§ 13. Assimilation und nationale Bewegung

In engem Zusammenhange mit dem zwiespältigen äußeren Prozess der Emanzipation und Reaktion befindet sich der zwiespältige innere Prozess der Assimilation und der Nationalisierung. Unter Assimilation versteht man entweder das naturnotwendige Verschlungenwerden des Juden von der Kultur der herrschenden Umgebung, das zu der Einbuße des jüdischen national-kulturellen Typus führt, oder auch das formelle Verzichtleisten des Juden auf seine von der Religiosität als solcher unabhängige nationale Eigenart und das Angegliedertwerden an die herrschende Nation in jedem einzelnen Lande. Dieser Entnationalisierung liegen zwei verschiedenartige Triebfedern zugrunde — die humanitäre und die utilitäre. Die erstere ist in der jüdischen Geschichte nicht neu. Unter dem Einflüsse großer weltumspannender Kulturbewegungen entfaltete zu verschiedenen Zeiten die zentrifugale Tendenz in gewissen Schichten der Judenheit eine intensivere Energie als die zentripetale, die Hinneigung zu der „allgemein-menschlichen“ Kultur der Peripherie überwog die zur urwüchsigen nationalen Kultur. So war es in Palästina in der Zeit der Vorherrschaft der phönizischen und dann der assyrisch-babylonischen Kultur, so war es in ganz Vorderasien und Ägypten unter der Herrschaft der griechisch-römischen Kultur, so war es auch in der Zeit der arabischen Renaissance im Orient und in Spanien. Die westliche Judenheit, die jahrhundertelang ein vollständig in sich abgeschlossenes Dasein führte, konnte der europäischen aufklärerischen Bewegung des 18. Jahrhunderts und dessen kosmopolitischer Ideologie nicht widerstehen. Die Epoche Mendelssohns und die der französischen Revolution entwickelten in den oberen Schichten der jüdischen Gesellschaft eine ungeheuere zentrifugale Kraft. Ihr Losungswort lautete: Vom Nationalen zum Allgemein-Menschlichen. Es begann der Prozess des Anschlusses der Juden an die westliche Kultur. Da es aber im Westen in der Wirklichkeit gar keine einheitlidie Kultur gab, sondern immer nur eine deutsche oder französische und überhaupt eine solche, die dieses oder jenes nationale Gepräge je nach dem Typus der Sprache, der Schule und der Literatur der herrschenden Nation trug, so machten sich auch die verschiedenen Gruppen des jüdischen Volkes in jedem Lande faktisch die entsprechende nationale Kultur zu eigen, d. i. sie verschmolzen mit den Franzosen, den Deutschen usw. Die humanistische Bewegung artete in den Verzicht auf die jüdische Nationalität zugunsten der fremden Kultur des gegebenen Landes oder der gegebenen Provinz aus.

