§ 11. Die außereuropäischen Länder

Die jüdische Welt außerhalb Europas konzentrierte sich gegen das Ende des 18. Jahrhunderts an den beiden Polen der Kultur — im fernen Westen, in den soeben gebildeten Vereinigten Staaten von Nordamerika, und im asiatisch-afrikanischen Osten, der in den Fesseln des alten patriarchalischen Despotismus schlummerte.

Die junge Tochter Europas, Amerika, die sich von der elterlichen Bevormundung befreit hatte, beeilte sich, die alten Familienvorurteile abzustreifen, und verkündete die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit. Während die Juden in England sich noch außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft befanden, von der sie durch die bürgerliche Eidesformel „nach dem wahren Glauben des Christen“ getrennt waren, stellte das Volk der Vereinigten Staaten in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 ein neues Prinzip auf: „Kein Mensch darf wegen religiöser Überzeugungen seiner Bürgerrechte beraubt und Verfolgungen ausgesetzt werden.“ Die jüdische Kolonie der transatlantischen Republik, der die Wohltaten der Freiheit zuteil geworden, war nicht groß, aber wir sehen hier zum erstenmal den Akt einer Emanzipation, die ganz ohne Kämpf vermöge des allgemeinen Prinzips der bürgerlichen Gleichheit erreicht wurde.


Am anderen Pol, in den alten großen Herden der Judenheit, im moslemitischen Orient herrschte düstere Nacht. Die ergraute Mutter Europas, Asien, schien unter der Bürde der Jahrhunderte eingeschlafen zu sein. Die über die Türkei verstreuten jüdischen Massen waren nach den Fieberphantasien Sabbatai-Zewis schon lange in einen lethargischen Schlaf versunken. Trostlos war das Leben im osmanischen Reich, das die Bruchstücke zweier großer Teile der Diaspora, des sephardischen und aschkenasischen, beherbergte. Zwei abgesonderte Gruppen der Judenheit vegetierten hier an allen Ecken und Enden des Reiches: die eine sprach einen spanischen, die andere einen deutschen Jargon. Beide waren vom Despotismus eines Staates geknebelt, der auf gewaltsame Weise ein Konglomerat von Völkerschaften und Religionen in sich vereinigte. Die zitternde Judenheit stand hier zwischen zwei Feuern — zwischen dem Islam und dem Christentum. In den Zentren der europäischen Türkei, in Konstantinopel und in Saloniki waren die großen jüdischen Gemeinden von einer ihnen fremden Masse der Griechen und Armenier umgeben, die auf wirtschaftlichem Böden, auf dem Gebiete des Handels, einen Kampf gegen die Juden führten. In der asiatischen und afrikanischen Türkei waren die Juden von einer ihnen der Rasse nach verwandten, der Religion nach feindlichen, verwilderten arabischen Welt umgeben. Hier lebten sie unter dem doppelten Druck des moslemitischen Fanatismus und der orientalischen Tyrannei. Jedes Paschalyk hatte sein System der Gesetzlosigkeit und Willkür. Die Ausbeutung der Juden durch den betreffenden Pascha geschah bald auf ,,friedlichem“ Wege, indem er dem Reichen den Überfluss und dem Armen das Unentbehrliche wegnahm, bald auch gewaltsamerweise, indem er die jüdischen Viertel durch Überfälle verheerte. Die verkümmerten, eingeschüchterten Gemeinden suchten sich in jeder Provinz den lokalen Zustanden außerhalb des Ghettos anzupassen, und ihr trauriges Geheimnis innerhalb desselben zu bewahren. In Palästina, das durch die türkische Herrschaft in ein Land von Ruinen verwandelt worden war, sammelten sich tausende jüdischer Familien, die sich von Almosen europäischer Frömmlinge ernährten, um die vielen Totenstädte und die heiligen Gräber zu bewachen. Jerusalem, Hebron, Zephath, Tiberias, bildeten die Tetrarchie der frommen Bettelei. In den Schlupfwinkeln des Ghettos hatten hier einst der Rabbinismus und die mystische Kabbala geherrscht; gegen das Ende des 18. Jahrhunderts drang von Russland und Polen die lebensfrischere Mystik der neuen Chassidim aus der Schule Beschts hinüber, die bedeutende Zentren in Hebron und Tiberias bildete. So sah das Element der „Reform“ in diesem schlafenden, dunklen Reiche aus . . . Auch weiter, durch die Riesengebiete Syriens, Ägyptens und des Berberreichs (Marokko, Tunis, Algerien) zieht sich die Kette jüdischer Kolonien — der stummen Denkmäler einer längst erloschenen Zivilisation, großer historischer Umwälzungen. Die Flut der Tyrannei, der Barbarei und des Fanatismus hatte hier den Mittelmeerstreifen, die Wiege der jüdischen Kultur und der Kultur der ganzen Welt verschlungen. Der Orient schlummerte an der Schwelle des stürmischen 19. Jahrhunderts . . . Aber auch hierher wird einst das Brausen der europäischen Umwälzungen dringen, und über den alten Gräbern die frohe Kunde des Lebens erschallen.