§ 1. Die Grundlagen der alten Ordnung

Am Vorabend des Jahres 1789 hatte die politische und soziale Lage aller Gruppen des jüdischen Volkes in allen Staaten Europas einen im allgemeinen gleichartigen Charakter. Überall unterstanden die Juden einem speziellen Kodex des beschränkten Rechtes, dem eigenartigen „jus judaicum“, das an manchen Orten an völlige Entrechtung grenzte — einem Überbleibsel des Mittelalters, das je nach den lokalen Verhältnissen und der juristischen Findigkeit der Regierenden oder der herrschenden Klassen in verschiedenen Ländern verschiedene Schattierungen aufwies. Diese Grundfesten der alten Ordnung fanden ihren Ausdruck in folgendem:

A. In politischer und staatsbürgerlicher Hinsicht bildeten die Juden eine eigenartige Gruppe von Ausländern, die nirgends einen eigenen Staat besaßen und daher durch völkerrechtliche Traktate nicht geschützt waren. Unter mehr oder minder beschwerlichen Bedingungen, die von der Regierung oder auch von den feudalen und munizipalen Behörden der betreffenden Gegend diktiert waren, wurde ihnen gestattet, in bestimmten Bezirken zu wohnen und einige Berufe auszuüben. Es waren dies Abmachungen zwischen dem Wirtsvolk und den Ankömmlingen (wenn auch diese „Ankömmlinge“ seit einer Reihe von Generationen in der betreffenden Gegend lebten), die die Vorteile der stärkeren Partei zur Grundlage hatten: dem , „Ankömmling“ wurde irgendeine dunkle Ecke als Wohnstätte zugewiesen, auch wurden ihm einige Kleingewerbe freigestellt, in denen seine Konkurrenz sich dem „Einheimischen“ am wenigsten fühlbar machen sollte; als Ersatz dafür musste er ungeheure Gebühren als Schutzgeld an die Schatzkammer entrichten, abgesehen von einer ganzen Menge anderer spezieller Besteuerungen. In den meisten Ländern wurde allen Versuchen, die der Jude machte, um das ihm zugewiesene engbemessene Gebiet, wie auch den ihm freigestellten Kreis von Berufen zu erweitern, unüberwindliche Hindernisse in den Weg gelegt; selbst die natürliche Vermehrung der Juden wurde mancherorten von den Behörden in offizieller Weise verboten, indem die letzteren die Zahl der Eheschließungen regelten und dem Zuwachs der Bevölkerung einen Damm entgegensetzten. Die harte Reglementierung des jüdischen Lebens wurde in den beiden Hauptzentren der westeuropäischen Judenheit, Deutschland und Österreich, auf die Spitze getrieben. In den dichten Massen der osteuropäischen Judenheit (Polens und seines Erben Russland) hat die Reglementierung der elementaren Rechte des Juden das Gesetz der Vermehrung in direkter Weise nicht angetastet, aber im absterbenden Polen wurde das Leben des Juden durch spezielle, von den Königen, dem Adel oder den Munizipalbehörden ausgehende Konzessionen geregelt, die ihn als Angehörigen einer abgesonderten, außerhalb aller Staatsbürgerlichkeit stehenden Kaste behandelten; in den an Russland abgetretenen polnischen Provinzen hingegen machten sich schon Tendenzen zur Schaffung einer die Juden betreffenden ausschließlichen Gesetzgebung geltend.


