§ 2. Deutschland
In seinem bekannten Buche unter dem Titel „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ (Berlin 1781) gibt uns Christian Wilhelm Dohm ein Bild der Rechtlosigkeit der Juden in dem zersplitterten Deutschland und dem ihm verwandten französischen Elsaß. Dieses Bild, das ein preußischer Publizist und Beamter, der im Namen der Staatsräson gemäßigte Reformen forderte, entwirft, zeichnet sich durch eine beinahe offizielle, auf Tatsachen fußende Genauigkeit und Exaktheit aus.
„In einigen Staaten,“ sagt Dohm, ,,hat man ihnen den Aufenthalt ganz versagt, und erlaubt nur für einen gewissen Preis den Reisenden, des landesherrlichen Schutzes für eine kurze Zeit (oder für eine Nacht) zu genießen. In den meisten andern Staaten aber hat man die Juden nur unter den lästigsten Bedingungen nicht sowohl zu Bürgern als zu Einwohnern und Untertanen aufgenommen. Nur einer gewissen Anzahl jüdischer Familien ist es meistens erlaubt, sich in einem Lande niederzulassen, und diese Erlaubnis ist gewöhnlich nur auf gewisse Orte eingeschränkt und muss allemal mit einer ansehnlichen Summe Geldes erkauft werden . . . Hat ein jüdischer Vater mehrere Sohne, so kann er gewöhnlich die Begünstigung des Daseins in dem Lande seiner Geburt nur auf einen derselben fortpflanzen, die übrigen muss er mit einem abgerissenen Teile seines Vermögens in fremde Gegenden ausschicken, wo sie mit gleichen Hindernissen zu kämpfen haben. Bei seinen Töchtern kommt es darauf an, ob er glücklich genug ist, sie in einer der wenigen Familien seines Ortes einzuführen. Selten kann also ein jüdischer Vater das Glück genießen, unter seinen Kindern und Enkeln zu leben, den Wohlstand seiner Familie auf eine dauerhafte Art zu gründen. Denn auch der wohlhabende wird durch die notwendige Trennung seiner Kinder und die Kosten ihres Etablissements an verschiedenen Orten, zu einer beständigen Zerreißung seines Vermögens gezwungen. Hat man dem Juden die Erlaubnis, sich in dem Staate aufzuhalten, bewilligt, so muss er dieselbe jährlich durch eine starke Abgabe wieder erkaufen, er darf sich nicht ohne besondere Erlaubnis, die von gewissen Umständen abhängt, und nicht ohne neue Kosten verheiraten; jedes Kind vermehrt die Größe seiner Abgaben, und fast alle seine Handlungen sind damit belegt . . . Und bei diesen so mannigfaltigen Abgaben ist der Erwerb des Juden auf das äußerste beschränkt. Von der Ehre, dem Staat sowohl im Frieden als im Kriege zu dienen, ist er allenthalben ganz ausgeschlossen; die erste der Beschäftigungen, der Ackerbau, ist ihm allenthalben untersagt, und fast nirgends kann er liegende Gründe in seinem Namen eigentümlich besitzen. Jede Zunft würde sich entehrt glauben, wenn sie einen Beschnittenen zu ihrem Genossen aufnähme, und daher ist der Hebräer fast in allen Landen von den Handwerken und mechanischen Künsten ganz ausgeschlossen. Nur seltenen Genies (die, wenn vom Ganzen der Nation die Rede ist, nicht gerechnet werden können) bleibt bei so vielen niederdrückenden Umständen noch Mut und Heiterkeit, sich zu den schönen Künsten oder den Wissenschaften zu erheben, von denen, zugleich als Weg des Erwerbs betrachtet, nur allein Messkunst, Naturkunde und Arzneigelahrtheit dem Hebräer übrig bleiben. Und auch diese seltenen Menschen, die in den Wissenschaften und Künsten eine hohe Stufe erreichen, sowie die, welche durch die untadelhafteste Rechtschaffenheit der Menschheit Ehre machen, können nur die Achtung weniger Edlen erwerben; bei dem großen Haufen machen auch die ausgezeichnetsten Verdienste des Geistes und Herzens den Fehler nie verzeihlich — ein Jude