§ 16. Der Separatismus der Sephardim und die Anerkennung ihrer Gleichberechtigung

Der Beschluss vom 24. Dezember versetzte die Juden in einen Zustand tiefster Entmutigung. Getragen vom ersten idealen Aufschwünge der Revolution, lebten sie in dem Glauben, dass die jüdische Frage in allernächster Zukunft eine Lösung im Geiste der humanitären Prinzipien der „Deklaration der Rechte des Menschen und des Staatsbürgers“ durch die Nationalversammlung finden werde; da mussten sie plötzlich die Erfahrung machen, dass die Deklaration sehr gut bestehen könne, auch ohne dass den Juden Rechte — nicht einmal „menschliche“, geschweige denn staatsbürgerliche — eingeräumt werden. In den Räumen des großen Freiheitstribunals mussten sie es mit anhören, wie die Stimme der Verfechter der Emanzipation durch die Stimmen des religiösen und nationalen Hasses, die Stimmen der ,,Schwarzen“, übertönt wurde. Es war dies ein moralischer Schlag für das ganze jüdische Volk, und nicht nur für jenen winzigen Teil desselben, der in Frankreich lebte. So fassten es nämlich die national gestimmten „deutschen“ oder elsaß-lothringischen Juden auf, die die überwiegende Mehrheit der französischen Judenheit bildeten. Ein anderes Verhalten der ganzen Sache gegenüber legte die ,, bevorzugte“ Minderheit an den Tag. Es waren dies die Sephardim von Bordeaux, die im Begriffe waren, sich zu „Franzosen mosaischer Konfession“ herauszubilden. Die neue Niederlage würdigten sie nicht vom nationalen — sondern vom Gruppenstandpunkte aus. Sie, die Juden von Bordeaux hielten sich schon seit langem für die auserwählte Aristokratie der Judenheit; sie genossen die Rechte der in Südfrankreich Naturalisierten und folglich die Rechte des „passiven Bürgertums“; sie waren schon tatsächlich nahe daran, die „aktiven Bürgerrechte“ für die Wahlen zu den Generalstaaten (§ 14) zu erhalten — und mit einem Male warf man sie, die Bevorzugten, durch den Beschluss, die jüdische Frage zu vertagen, in einen Topf mit den unglückseligen ,, deutschen Juden, die nicht einmal elementare Bürgerrechte besaßen, und an ihrer nationalen Absonderung festhielten“! In tiefer Verstimmung — nicht über das Schicksal ihrer größeren Leiden ausgesetzten Brüder, sondern über die Schmälerung und Beeinträchtigung ihrer Gruppenehre und ihrer Gruppeninteressen, sagten sich die Juden von Bordeaux in schändlicher Weise von der nationalen Solidarität los*).

Sobald die Resolution vom 24. Dezember veröffentlicht worden war, wandten sich die Juden von Bordeaux mit einer Protestbittschrift an die Nationalversammlung (31. Dezember 1789). Sie machten die Versammlung darauf aufmerksam, dass die in Südfrankreich ansässigen Juden „portugiesischer“ Herkunft sich schon längst der Bürgerrechte auf Grund königlicher „Patente“ erfreuten, dass sie sowohl de jure, wie de facto die Gleichberechtigung besitzen, und es ihnen bloß an der Sanktionierung der ,, aktiven Bürgerrechte“ fehle, um in den Besitz aller bürgerlichen Rechte zu treten. Und dies sei auch der Grund, weshalb sie, die Juden von Bordeaux, sich durch den Umstand verletzt fühlen, dass man sie in der Resolution der Nationalversammlung in eine Linie mit „Juden anderer Herkunft“ stellte. Sie protestieren gegen das Verhalten der „Juden von Elsaß-Lothringen und der drei Bistümer“, die unter ihrer selbsteigenen, partikulären (Gemeinde-) Verwaltung leben, ihre besonderen Gesetze haben und eine von allen anderen abgesonderte. Bürgerklasse bilden wollen. Die Verfasser der Bittschrift sind über eine derartige „unvernünftige Leidenschaftlichkeit des religiösen Eifers“ entrüstet und wollen hoffen, dass dieser Umstand die Sephardim oder Portugiesen, die sich „mit der Menge aller anderen Nachkommen Jakobs niemals vereinigten und vermischten“, nicht kompromittieren werde.