B. Mit dieser staatsbürgerlichen Ausschließlichkeit ging auch die wirtschaftliche Hand in Hand. Die Regierenden, die herrschenden Stände, die Magistrate, Zünfte und Gilden drängten die jüdische Masse in einen sehr engen Kreis von Berufen und Gewerben hinein. Von allen wirtschaftlichen Betätigungsarten wurden den Juden im westlichen Europa nur der Kleinhandel und der Wucher zur Verfügung gestellt (selbst zum Handwerk wurde ihnen in den meisten Fällen der Zutritt verwehrt); in Südfrankreich, Holland und England konnte man hin und wieder Großkaufleuten, Fabrikanten und Bankiers begegnen; aber in Preußen und Österreich traten solche erst gegen das Ende des 18. Jahrhunderts hervor, als die „aufgeklärten“ Monarchen Friedrich II. und Joseph II. die Fabrikindustrie der Juden zu fördern suchten; darin lag aber schon der Ansatz zu einer außerhalb der Volksmasse stehenden Geldherrschaft. Im östlichen Europa waren es vornehmlich das Kleinhandwerk und der Handel, die Pacht verschiedener Zweige der Landwirtschaft auf den Landgütern, insbesondere die Pacht der sogenannten „Propination“ oder der Branntweinverkauf in den Städten und Dörfern, die die wirtschaftlichen Betätigungsarten der Juden bildeten. Die in die Schlupfwinkel der Volkswirtschaft gewaltsam hineingedrängte, notleidende jüdische Masse, deren wirtschaftliche Position durch ihre geringfügigen und vom Zufall abhängigen Verdienste keineswegs gesichert war, diente für die Umwelt als Sinnbild der wirtschaftlichen Ausgestoßenheit. Solche aufgezwungenen Gewerbe, wie der Wucher im Westen und die Schankwirtschaft im Osten, verschärften das Erniedrigende in ihrer Stellung und weckten feindselige Gefühle gegen diese Stiefkinder des Vaterlandes.

C. In nationaler Hinsicht bildete die jüdische Masse der Diaspora bis in das Jahr 1789 hinein eine in sich geschlossene, charakteristische Einheit von eigenartiger Gestaltung des Gemeinde- und Geisteslebens. Ein Ergebnis dieser Lebensgestaltung ist die staatlich anerkannte Gemeindeautonomie der Juden. Ein gewisser geschichtlicher Prozess brachte es mit sich, dass tiefgreifende Faktoren nationaler Natur im Leben der jüdischen Masse mit solchen religiöser Natur so eng verwoben waren, dass es einem außenstehenden Beobachter scheinen konnte, als sei hier die Einheit lediglich auf rein religiöser Grundlage, auf der Gemeinschaft des Glaubens und der Riten aufgebaut. Daher die Meinungsverschiedenheit in der Definition des Judentums seitens der umgebenden Gesellschaft: Für die einen ist das Judentum eine scharf ausgeprägte stammeseinheitliche und nationale Individualität, die in der Hoffnung auf den Wiederaufbau ihrer Staatlichkeit in der Gestalt des messianischen Reiches lebt; für die anderen wiederum ist es bloß eine religiöse Gruppe oder Sekte, die unter günstigen Umständen einen Bestandteil der umgebenden Nationen ausmacht oder ausmachen kann. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, seit der Epoche der ,,Aufklärung“, bringt diese Meinungsverschiedenheit eine Entzweiung in die jüdische Gesellschaft hinein. Die Grundfesten der Gemeinde-Autonomie, die einen jahrhundertelangen Bestand aufzuweisen hatte, beginnen zu wanken. Im Westen — unter den Schlägen des „aufgeklärten Absolutismus“, der die Abgesondertheit des Judentums als ein Verbrechen betrachtete. Im Osten — infolge der Zersetzung des polnischen Zentrums der zwischen Preußen, Österreich und Russland verteilten Judenheit.

D. Auf dem Gebiete der geistigen Kultur tritt zu dieser Zeit zuerst die Spaltung zwischen den zwei maßgebenden Zentren des alten Judentums — Deutschland und Polen — zutage. Während die alte Kultur in Polen, die aus dem Rabbinismus keine genügende Nahrung gezogen, einen neuen Lebensborn in dem Chassidismus entdeckt und für eine gewisse Zeit diese Position festigt — entsteht ihr in Deutschland eine Gegnerin in Gestalt der in der Mendelssohnschen Epoche aufgetauchten „Aufklärung“ . Die Bestrebungen dieser Bewegung gehen in ihren gemäßigten Elementen darauf aus, der jüdischen Kultur eine neue Gestalt zu geben, in ihren extremen Elementen hingegen diese Kultur zu zerstören. Die Ergebnisse dieser beiden einander widerstreitenden Tendenzen werden erst nach dem Jahre 1789 in die Erscheinung treten.

Die alte Ordnung behauptete sich auf diese Weise am Vorabend des Jahres 1789 in ihrer ganzen Macht im wirtschaftlichen und staatsbürgerlichen Leben, und nur auf dem national-kulturellen Gebiete traten hie und da die ersten Anzeichen einer Umbildung auf. Wollen wir nun untersuchen, wie sich das alte Regime in den einzelnen Ländern äußert.