zu sein. Diesem Unglücklichen also, der kein Vaterland hat, dessen Tätigkeit allenthalben beschränkt ist, der nirgends seine Talente frei äußern kann, an dessen Tugend nicht geglaubt wird, für den es fast keine Ehre gibt — ihm bleibt kein andrer Weg, des vergünstigten Daseins zu genießen, sich zu nähren, als der Handel. Aber auch dieser ist durch viele Einschränkungen und Abgaben erschwert, und nur wenige dieser Nation haben so viel Vermögen, dass sie einen Handel im Großen unternehmen können. Sie sind also meistens auf einen sehr kleinen Detailhandel eingeschränkt, bei dem nur die öfftere Wiederholung kleiner Gewinne hinreichen kann, ein dürftiges Leben zu erhalten; oder sie werden gezwungen, ihr Geld, das sie selbst nicht benutzen können, an andere zu verleihen.“
In den zahlreichen großen und kleinen Staaten, in die das damalige Deutsche Reich zerfiel, variierte die gegen die Juden gerichtete Politik der Unterdrückung nur innerhalb der Grenzen der obenerwähnten Grundnormen. Den drückendsten Beschränkungen unterlag das Recht der Freizügigkeit. An allen Grenzstationen der dreihundert Zwergstaaten des damaligen Deutschlands waren dem gehetzten Tiere — dem Juden — Fallen gestellt. Wenn ein Jude von dem einen Staat in den anderen, oft auch von der einen Stadt in die andere innerhalb der Grenzen desselben Landes hinüberkam, so musste er bei seiner Ankunft am Bestimmungsort dieselbe Steuer entrichten, die für die Einfuhr von Vieh festgesetzt war. Es war dies der schändliche Leib- oder Geleitzoll (Judengeleit), der den reisenden Juden zur Zielscheibe des Spottes an den Toren und Grenzstationen vieler deutscher Städte machte. Und nur die privilegierten sogenannten Schutz- oder Geleitjuden konnten sich unter Beobachtung erniedrigender Formalitäten bei Reisen auf dem Gebiete des sie beherbergenden Staates von diesen Abgaben befreien, aber an der Grenze der Besitztümer irgendeines anderen Herzogs, Fürsten oder Kurfürsten angelangt, waren auch diese Juden verpflichtet, den Leibzoll zu zahlen. Als der bereits berühmt gewordene Denker Moses Mendelssohn im Jahre 1776 in die Hauptstadt Sachsens, Dresden, einzog, wurde er an der Grenze angehalten und gezwungen, den Leibzoll nach der für einen ,,polnischen Stier“ festgesetzten Taxe zu zahlen, wie sich der beleidigte Berliner Weise nachher mit bitteres Ironie ausdrückte.
Nach der „Judenordnung“ von 1746 war es den Juden erlaubt, in Sachsen (Dresden und Leipzig), diesem protestantischen Spanien, unter sehr lästigen Bedingungen und in begrenzter Zahl zu wohnen. Es war ihnen verboten, ein Bethaus behufe öffentlichen Gottesdienstes zu besitzen, und sie waren genötigt, ihre Gebete unauffällig und leise in einem privaten Hause zu verrichten; ferner war es ihnen verboten, Häuser zu erwerben, Gewerbe und Handel zu treiben; und nur der Handel mit alten Kleidern und das Wechselgeschäft waren ihnen gestattet. Alle diese Härten wurden in der Folge (1767, 1772 — 73) noch verschärft. Die Polizei passte scharf auf, dass in den Häusern der „geduldeten“ Juden sich nicht ihre kein Wohnrecht habenden Stammesgenossen heimlich aufhielten. Das Schutzgeld wurde bis zu der ungeheuren Summe von 70 Talern für jeden Familienvater, von 30 Talern für dessen Frau und 5 Talern für jedes von seinen Kindern erhöht. Für eine Heiratserlaubnis wurden 40 Taler erhoben. Viele Familien, die die Last dieser Steuern nicht zu ertragen vermochten, sahen sich der Ausweisung aus Dresden ausgeliefert, und nur dem Eingreifen Mendelssohns ist es zu verdanken, dass die Vertreibung vieler Hunderte von Unglücklichen nicht zur Ausführung kam.