*) Schon nach den ersten Pogromen im Elsaß, im August 1789, wandten sich die Juden von Bordeaux an den Abbé Grégoire mit einem Brief, in dem sie zu beweisen suchten, dass sie sich im Gegensatz zu ihren ,,unglücklichen“ Stammesgenossen im Elsaß schon längst den Christen genähert hätten; ,,wenn daher das Benehmen oder das unglückliche Los einiger Juden im Elsaß und den drei Bistümern die Nationalversammlung bewegen würde, irgendein alle Juden des Königreichs berührendes Reglement zu erlassen, würden die Juden von Bordeaux darin mit Recht eine unverdiente Beleidigung erblicken“. Der Brief war von Grandis, Purtado und anderen unterschrieben.

Die Bittschrift („Adresse“) der Juden von Bordeaux, unterzeichnet von ihren Bevollmächtigten und 215 ,,chefs de maison“, wurde im Publikum verbreitet und an alle Abgeordneten der Nationalversammlung verschickt. Und alle erfuhren auf die Weise, dass es zwei jüdische Stämme gibt: einen patentierten, patriotisch gesinnten und der Gleichberechtigung würdigen „portugiesischen“ Stamm, und einen ,,deutschen“, der fanatisch und in staatsbürgerlicher Hinsicht nicht rechtsfähig ist. Die Bittschrift ging dem Verfassungsausschuss der Nationalversammlung zu. Der Ausschuss beauftragte eines seiner Mitglieder, den Bischof von Autun — den später berühmt gewordenen Diplomaten Talleyrand — , über das Gesuch der Juden von Bordeaux eine Denkschrift zu verfassen. Am 28. Januar 1790 wurde die Denkschrift dem Verfassungsausschuss mit folgender Bemerkung unterbreitet: „Die Revolution, die die Rechte aller Franzosen wiederhergestellt hat, kann keiner einzigen Bürgergruppe die ihr einmal verliehenen Rechte entreißen. Ohne etwas in betreff der vertagten allgemeinen Frage (hinsichtlich der Juden) im voraus zu bestimmen, schlägt daher der Ausschuss der Versammlung vor, den Juden von Bordeaux alles zu gewähren, was sie von Rechts wegen fordern, und sie als aktive Staatsbürger unter den für alle anderen Franzosen geltenden Bedingungen zu erklären.“ Der verlesene Antrag löste im Sitzungssaal einen mächtigen Tumult aus. Der obligate Judenfresser Reubell bestieg die Rednertribüne und begann mit folgenden Worten: „Euch, meine Herren, schlägt man vor, die Juden von Bordeaux nicht mehr als Juden anzusehen . . .!“ Er suchte nachzuweisen, dass der Antrag des Verfassungsausschusses zu der Resolution vom 24. Dezember in Widerspruch stehe, dass, wenn den Juden von Bordeaux die Gleichberechtigung gewährt werde, kein Grund vorliege, sie den elsässischen Juden zu verweigern, was gefährlich wäre, angesichts des Umstandes, dass die Proklamierung der jüdischen Gleichberechtigung zu Ausschreitungen gegen die Juden im Elsaß führen würde. In demselben Geiste sprach auch der Abbé Maury. Diesen beiden antworteten die Redner der linksstehenden Partei, die klarzumachen suchten, dass man die Juden von Bordeaux mit denen vom Elsaß nicht verwechseln dürfe; denn bei den ersteren handele es sich um die bloße Erhaltung der früheren staatsbürgerlichen Rechte, während es sich bei den letzteren um die Gewährung von Rechten handle, die sie früher nicht besaßen.

Eine berichtigende Klausel von großer Wichtigkeit schlug der Abbé Grégoire vor, indem er erklärte, dass die Gleichberechtigung nicht nur den Juden von Bordeaux, sondern auch allen unter dem Namen der „portugiesischen, spanischen und avignoner“ bekannten Juden Süd- und Westfrankreichs zu gewähren sei. Was nun die elsaß-lothringischen Juden betrifft, so ersuchte er, einen eigenen Tag für die Erörterung dieser Frage festzusetzen, und versprach, alle falschen Beweise des Abbé Maury und der anderen Gegner der Emanzipation zu widerlegen.