Wäre nun diese natürliche zentrifugale Bewegung (bei der unnatürlichen Lage des jüdischen Volkes in der Diaspora) sich selber überlassen geblieben, so wäre sie mit der Zeit durch die normale Gegenwirkung ihrer Nebenbuhlerin in Schach gehalten worden; der verderbliche Prozess der Assimilation wäre in den dichten Massen des Volkes auf die alte elementare Tendenz nach dem Nationalen hin gestoßen. Aber hier kamen zu den humanitären Beweggründen solche utilitärer Natur hinzu. In das Ringen um die Emanzipation wurde auch die Assimilation mit hineingezogen und diente als eine Kampfeslosung. Die christlichen Gegner der Emanzipation suchten nachzuweisen, dass die Gleichberechtigung unmöglich einer abgesonderten Menschengruppe mit allen Merkmalen einer selbständigen Nationalität verliehen werden könne. Das Argument des Abbé Maurice in der berühmten Sitzung der Nationalversammlung im Dezember 1789: „das Wort Jude ist nicht der Name einer Sekte, sondern der einer Nation“ wurde von den Gegnern der Emanzipation im Verlaufe des ganzen 19. Jahrhunderts in allen Ländern ausgenutzt. Darauf erwiderten die Verfechter der Emanzipation mit den charakteristischen Worten des Clermont-Tonnerre in derselben Sitzung: „Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, den Juden als Menschen ist alles zu gewähren.“ Nach langwierigem Kampfe trugen die Verfechter der Emanzipation den Sieg davon: die bürgerliche Gleichberechtigung wurde den Juden in der Annahme gewährt, dass sie in dem gegebenen Lande keine nationale, sondern eine religiöse Gruppe innerhalb der herrschenden Nation bilden würden. Als Napoleon I. bereits nach dem Erlasse des Emanzipationsaktes im Jahre 1791 über das Verhalten der Juden selber zu dieser Frage in Zweifel geriet, ließ er in Paris eine Versammlung jüdischer Vertreter aus dem ganzen französischen Reiche einberufen und rang ihnen unter Androhung der bürgerlichen Entrechtung die Formel der nationalen Selbstverleugnung ab („Aujourd'hui que les juifs ne forment plus une nation*) et qu'ils ont l'avantage d'être incorporés dans la grande nation“ . . . ). Das Pariser Synhedrion stand vor dem Dilemma: entweder das Judentum zu einer Nationalität und nicht Konfession zu erklären und der Wohltaten der bürgerlichen Freiheit, die sich auf das gesamte Napoleonische Reich erstreckte, mit einem Male verlustig zu gehen, oder aber sich durch das Eingeständnis, nichts weiter als Bestandteile der umgebenden Nationen des jeweiligen Staates zu sein, von seiner Nationalität loszusagen, und auf diese Weise die Gleichberechtigung zu erringen**). Die utilitären Erwägungen gewannen die Oberhand, und der Abdikationsakt wurde unterzeichnet.


Übrigens konnten viele einen derartigen Akt für sich und für ihre Gesinnungsgenossen bona fide unterschreiben, denn die Zahl der kulturell assimilierten Juden im Westen war schon damals sehr bedeutend und nahm mit jedem Jahre zusehends zu. Eine der wichtigsten Ursachen dieses Wachstums der Assimilation bestand darin, dass die gebildeten Klassen der deutschen und der französisch-elsässischen Judenheit ihren Volksdialekt aufgegeben hatten, was durch die Propaganda der Mendelssohnschen Schule seit der deutschen Bibelübersetzung vorbereitet worden war. Die allgemeine Landessprache ebnete der Verdeutschung und Französierung den Weg in die jüdische Familie und die jüdische Schule. Die neuen Generationen wurden schon durch die Erziehung dem Judentum entfremdet. Die Generationen des ,,Berliner Salons“; Börne und Heine; Lassalle und Marx — das sind drei Etappen einer mehr und mehr zunehmenden Entfremdung. Wahr ist es allerdings, dass sich eine parallel laufende Strömung in der Generation der Aufbauer des erneuerten Judentums, der eines Friedländer und Jakobsohn, eines Riesser und Geiger herausbildete, aber was war es denn, was diese den umgebenden Nationen im Namen des eigenen Volkes sagten? Sie wiederholten das Losungswort des Pariser Synhedrions: „Wir gehören der Nationalität nach den umgebenden Nationen an; es gibt keine jüdische Nation, sondern nur Deutsche, Franzosen, Engländer, die sich zur jüdischen Religion bekennen.“ In diesen Erklärungen, die für gewöhnlich im Eifer des Kampfes abgegeben wurden, verwachsen humanitäre und rein utilitäre Erwägungen derart miteinander, dass es schwer wird, zu ermitteln, wo die einen enden und die anderen beginnen. Überall, wo die Emanzipationskämpfer des völligen Verschwindens des Judentums als Nation nicht ganz sicher waren, befahl ihnen ein gebieterischer Instinkt: so soll geredet werden — sonst werden wir nicht imstande sein, für die Gleichberechtigung zu kämpfen und den Kampf glücklich durchzuführen. Der Gedanke, dass eine Nation ohne Staat und selbst ohne Territorium berechtigt sei, staatsbürgerliche Rechte in vollem Maße samt solchen nationaler Art zu fordern, ist in den Köpfen noch nicht aufgedämmert. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die nationale Frage in der politischen Geschichte Europas noch nicht an die Reihe gekommen; sie tritt erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nach den vielen, im Jahre 1848 einsetzenden nationalen Freiheitskämpfen in den Vordergrund.