Das katholische Bayern wetteiferte mit der Geburtsstätte des Protestantismus in der Unterdrückung der Juden. Hier hatten die Juden ihre in sich abgeschlossenen Gemeinden oder Ghetti nur in einigen Städten; an vielen Orten war ihnen das Wohnen untersagt; nur in Handelsangelegenheiten, und für kurze Dauer unter polizeilicher Bewachung, nach Art der Sträflinge (,,lebendiges Geleit“ in Nürnberg) wurde ihnen der Zutritt zu diesen Orten gewährt, und nur in Fürth gelang es den Juden, eine rege kommerzielle Tätigkeit zu entfalten.
Zur besonderen Blüte gelangte das mittelalterliche Ghettoregime in der freien Reichsstadt Frankfurt a. M., wo sich eine der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands befand. Die die Stadt verwaltende bürgerliche Oligarchie, von lutherischer Unduldsamkeit und Krämergeist durchdrungen (auch Katholiken und Reformierte waren in ihren Rechten beschnitten), zwängten den Juden in das dunkelste Kellerloch des gesellschaftlichen Gebäudes. Nicht umsonst wurde das Frankfurter Ghetto oder die „Judengasse“ „das neue Ägypten“ genannt. Ungefähr 500 jüdische Familien, unter denen sich viele wohlhabende und gebildete Menschen befanden, waren in einem entsetzlich engen Raume zusammengepfercht. Keinem einzigen Juden war es erlaubt, außerhalb der Grenzlinie des Judenviertels zu wohnen. Die Ghettobewohner durften sich nur am Tage in die Stadt begeben, an Sonntagen jedoch mussten sie auch am Tage im Ghetto bleiben. Mit dem Anbruch der Nacht wurde das Ghettotor verriegelt, und eine Polizeipatrouille wachte darüber, dass niemand ohne zwingenden Grund herauskam. In einem dieser Sklavenhäuser wurde im Jahre 1786 Ludwig Börne geboren, der sich in der Folge einen ruhmreichen Namen als Kämpfer für politische Freiheit erwarb und der seine ersten Kindheitseindrücke vom Frankfurter Ghetto in folgenden Zeilen voll beißenden Spottes schilderte:
„Ehemals wohnten sie in einer eigenen Gasse, und dieser Fleck war bestimmt der bevölkertste auf der ganzen Erde . . . Sie erfreuten sich der zärtlichsten Sorgfalt ihrer Regierung. Sonntags durften sie ihre Gasse nicht verlassen, damit sie von Betrunkenen keine Schläge bekämen. Vor dem 25. Jahre durften sie nicht heiraten, damit ihre Kinder stark und gesund würden. An Feiertagen durften sie erst um sechs Uhr abends zum Tore hinausgehen, dass die allzu große Sonnenhitze ihnen nicht schade. Die öffentlichen Spaziergänge außerhalb der Stadt waren ihnen untersagt, man nötigte sie, ins Feld zu wandern, um ihren Sinn für Landwirtschaft zu erwecken. Ging ein Jude über die Straße, und ein Christ rief ihm zu: Mach Mores, Jud'! — so musste er seinen Hut abziehen; durch diese höfliche Aufmerksamkeit sollte die Liebe zwischen beiden Religionsparteien befestigt werden. Mehrere Straßen der Stadt, die ein schlechtes unbequemes Pflaster hatten, durften sie niemals betreten.“
Den Ghettobewohnern war es verboten, sich während öffentlicher Prozessionen und Feierlichkeiten auf den Straßen zu zeigen. Am Krönungstage des Kaisers Leopold II. wurden von der Stadtkanzlei Passierscheine folgenden Inhalts gnädigst ausgestellt: Der Inhaber dieses darf sich am bevorstehenden Krönungstage in die Stadt begeben, um der Feier aus den Fenstern irgendeines Hauses oder von einem Gerüste aus, aber keineswegs auf der Straße zuzuschauen. Bei einer Bevölkerungszahl von 500 Familien durfte die Norm der jüdischen Eheschließungen in Frankfurt die Zahl 12 nicht überschreiten.
