaiserreichs machte es den Juden unmöglich, sich auf neue Erwerbsgebiete zu werfen, ohne dabei ihr Vermögen aufs Spiel zu setzen; andererseits wurden sie daran durch den Widerstand der interessierten Klassen der christlichen Bevölkerung verhindert. Daher der wirtschaftliche Konservatismus, das Festhalten an einem der traurigsten Monopole der jüdischen Wirtschaft — dem Geldkredit, insbesondere dem Kredit für landwirtschaftliche Zwecke. Der durch die Revolution bewirkte Umsturz in den Agrarverhältnissen (der Fall der feudalen Ordnung, die Auswanderung des Adels, das Aufkommen des bäuerlichen Grundbesitzes) erweiterte nur die Sphäre der jüdischen Vermittlungstätigkeit und verlieh ihr eine veränderte Gestalt. Einige jüdische Kapitalisten waren durch den Besitz von Bodenhypotheken zum unmittelbaren Grundbesitz übergegangen; die meisten aber befassten sich mit dem Wiederverkauf des ihnen verpfändeten Grundbesitzes an Bauern und Adlige. Die Spekulation in Immobilien erreichte im Zusammenhange mit der Schreckensherrschaft und der unruhigen Zeit unerhörte Dimensionen; Profitjäger kauften zum Spottpreise die von den Auswanderern verlassenen Grundstücke auf, um sie dann zu hohen Preisen wieder zu verkaufen. Der jüdische Gläubiger, der den Landmann mit Kapital zwecks Bodenankaufs versorgte, erleichterte ihm den Übergang von Taglöhnerei zum selbständigen Bodenbesitz; des öfteren aber belastete er den neuen Eigentümer mit drückenden Schuldverschreibungen. Der Mangel an barem Geld und die Unsicherheit des Kredits machten eine Erhöhung des Zinsfußes erforderlich, die den Juden viele Vorwürfe zuzog. Die Klagen über jüdische „Ausbeutung“ Wucher und Raub drangen ununterbrochen aus den Rheinischen Departements nach Paris. Marschall Kellermann erstattete im Jahre 1806 an Napoleon I. einen Bericht, in dem die Lage des Elsaß unter der wirtschaftlichen „Herrschaft“ der Juden in düsteren Farben geschildert war. Der judenfeindliche Bericht weckte die Vorstellung, als ob die Juden das elsässische Dorf zugrunde richteten, die gesamte ländliche Bevölkerung unterjochten und effektiv die Herren im Lande seien, da der meiste Grundbesitz in ihren Händen liege. Derartige einseitige Darstellungen verfehlten nicht einen starken Eindruck auf Napoleon zu machen, der in den ersten Jahren des Kaiserreichs lebhaftes Interesse für die Judenfrage zeigte. Die in Elsaß und Lothringen ansässigen Juden hatten keine Ahnung davon, welch eine furchtbare Anklageschrift gegen sie in Paris vorbereitet wurde und dass sogar die Frage der Abschaffung ihrer bürgerlichen Gleichberechtigung zur Diskussion stand ...