§ 12. Emanzipation und Reaktion

Die neuere Geschichte der Juden in dem Zeitabschnitt zwischen 1789 und 1905, vom Beginne der ersten französischen bis zur ersten russischen Revolution, bietet uns zwei einander parallel laufende Reihe von Prozessen. In der politischen Geschichte des Volkes wird die bürgerliche Emanzipation (oder der Kampf um diese) von der Reaktion (einer allgemeinen oder speziell antijüdischen) abgelöst. Dementsprechend geht in der Kulturgeschichte die Ablösung der Assimilation durch die nationale Bewegung oder wohl ein Wetteifern der einen mit der anderen vor sich. Diese zwei Reihen, die ihrerseits ihren Ursprung in den früheren Stadien des geschichtlichen Lebens der Judenheit haben, werden in der Verkettung der Geschehnisse der neueren Geschichte durch zahlreiche Fäden ineinander verwoben.

Der Ausdruck ,, Emanzipation“ zur Bezeichnung einer auf gesetzgeberischem Wege durchgeführten rechtlichen Gleichstellung der Juden mit allen anderen Bürgern des Landes ist ein Erzeugnis der neuesten Zeit. Unter der Herrschaft der alten Gesellschaftsordnung, in der die Juden die Stellung nicht einer Gruppe von Bürgern, sondern die einer außerhalb der Bürgerschaft stehenden Kaste einnahmen, die vom Staate kraft einer besonderen Vergünstigung ein beschränktes Quantum von Rechten zuerteilt bekam, konnte wohl die Rede von Rechten, nicht aber von einem Rechte, von bürgerlicher Gleichberechtigung sein. Erst mit dem Momente des Entstehens des modernen Rechtsstaates, der den alten Polizei- und Ständestaat ablöste, konnte die ,,Emanzipation“ zu einem politischen Faktum werden. Dieser Moment trat in Europa für Frankreich im Jahre 1789, für die anderen Länder des Westens im Verlaufe des 19., für Russland tritt er im 20. Jahrhundert ein. In dem Maße, wie die neue konstitutionelle Ordnung in verschiedenen Ländern Wurzel fasste, machte der Emanzipationsprozess in der Regel eine ganze Reihe von Stadien durch *). Schon bei der Festlegung der neuen Ordnung wurde die Emanzipation bloß mitgedacht, als eine Folgerung aus dem in den Grundgesetzen vorgezeichneten allgemeinen Dogma von der bürgerlichen Gleichheit (,,Deklaration der Rechte“, die ersten Paragraphen der europäischen Konstitutionen). Die allgemeinen Formeln der bürgerlichen Gleichheit erwiesen sich jedoch als ungenügend für die juridische Fixierung der Gleichberechtigung der Juden. Es erhoben sich laute Stimmen, dass das Grundgesetz der Gleichheit auf die Juden nicht ausgedehnt werden dürfe. So lagen die Dinge nach der Veröffentlichung der Deklaration der Rechte, als die bürgerliche Gleichheit eben im Entstehen begriffen war. Dann entspann sich eine spezielle Erörterung der jüdischen Frage (in der französischen Nationalversammlung der Jahre 1789 — 1791 und in den deutschen und österreichischen Parlamenten des Jahres 1848), und nach einigem Schwanken wurde die Gleichberechtigung kraft der Notwendigkeit in formeller Weise gesetzlich bestätigt, denn es erwies sich als unmöglich, die Rechtlosigkeit des einen Teiles der Bevölkerung mit der erneuerten staatlichen Ordnung zu vereinbaren. Aber auch diese spezielle Anerkennung der jüdischen Gleichberechtigung stieß auf Hindernisse zweifacher Art: entweder war es die nach der Revolution einsetzende Reaktion, die die Grundgesetze aufhob, nachdem die erstere der Regierung die konstitutionelle Gesetzgebung abgerungen hatte, oder es war die christliche Gesellschaft, die sich mit der faktischen Gleichberechtigung der Juden nicht abfinden konnte. Im ersteren Falle wurde die Gleichberechtigung auf juridischem Wege abgeschafft, im letzteren wurde deren praktische Verwirklichung faktisch verhindert. Reaktionen, die von Regierungen ausgehen, tragen einen vorübergehenden Charakter, und die abgeschafften Konstitutionen treten nach einiger Unterbrechung in voller oder eingeschränkter Gestalt wieder in Kraft. Einen bei weitem dauernderen Charakter nehmen die gesellschaftlichen Reaktionen an, d. i. der Widerstand, den die christliche Gesellschaft der Verwirklichung der juridisch bereits anerkannten Emanzipation entgegensetzt. Eine derartige Reaktion tritt oft in der Form eines organisierten Kampfes auf (der Antisemitismus im Westen). Mancherorten ist sie nicht gegen die bereits gesetzlich anerkannte Emanzipation gerichtet, sondern gegen den von den Juden eingeleiteten Kampf für ihre Freiheit mit einem sich zäh behauptenden alten Regime (Russland).


*) Abseits von diesem Kontinentalsystem der Emanzipation steht England, dessen politische Ordnung sich in keiner Abhängigkeit von den Revolutionen der neuesten Zeit befindet. Die Judenemanzipation, die hier dem Emanzipationskampf der englischen Katholiken nahe kommt (1829), mit dem sie teilweise in einem geschichtlichen Zusammenhang steht, trug einen besonderen religiösen Charakter.

Auf Grund all dieser vorhin erwähnten Prozesse lässt sich eine Einteilung der neuesten politischen Geschichte der Juden in Zeitalter vornehmen, die im allgemeinen mit der der neuesten Geschichte Europas zusammenfällt, und die folgendermaßen dargestellt werden kann: 1. Das Zeitalter der ersten Emanzipation, der französischen (1789 — 1815), als Frankreich seine Juden emanzipierte, und die anderen Staaten unter dem Einflüsse der siegreichen Republik und des napoleonischen Kaiserreiches die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz konstituierten oder Schritte zur Besserung der bürgerlichen Lage der Juden machten (Holland, Teile Italiens und Deutschlands, bis zu einem gewissen Grade Russland zu Beginn der Regierung Alexanders I.); 2. Das Zeitalter der ersten Reaktion, einer allgemeinpolitischen (1815 — 1840), als die Emanzipation allerorten, Frankreich und Holland ausgenommen, von einer gänzlichen oder teilweisen Rückkehr zur ersten bürgerlichen Entrechtung der Juden abgelöst wurde; 3. Das Zeitalter der zweiten Emanzipation, der deutschen (1848 — 1881), als die Festlegung des konstitutionellen Regimes vornehmlich in den Ländern deutscher Kultur zur juridischen (aber nicht überall faktischen) Gleichberechtigung der Juden im Westen führte, und als die „Epoche der großen Reformen in Russland“ die Emanzipationsbewegung und den Kampf um die Emanzipation innerhalb der östlichen Judenheit ins Leben rief. 4. Das Zeitalter der zweiten Reaktion, der antisemitischen (1881 — 1905), als der gesellschaftliche Antisemitismus des westlichen Europas zu einer Macht wurde, die in vielen Ländern der faktischen Durchführung der vollen bürgerlichen und politischen Gleichberechtigung der Juden Hindernisse in den Weg legte, und die Judenfeindschaft des reaktionären Russlands für den Kern der Judenheit ein Regime von Pogromen und der schändlichsten Entrechtung schuf.