Die Fürsten und Regierungen der deutschen Staaten machten kein Hehl aus den Beweggründen ihrer gegen die Vermehrung der Juden gerichteten Pharaonenpolitik. Der mecklenburgische Herzog Friedrich Franz I., der im Rufe eines „liberal Denkenden“ stand, verordnete gleich nach seiner Thronbesteigung, dass den Juden keine ,,Schutzbriefe“ — Aufenthaltsbewilligungen — über die einmal festgesetzten Normen hinaus ausgestellt werden dürfen, ,,bis ein Teil der früheren Schutzjuden aussterben und dadurch ihren Glaubensgenossen die Möglichkeit eines Unterhalts eröffnen wird“; erwachsene Söhne durften nicht auf Grund des Wohnrechtes ihrer Eltern sich im Lande aufhalten, sondern mussten den Nachweis liefern, dass sie über ein eigenes Kapital oder gesicherte Einnahmen verfügen. Die Regulierung der jüdischen Bevölkerung wurde hier mit der Sorge um ihre Nahrungsquellen bemäntelt; zu gleicher Zeit aber trafen Regenten, Magistrate und Zünfte allerhand Maßnahmen, um den Juden die meisten dieser Quellen zu verschließen, und dadurch der Ausweisung ihres ,,Überflusses“ eine gesetzliche Begründung zu geben. Die Nichtzulassung der Juden zu den Zunftgewerben motiviert die badische Regierung damit, dass die Juden bei ihren Fähigkeiten in manchen Zweigen Geschicklichkeit erreichen und die Verdienste an sich reißen würden“.
Rücksichten der Handelskonkurrenz lagen ebenfalls all jenen drückenden Erschwerungen der wirtschaftlichen Tätigkeit zugrunde, unter denen die große jüdische Kolonie der Industriestadt Hamburg lebte. Viele Zweige des Handels und des Handwerks waren den Juden unzugänglich. Der Erwerb von unbeweglichen Gütern war ihnen untersagt; in die städtischen Schulen wurden Kinder jüdischer Eltern, selbst wenn sie wohlhabenden und gebildeten Familien angehörten, nicht aufgenommen. Bei der Ankunft in eine Stadt musste ein Jude aus einer anderen Stadt den ,,Geleitsgulden“ und dann noch den Schutztaler zahlen. Das Ansiedelungsgebiet der Juden in Hamburg war begrenzt, wenn auch nicht so abgeschlossen wie das Frankfurter Ghetto.
„In einigen Staaten,“ sagt Dohm, ,,hat man ihnen den Aufenthalt ganz versagt, und erlaubt nur für einen gewissen Preis den Reisenden, des landesherrlichen Schutzes für eine kurze Zeit (oder für eine Nacht) zu genießen. In den meisten andern Staaten aber hat man die Juden nur unter den lästigsten Bedingungen nicht sowohl zu Bürgern als zu Einwohnern und Untertanen aufgenommen. Nur einer gewissen Anzahl jüdischer Familien ist es meistens erlaubt, sich in einem Lande niederzulassen, und diese Erlaubnis ist gewöhnlich nur auf gewisse Orte eingeschränkt und muss allemal mit einer ansehnlichen Summe Geldes erkauft werden . . . Hat ein jüdischer Vater mehrere Sohne, so kann er gewöhnlich die Begünstigung des Daseins in dem Lande seiner Geburt nur auf einen derselben fortpflanzen, die übrigen muss er mit einem abgerissenen Teile seines Vermögens in fremde Gegenden ausschicken, wo sie mit gleichen Hindernissen zu kämpfen haben. Bei seinen Töchtern kommt es darauf an, ob er glücklich genug ist, sie in einer der wenigen Familien seines Ortes einzuführen. Selten kann also ein jüdischer Vater das Glück genießen, unter seinen Kindern und Enkeln zu leben, den Wohlstand seiner Familie auf eine dauerhafte Art zu gründen. Denn auch der wohlhabende wird durch die notwendige Trennung seiner Kinder und die Kosten ihres Etablissements an verschiedenen Orten, zu einer beständigen Zerreißung seines Vermögens gezwungen. Hat man dem Juden die Erlaubnis, sich in dem Staate aufzuhalten, bewilligt, so muss er dieselbe jährlich durch eine starke Abgabe wieder erkaufen, er darf sich nicht ohne besondere Erlaubnis, die von gewissen Umständen abhängt, und nicht ohne neue Kosten verheiraten; jedes Kind