§ 10. Russland (Weißrussland)

Das dem Russischen Reiche angegliederte Weißrussland mit seinen zweihunderttausend Juden*), führte die „jüdische Frage“ in die innere russische Politik ein. Einem Staate der bisher keine scharfen nationalen Konflikte kannte, wurden zwei Gouvernements — Mohilew und Polozk (Witebsk) — mit einer fremdstämmigen Bevölkerung, die sich durch eine eigenartige wirtschaftliche Struktur und innere Lebensgestaltung auszeichnete, einverleibt. Die Regierung Katharinas II. machte alsbald die weißrussische Bevölkerung zum Gegenstand verschiedener Experimente, wenn auch in etwas milderer Form als die weiland von Joseph II. in Galizien vorgenommenen Versuche. Die russische Regierung befasste sich in der ersten Zeit nicht mit kleinlicher Reglementierung des jüdischen Lebens nach deutschem Muster, aber auch ihre Juden-Politik lässt dieselbe Zwiespältigkeit, wie die österreichische erkennen — ein Gemisch von Unterdrückung und Liberalismus. Einerseits durften die Juden in die Kaufmann- und Kleinbürgerschaft eintreten und die entsprechenden Standesrechte erwerben (1780); andererseits wurde ihnen dieses Recht nur innerhalb der zwei weißrussischen Gouvernements (1786) eingeräumt; die Juden hatten also kein Wohnrecht in allen den Gebieten, die sich außerhalb der dem Polenreich entrissenen Provinz befanden, — was den Keim zu der fatalen „Ansiedelungszone“ bildete. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet ging eine tiefgreifende Umwälzung vor sich. Es wurde der Versuch gemacht, das Hauptgewerbe der jüdischen Bevölkerung — die Branntweinbrennerei und den Verschleiß von Getränken lahm zulegen; in den Städten wurden die Juden von diesem Gewerbe durch die Munizipalbehörden ausgeschlossen, und auf dem Lande untersagten die weißrussischen Behörden ganz eigenmächtig den Gutsherren, Schenken an Juden zu verpachten (1783); eine furchtbare wirtschaftliche Krisis stellte sich als Folge ein: ,,Tausende von Familien“ — sagt ein Zeitgenosse — „wurden ins Elend gestürzt.“ Und nur das Jammergeschrei der zugrunde gerichteten jüdischen Bevölkerung, das bis an den Senat drang (1786), nötigte die Regierung der weiteren Verelendung dieser Gebiete Einhalt zu tun. Große Verwirrung brachten auch solche Maßnahmen der Regierung, die einerseits die Aufrechterhaltung der jüdischen Kahalordnung zu fiskalischen Zwecken anstrebten (1776), andererseits die Juden in die Ordnung der allgemeinen städtischen Selbstverwaltung einzuführen suchten (1783): die Funktionen zweier Selbstverwaltungen allgemeiner und spezieller Natur, die einander hemmten und störten, wurden durcheinander geworfen. Diese schwankende Politik, ein Gemisch von Freiheiten und Repressalien, war nicht dazu angetan, den Wohlstand der neuen jüdischen Kolonie in Russland zu fördern. Die Krisen der Übergangszeit — des Zeitraumes zwischen der ersten und der zweiten Teilung Polens lasteten schwer auf ihren Schultern. In mechanischer Weise an den Organismus des neuen Staates gefesselt, war das jüdische Weißrussland zur selben Zeit von allen anderen Teilen dieses Reiches durch unüberschreitbare Schranken getrennt. Aus der Petersburger Maske guckte die alte moskowitische Politik hervor . . . Indessen stand vor der Schwelle des Reiches eine fast eine Million Seelen zählende jüdische Bevölkerung von Litauen, Podolien, Wolhynien und einem großen Teile des zentralen Polens, der Gebiete, die nach der zweiten und dritten Teilung und dann auch nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses (1793, 1795, 1815) an Russland fielen, eine Bevölkerung, die daran war, dem Russischen Reiche einverleibt zu werden.

*) Ein Zeitgenosse (Bennet) gibt die Zahl der Juden in den beiden weißrussischen Gouvernements auf Grund amtlicher „Listen“ mit 40.000 Familien an.