Nach unendlichen Formulierungen und Berichtigungen wurde endlich an die Abstimmung geschritten. Es wurde zunächst versucht, die Frage durch Aufstehen von den Plätzen zu entscheiden, aber der zweimal wiederholte Versuch ergab zweifelhafte Resultate. Man sah sich also genötigt, zu einer namentlichen Abstimmung zu schreiten. Die antijüdische Partei beschloss, die namentliche Abstimmung zu vereiteln und eine Auflösung der Sitzung herbeizuführen. In den Reihen der Rechten entstand ein ungeheurer Lärm; die geistlichen und adeligen Abgeordneten erhoben sich von ihren Sitzen, gingen ein und aus, redeten durcheinander und lärmten. Die Stimme des Sekretärs, der die Namen der Abgeordneten aufrief, erstickte in diesem Lärm; an die zwanzig Mal wurde die Abrufung unterbrochen und wieder aufgenommen. Zwei Stunden dauerte dieser Skandal. Das freche Benehmen der judenfeindlichen Abgeordneten regte die Linke und das Zentrum dermaßen auf, dass sie beschlossen, den Radaumachern keinesfalls nachzugeben. Der Vorsitzende der Versammlung erklärte, dass ihn nichts davon abbringen würde, die Sitzung bis zu ihrem Ende durchzuführen. Schließlich wurden die „Schwarzen“ des Lärmens müde — und die namentliche Abstimmung nahm einen normalen Verlauf. Für den den Juden günstigen Antrag mit der Ergänzungsklausel Grégoires wurden 373 Stimmen gegen 225 abgegeben. Der durch eine so starke Mehrheit angenommene Beschluss lautete folgendermaßen: „Die Nationalversammlung beschließt, dass alle als portugiesische, spanische und avignoner bekannte Juden nach wie vor alle die Rechte genießen sollen, die sie auf Grund königlicher Patente genossen, und dass sie daher alle Rechte der aktiven Bürger genießen dürfen, wenn sie den von der Versammlung hierfür festgesetzten Bedingungen genügen werden.“

Der Beschluss der Nationalversammlung wurde unverzüglich dem Könige zur Bestätigung unterbreitet und erhielt einige Tage darauf gesetzliche Kraft. Die in Paris wohnenden Sephardim schickten einen Boten nach Bordeaux, um ihren Landsleuten die frohe Botschaft mitzuteilen. Die jüdischen Einwohner von Bordeaux mussten jedoch noch einige peinliche Tage erleben. Das durch seinen Misserfolg erbitterte „schwarze Hundert“ versuchte, das städtische Gesindel in Bordeaux gegen die Juden aufzuhetzen. Nach Paris kamen beunruhigende Gerüchte über einen Pogrom, der dort angeblich stattgefunden hatte; die klerikale Presse, die darin eine Bestätigung ihrer Meinung erblickte, dass „der König von Frankreich nicht zu einem König der Juden werden kann“, feierte ihren Triumph. Aber die Pogromgerüchte erwiesen sich als stark übertrieben. Am 9. Februar machte der Abgeordnete Garat der Nationalversammlung eine beruhigende Mitteilung, indem er einen von den Juden von Bordeaux durch einen Eilboten nach Paris geschickten Brief verlas. Daraus ergab sich, dass dort eine unbedeutende Demonstration stattgefunden hatte, die sich darin äußerte, dass ein Häuflein junger Leute im Theater und im Börsengebäude, ,, Nieder mit den Juden“ schrie — und das jüdische Publikum zu entfernen versuchte. Ein großer Teil des Publikums jedoch missbilligte die Ausschreitungen der ungezogenen Schlingel, und tags darauf drückten die ehrbarsten christlichen Bürger der Stadt den Vertretern der jüdischen Gemeinde ihr Bedauern über den skandalösen Vorfall aus. Das Börsengebäude wurde von einer militärischen Abteilung bewacht, aber diese Maßregel erwies sich als überflüssig: die jüdischen Besucher, die den darauffolgenden Abend im Theater erschienen, wurden vom christlichen Publikum mit Beifallskundgebungen begrüßt.