vermehrt die Größe seiner Abgaben, und fast alle seine Handlungen sind damit belegt . . . Und bei diesen so mannigfaltigen Abgaben ist der Erwerb des Juden auf das äußerste beschränkt. Von der Ehre, dem Staat sowohl im Frieden als im Kriege zu dienen, ist er allenthalben ganz ausgeschlossen; die erste der Beschäftigungen, der Ackerbau, ist ihm allenthalben untersagt, und fast nirgends kann er liegende Gründe in seinem Namen eigentümlich besitzen. Jede Zunft würde sich entehrt glauben, wenn sie einen Beschnittenen zu ihrem Genossen aufnähme, und daher ist der Hebräer fast in allen Landen von den Handwerken und mechanischen Künsten ganz ausgeschlossen. Nur seltenen Genies (die, wenn vom Ganzen der Nation die Rede ist, nicht gerechnet werden können) bleibt bei so vielen niederdrückenden Umständen noch Mut und Heiterkeit, sich zu den schönen Künsten oder den Wissenschaften zu erheben, von denen, zugleich als Weg des Erwerbs betrachtet, nur allein Messkunst, Naturkunde und Arzneigelahrtheit dem Hebräer übrig bleiben. Und auch diese seltenen Menschen, die in den Wissenschaften und Künsten eine hohe Stufe erreichen, sowie die, welche durch die untadelhafteste Rechtschaffenheit der Menschheit Ehre machen, können nur die Achtung weniger Edlen erwerben; bei dem großen Haufen machen auch die ausgezeichnetsten Verdienste des Geistes und Herzens den Fehler nie verzeihlich — ein Jude zu sein. Diesem Unglücklichen also, der kein Vaterland hat, dessen Tätigkeit allenthalben beschränkt ist, der nirgends seine Talente frei äußern kann, an dessen Tugend nicht geglaubt wird, für den es fast keine Ehre gibt — ihm bleibt kein andrer Weg, des vergünstigten Daseins zu genießen, sich zu nähren, als der Handel. Aber auch dieser ist durch viele Einschränkungen und Abgaben erschwert, und nur wenige dieser Nation haben so viel Vermögen, dass sie einen Handel im Großen unternehmen können. Sie sind also meistens auf einen sehr kleinen Detailhandel eingeschränkt, bei dem nur die öfftere Wiederholung kleiner Gewinne hinreichen kann, ein dürftiges Leben zu erhalten; oder sie werden gezwungen, ihr Geld, das sie selbst nicht benutzen können, an andere zu verleihen.“
In den zahlreichen großen und kleinen Staaten, in die das damalige Deutsche Reich zerfiel, variierte die gegen die Juden gerichtete Politik der Unterdrückung nur innerhalb der Grenzen der obenerwähnten Grundnormen. Den drückendsten Beschränkungen unterlag das Recht der Freizügigkeit. An allen Grenzstationen der dreihundert Zwergstaaten des damaligen Deutschlands waren dem gehetzten Tiere — dem Juden — Fallen gestellt. Wenn ein Jude von dem einen Staat in den anderen, oft auch von der einen Stadt in die andere innerhalb der Grenzen desselben Landes hinüberkam, so musste er bei seiner Ankunft am Bestimmungsort dieselbe Steuer entrichten, die für die Einfuhr von Vieh festgesetzt war. Es war dies der schändliche Leib- oder Geleitzoll (Judengeleit), der den reisenden Juden zur Zielscheibe des Spottes an den Toren und Grenzstationen vieler deutscher Städte machte. Und nur die privilegierten sogenannten Schutz- oder Geleitjuden konnten sich unter Beobachtung erniedrigender Formalitäten bei Reisen auf dem Gebiete des sie beherbergenden Staates von diesen Abgaben befreien, aber an der Grenze der Besitztümer irgendeines anderen Herzogs, Fürsten oder Kurfürsten angelangt, waren auch diese Juden verpflichtet, den Leibzoll zu zahlen. Als der bereits berühmt gewordene Denker Moses Mendelssohn im Jahre 1776 in die Hauptstadt Sachsens, Dresden, einzog, wurde er an der Grenze angehalten und gezwungen, den Leibzoll nach der für einen ,,polnischen Stier“ festgesetzten Taxe zu zahlen, wie sich der beleidigte Berliner Weise nachher mit bitteres Ironie ausdrückte.