*) Es gilt übrigens zu bedenken, dass in jener Epoche das Wort „nation“ in der Regel zur Bezeichnung eines staatlichen oder wenigstens territorialen Volkes gebraucht wurde. Die Verleugnung der jüdischen Nationalität in diesem Sinne konnte als eine einfache Konstatierung einer Tatsache angesehen werden, und diese Zweideutigkeit des Ausdrucks machten sich viele Verleugner, die in ihrem Innern die Juden für eine historische und kulturelle Nation hielten, zunutze. Hierin lag die pia fraus.

**) In allen Parlamenten des Zeitalters der „ersten Emanzipation“, in denen über die jüdische Frage debattiert wurde, wurde der Verzicht der Juden auf ihr „spezielles Privilegium“, die Gemeinde-Autonomie und die besonderen national-kulturellen Institutionen, außer den synagogalen, als die erste Bedingung gefordert. Eine derartige Bedingung wurde von dem Emanzipationsdekret des Jahres 1791 in Frankreich (s. weiter § 18), von der Gesetzgebung der napoleonischen Epoche in Italien (§ 26) und von den christlichen und selbst jüdischen Kämpfern um die Gleichberechtigung in Holland gestellt (was den Widerstand der konservativen Vorsteher der Amsterdamer Gemeinde, denen die alte Autonomie am Herzen lag, hervorrief. § 25). Als Entgelt für die frühere weitgehende Autonomie wurde den Gemeinden ein schlechtes offizielles Surrogat — das Napoleonische konsistoriale System dargeboten.


Für einen Moment konnte es den Anschein gewinnen, dass das 19. Jahrhundert in der jüdischen Geschichte eine tiefe Furche gezogen habe. Es schien, dass die älteste Nation, die ihren Bestand im Verlaufe von Jahrhunderten durch alle Stürme der Weltgeschichte hindurch rettete, gegen den Ansturm des 19. Jahrhunderts nicht mehr aufzukommen vermochte, dass sie nachgab, sich selber verleugnete und zu einer religiösen Sekte degradierte, deren Bruchteile in die umgebenden Nationen versprengt sind. Es schien, dass die bona fides der einen und die pia fraus der anderen in den Erklärungen der nationalen Selbstverleugnung, oder richtiger gesagt, die aus diesen beiden Elementen bestehende Mischung von den Völkern in gutem Glauben hingenommen wurde, dass die im Westen bereits zustande gekommene Krisis auch im Osten ihrer Verwirklichung unvermeidlich entgegenschreite. Hier aber vollzog sich eine Krise der Krise. Der angehende Prozess des nationalen. Zerfalls wurde durch zwei Faktoren, von denen der eine negativer, der andere positiver Natur war, gebieterisch zum Stillstand gebracht — durch den westlichen Antisemitismus einerseits und durch das Schicksal des Kerns der Judenheit in Russland andererseits.

Die Antisemiten aller Länder sagten den Juden, die die Emanzipation auf dem Wege der nationalen Selbstverleugnung erworben hatten: „an eure Selbstverleugnung glauben wir nicht; bei all euren Bemühungen, mit uns zu verschmelzen, bleibt ihr uns fremd; ihr seid nicht nur Andersgläubige, sondern auch Fremdstämmige.“ Das Schicksal der russischen Judenheit wiederum verhalf vielen zu einer klaren geschichtlichen Erkenntnis, die sie eingebüßt hatten.

