Erste Fortsetzung

Zu den Tätigkeiten, welche das Handelsinteresse in großartigster Weise fördert, gehört aber ganz besonders die Schifffahrt und was damit zusammenhängt: die Schiffbaukunst, die Nautik und das gesamte Seewesen. Es gab eine Zeit, wo aller Handel vorzugsweise Landhandel war, und wo sich die Schifffahrt höchstens auf die Binnen- oder die nächsten Küstengewässer beschränkte. Nur ängstlich hielt sich der Fischer in Sicht der Küste, kaum dass er die seiner Heimat zunächst gelegenen Inseln zu besuchen unternahm. Dieser Bann, der auf den Bahnen der Ozeane lag, ist längst gelöst, und Jahrhunderte sind verflossen, seit man sich aus den Binnenseen, wie z. B. über die Säulen des Herkules hinaus gewagt hat auf die ungewissen Wogen des unendlich sich dehnenden Weltmeeres. Welch ein Antrieb zu neuen und neuen Erfindungen, kühnen Unternehmungen, tiefen Forschungen, tausendfältigen Arbeiten der menschlichen Hand und des Menschengeistes lag nicht in dieser Entbindung des Seewesens, in dieser Eröffnung der Seewege, wie sie doch offenbar vorwiegend vom Handelsinteresse herbeigeführt worden ist! Wir erstaunen heute über jene Riesenbauten, die aus den Schiffswerften europäischer oder amerikanischer Stapelplätze hervorgehen, über die kühne, feinsinnige und umsichtige Konzeption des Ingenieurs, der den Plan zum Ganzen entwarf, über die exakte, elegante und zweckentsprechende Ausführung dieses Planes, über den Mut, die Geschicklichkeit und Besonnenheit ihrer Mannschaften. Wir staunen über die unglaubliche Bewegung des Transports von Waren und Menschen, die Jahr aus Jahr ein auf Strömen, Kanälen und den länderverbindenden Meeren umher schwimmen. Wir bewundern den Gebrauch des Kompasses, der Busole, der Seekarten, des kunstvollen Schraubenwerks auf den Dampfern, der verwickelten Takelage auf den Schnellseglern, der Ungeheuern Fortifikationen und Zerstörungswerkzeuge — eines Monitor oder eines Warrior; wir sind überrascht durch die Riesenarbeiten in den Arsenalen von Woolwich! und Portsmouth, durch die meilenweiten Molos und Docks in der Nähe der Metropolen des Seeverkehrs; wir erfreuen uns der prompten Postverbindungen zwischen der alten und neuen Welt; wir fühlen uns gehoben bei dem Anblick des Mastenwaldes und der unermesslichen Regsamkeit, die wir auf dem Krahn unserer Seestädte mit einem Male überblicken — und worauf ist denn Alles schließlich zurückzuführen, wenn nicht auf das Interesse des Kaufmannes, des Handels! Hier gilt das Wort des Dichters:

      „Wer das grüne, kristallene Feld
      Pflügt mit des Schiffes eilendem Kiele,
      Der vermählt sich das Glück, dem gehurt die Welt —
      Ohne die Saat erblüht ihm die Ernte!
      Denn das Meer ist der Raum der Hoffnung etc."


Und mit dieser immer großartiger entfalteten Schifffahrt wuchs natürlich auch der Umfang der Fischerei, die Erforschung und Ausbeutung der Mächte, der Gesetze, der Reichtümer des Ozeans. Von keinem Schrecknis der Tiefen des Meeres lässt sich der Wallfischfänger oder Robbenschläger von seinem Handwerk abwenden. Tausende von Küstenbewohnern verlassen alljährlich zu bestimmter Zeit ihre Hütten, um dem Fischhandel seine Märkte zu füllen. Ja, ganze Völkerschaften nähren sich lediglich von dem Ertrage ihrer Jagd oder Fischereien. Wer sollte diesen Bewohnern unwirtlicher Küsten immer neuen Muth zur Betreibung ihres gefährlichen Handwerks verleihen, wenn nicht der zu ihnen kommende Kaufmann!