Nach der „Judenordnung“ von 1746 war es den Juden erlaubt, in Sachsen (Dresden und Leipzig), diesem protestantischen Spanien, unter sehr lästigen Bedingungen und in begrenzter Zahl zu wohnen. Es war ihnen verboten, ein Bethaus behufe öffentlichen Gottesdienstes zu besitzen, und sie waren genötigt, ihre Gebete unauffällig und leise in einem privaten Hause zu verrichten; ferner war es ihnen verboten, Häuser zu erwerben, Gewerbe und Handel zu treiben; und nur der Handel mit alten Kleidern und das Wechselgeschäft waren ihnen gestattet. Alle diese Härten wurden in der Folge (1767, 1772 — 73) noch verschärft. Die Polizei passte scharf auf, dass in den Häusern der „geduldeten“ Juden sich nicht ihre kein Wohnrecht habenden Stammesgenossen heimlich aufhielten. Das Schutzgeld wurde bis zu der ungeheuren Summe von 70 Talern für jeden Familienvater, von 30 Talern für dessen Frau und 5 Talern für jedes von seinen Kindern erhöht. Für eine Heiratserlaubnis wurden 40 Taler erhoben. Viele Familien, die die Last dieser Steuern nicht zu ertragen vermochten, sahen sich der Ausweisung aus Dresden ausgeliefert, und nur dem Eingreifen Mendelssohns ist es zu verdanken, dass die Vertreibung vieler Hunderte von Unglücklichen nicht zur Ausführung kam.
Das katholische Bayern wetteiferte mit der Geburtsstätte des Protestantismus in der Unterdrückung der Juden. Hier hatten die Juden ihre in sich abgeschlossenen Gemeinden oder Ghetti nur in einigen Städten; an vielen Orten war ihnen das Wohnen untersagt; nur in Handelsangelegenheiten, und für kurze Dauer unter polizeilicher Bewachung, nach Art der Sträflinge (,,lebendiges Geleit“ in Nürnberg) wurde ihnen der Zutritt zu diesen Orten gewährt, und nur in Fürth gelang es den Juden, eine rege kommerzielle Tätigkeit zu entfalten.
Zur besonderen Blüte gelangte das mittelalterliche Ghettoregime in der freien Reichsstadt Frankfurt a. M., wo sich eine der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands befand. Die die Stadt verwaltende bürgerliche Oligarchie, von lutherischer Unduldsamkeit und Krämergeist durchdrungen (auch Katholiken und Reformierte waren in ihren Rechten beschnitten), zwängten den Juden in das dunkelste Kellerloch des gesellschaftlichen Gebäudes. Nicht umsonst wurde das Frankfurter Ghetto oder die „Judengasse“ „das neue Ägypten“ genannt. Ungefähr 500 jüdische Familien, unter denen sich viele wohlhabende und gebildete Menschen befanden, waren in einem entsetzlich engen Raume zusammengepfercht. Keinem einzigen Juden war es erlaubt, außerhalb der Grenzlinie des Judenviertels zu wohnen. Die Ghettobewohner durften sich nur am Tage in die Stadt begeben, an Sonntagen jedoch mussten sie auch am Tage im Ghetto bleiben. Mit dem Anbruch der Nacht wurde das Ghettotor verriegelt, und eine Polizeipatrouille wachte darüber, dass niemand ohne zwingenden Grund herauskam. In einem dieser Sklavenhäuser wurde im Jahre 1786 Ludwig Börne geboren, der sich in der Folge einen ruhmreichen Namen als Kämpfer für politische Freiheit erwarb und der seine ersten Kindheitseindrücke vom Frankfurter Ghetto in folgenden Zeilen voll beißenden Spottes schilderte:
„Ehemals wohnten sie in einer eigenen Gasse, und dieser Fleck war bestimmt der bevölkertste auf der ganzen Erde . . . Sie erfreuten sich der zärtlichsten Sorgfalt ihrer Regierung. Sonntags durften sie ihre Gasse nicht verlassen, damit sie von Betrunkenen keine Schläge bekämen. Vor dem 25. Jahre durften sie nicht heiraten, damit ihre Kinder stark und gesund würden. An Feiertagen durften sie erst um sechs Uhr abends zum Tore hinausgehen, dass die allzu große Sonnenhitze ihnen nicht schade. Die öffentlichen Spaziergänge außerhalb der Stadt waren ihnen untersagt, man nötigte sie, ins Feld zu wandern, um ihren Sinn für Landwirtschaft zu erwecken. Ging ein Jude über die Straße, und ein Christ rief ihm zu: Mach Mores, Jud'! — so musste er seinen Hut abziehen; durch diese höfliche Aufmerksamkeit sollte die Liebe zwischen beiden Religionsparteien befestigt werden. Mehrere Straßen der Stadt, die ein schlechtes unbequemes Pflaster hatten, durften sie niemals betreten.“
Den Ghettobewohnern war es verboten, sich während öffentlicher Prozessionen und Feierlichkeiten auf den Straßen zu zeigen. Am Krönungstage des Kaisers Leopold II. wurden von der Stadtkanzlei Passierscheine folgenden Inhalts gnädigst ausgestellt: Der Inhaber dieses darf sich am bevorstehenden Krönungstage in die Stadt begeben, um der Feier aus den Fenstern irgendeines Hauses oder von einem Gerüste aus, aber keineswegs auf der Straße zuzuschauen. Bei einer Bevölkerungszahl von 500 Familien durfte die Norm der jüdischen Eheschließungen in Frankfurt die Zahl 12 nicht überschreiten.
Die Fürsten und Regierungen der deutschen Staaten machten kein Hehl aus den Beweggründen ihrer gegen die Vermehrung der Juden gerichteten Pharaonenpolitik. Der mecklenburgische Herzog Friedrich Franz I., der im Rufe eines „liberal Denkenden“ stand, verordnete gleich nach seiner Thronbesteigung, dass den Juden keine ,,Schutzbriefe“ — Aufenthaltsbewilligungen — über die einmal festgesetzten Normen hinaus ausgestellt werden dürfen, ,,bis ein Teil der früheren Schutzjuden aussterben und dadurch ihren Glaubensgenossen die Möglichkeit eines Unterhalts eröffnen wird“; erwachsene Söhne durften nicht auf Grund des Wohnrechtes ihrer Eltern sich im Lande aufhalten, sondern mussten den Nachweis liefern, dass sie über ein eigenes Kapital oder gesicherte Einnahmen verfügen. Die Regulierung der jüdischen Bevölkerung wurde hier mit der Sorge um ihre Nahrungsquellen bemäntelt; zu gleicher Zeit aber trafen Regenten, Magistrate und Zünfte allerhand Maßnahmen, um den Juden die meisten dieser Quellen zu verschließen, und dadurch der Ausweisung ihres ,,Überflusses“ eine gesetzliche Begründung zu geben. Die Nichtzulassung der Juden zu den Zunftgewerben motiviert die badische Regierung damit, dass die Juden bei ihren Fähigkeiten in manchen Zweigen Geschicklichkeit erreichen und die Verdienste an sich reißen würden“.
Rücksichten der Handelskonkurrenz lagen ebenfalls all jenen drückenden Erschwerungen der wirtschaftlichen Tätigkeit zugrunde, unter denen die große jüdische Kolonie der Industriestadt Hamburg lebte. Viele Zweige des Handels und des Handwerks waren den Juden unzugänglich. Der Erwerb von unbeweglichen Gütern war ihnen untersagt; in die städtischen Schulen wurden Kinder jüdischer Eltern, selbst wenn sie wohlhabenden und gebildeten Familien angehörten, nicht aufgenommen. Bei der Ankunft in eine Stadt musste ein Jude aus einer anderen Stadt den ,,Geleitsgulden“ und dann noch den Schutztaler zahlen. Das Ansiedelungsgebiet der Juden in Hamburg war begrenzt, wenn auch nicht so abgeschlossen wie das Frankfurter Ghetto.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (1789-1914) Band 1