Seit der kulturellen Umwälzung der Epoche Mendelssohns und der französischen Revolution gingen die Wege der westlichen und östlichen Judenheit auseinander; die frühere, auf einer strengen bürgerlichen und nationalen Absonderung aufgebaute Vorherrschaft der deutsch-polnischen Juden erfuhr eine Entzweiung ihres Wesens; die deutschen Juden verwarfen ihre alte Grundlage und schlugen den Weg der Aufklärung und der Assimilation ein; die polnischen Juden hingegen, die inzwischen unter vornehmlich russische und österreichische Herrschaft gerieten, bewahrten ihre Eigenart und erwiesen sich den neuen kulturellen Einflüssen schwer zugänglich. Diese vom Westen hinüberkommenden Einflüsse, die auch in den Osten eindrangen, verschafften auch hier der Assimilation, dem Kampfe um die bürgerliche Gleichberechtigung und sogar den bewährten Methoden der Selbstverleugnung Eingang. (Die Periode zwischen 1860 — 1880.) Aber kaum fasste die kulturelle Krise in den tieferen Schichten der Gesellschaft festen Fuß, als die Reaktion der Jahre 1881 — 1905 mit ihren mittelalterlichen Verfolgungen und Pogromschrecken ausbrach. Die Schläge hagelten auf den östlichen Kern der Judenheit in einem Momente nieder, als einerseits in der dichtesten Masse der Bevölkerung der alte Vorrat an nationaler Energie noch nicht versiegt war, andererseits an den intelligenten Spitzen der Gesellschaft sich ein gewisses Quantum neuer sozialer Energie ansammelte, die zu einem Kampfe um die Freiheit drängte. Die Verbindung dieser beiden Elemente rief eine kompliziertere Form des Daseinskampfes ins Leben, als es im Westen der Fall war: die nationale Freiheitsbewegung.

Die neue Bewegung fiel in zwei Richtungen auseinander: die eine ist auf die Ausscheidung der Judenheit oder eines Teiles derselben aus der Welt der Diaspora zum Zwecke einer Reorganisation auf autonomer Grundlage gerichtet (Zionismus, Territorialismus); die andere, die eine derartige Ausscheidung in einem Maße, das fähig wäre, das ganze Leben der Nation zu beeinflussen, für undurchführbar hält, strebt auf dem Wege eines gleichzeitigen Kampfes um bürgerliche und nationale Rechte in jedem Lande eine national-kulturelle Wiederbelebung. des jüdischen Volkes in der Diaspora an. Die Vertreter der beiden Richtungen sind sich darin einig, dass die Juden den Kampf um ihre Freiheit nicht als Partikelchen fremder nationaler Organismen, sondern als Teile einer geschichtlich einheitlichen jüdischen Nation auszufechten haben. Im Momente der russischen Revolution des Jahres 1905, als der Kampf um die Emanzipation von der Mehrheit der jüdischen politischen Parteien unter jüdisch-nationaler Flagge geführt wurde, fanden diese Bestrebungen in bestimmten politischen Losungen ihren vollen Ausdruck. Wenn diese ganze Freiheitsbewegung durch die fatalen Bedingungen der russischen Wirklichkeit nicht diesen schweren Stoß erlitten hätte, so wären wir Zeugen einer dritten „Emanzipation“, der russischen, geworden, einer Emanzipation, die nicht unter einem russisch-nationalen Deckmantel, sondern Millionen russischer Bürger jüdischer Nationalität dargeboten worden wäre. Aber das Schicksal wollte es, dass der Moment dieser dritten Emanzipation hinausgeschoben, und einer neuen grausamen Reaktion der Weg geebnet wurde.

Die innere Krise hat sich jedoch vollzogen. Der kulturelle Einfluss des jüdischen Westens auf den Osten machte gegen das Ende des Zeitalters dem entgegengesetzten Einfluss des Ostens auf den Westen Platz; die assimilatorische Strömung überlässt nach und nach der nationalen in ihrer modernen Gestalt die Führung; die erstere war typisch für das 19., die letztere verspricht es für das 20. Jahrhundert zu werden.