Doch wir dürfen höher steigen, wenn wir die kulturhistorischen Beziehungen des Handels näher und eingehender betrachten wollen. Nicht bloß darin suchen wir die kulturhistorische Bedeutung des Handels, dass derselbe ein unwiderstehlicher Förderer aller derjenigen Beschäftigungen des Menschen ist, welche unzählige Arten von Handelsgegenständen hervorbringen: wir glauben auch, dass einem schwungreich betriebenen Handel jener gesättigte Wohlstand zu verdanken sei, ohne den die feineren, höheren, edleren Beschäftigungen und Genüsse des Menschen nie gedeihen wollen. Reichtum oder doch Wohlhabenheit war die Mutter des Aufblühens von Künsten und Wissenschaften und überhaupt eines verfeinerten Lebens. Das sehen wir recht deutlich an der Kulturgeschichte süddeutscher, italienischer und niederländischer Handelsstädte, das zeigen uns die zum Teil noch bestehenden Kunstdenkmale Nürnbergs, Venedigs oder von Florenz, Brügge und Antwerpen. Mit der Entstehung eines wohlhabenden Bürgertums kamen auch die bildenden Künste zu heiterer, voller Entwicklung. Die großen deutschen, italienischen und niederländischen Meister lassen sich zu gutem Teile nur in den gewaltigen Emporien der mittelalterlichen und neueren Handelsvölker aufsuchen; gleichsam den Hintergrund ihrer ewig schönen Schöpfungen bilden die Stapelplätze jener Städte, auf denen der Kaufmann die Erzeugnisse der fernsten Gegenden in Empfang nahm:

„Was Arabien kocht, was die äußerste Thule bereitet."

Zwar auf den Burgen eines verfeinerten Rittertums, an den Höfen reicher und mächtiger Fürsten, in den Sitzen üppiger Bistümer und Abteien öffnete sich dem Sänger wohl auch die hohe Pforte, sammelte sich wohl auch eine Schaar edler Kunstjünger, wurde manch schönes, unsterbliches Werk der Malerei, Skulptur und Architektur geschaffen — aber eine freiere, weitere Bahn öffnete sich der Kunst doch erst mit dem Erwachen eines freien, wohlhabenden Bürgertums in den blühendsten Sitzen des Welthandels; erst mit diesem streifte, so zu sagen, die Kunst eine gewisse aristokratische Haltung ab, erst mit ihm wurde sie zu einem Gemeingut der Völker, erst mit ihm entfaltete sie den ganzen Reichtum der ihr zu Gebote stehenden Mittel. Nicht bloß, dass der begüterte Kaufmann sein Haus mit Kunstwerken schmückte, sich palastartige Wohnungen erbauen ließ und sich in dem Umgange bedeutender Künstler sonnte — auch der durch den Aufschwung des Handels großartig entfaltete Unternehmungsgeist, die Erweiterung des Gesichtskreises, der angeregte weltbürgerliche und doch zugleich national-patriotische Geist musste fördernd und erhebend auf die Phantasie des Künstlers zurückwirken und ein ganz neues Gebiet künstlerischer Probleme ins Leben rufen. Warum ist gerade Venedig, warum sind Genua und Florenz, die Städte der Paläste und die reichen Fundgruben beneidenswerter Kunstmuseen, warum brachten gerade Nürnberg, Antwerpen und Amsterdam so große Meister hervor? Der Schlüssel ist in ihrem Handel zu suchen. So lange namentlich mit dem regen Handelsgeiste sich eine wohlberechtigte Liebe zur bürgerlichen Freiheit verbunden hielt, so lange die Großhändler jener Städte von krämerhafter Engherzigkeit unberührt waren, so lange ihnen ein gewisser weltmännischer Blick eigen war, konnte und musste die Kunst in ihrer Nähe gedeihen.

„Da gebieret das Glück dem Talente die göttlichen Kinder,
Von der Freiheit gesäugt, wachsen die Künste der Lust."

Und auch das dürfen wir nicht unerwähnt lassen, dass, je mehr der gesteigerte Handel eine lebhaftere Industrie wach rief, diese letztere von der schönen Kunstform immer tiefer erfasst werden musste. Die unendlich geförderte Nachfrage bedingte die innigere Verschmelzung von Handwerk und Kunst.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die kulturhistorische Bedeutung des Handels.