Allgemeines

Das Bestreben, die jüdischen Wanderbewegungen wissenschaftlich zu erforschen und ihre Ursachen klarzulegen, ist verhältnismäßig neuen Datums, Obwohl das jüdische Volk seit der Zerstörung des zweiten Tempels sich in einer ununterbrochenen Bewegung befindet — und auch schon früher eine Reihe von bedeutenden Wanderungen durchgemacht hat — empfand es bis vor kurzer Zeit diesen Wanderungsprozess nicht als etwas Anormales. Die ganze Zeit bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts wurde das Phänomen Wanderung rein religiös bewertet: als Sühne, als Mission, als indirekter Weg nach Palästina — je nach der Art der religiös-geistigen Anschauung, die im gegebenen Augenblick das Judentum beherrschte. Und nun vollends im 19. Jahrhundert, in dem die Befreiung der Judenheit vom Ghetto proklamiert wurde, konnte alles andere als eine Konzentration des jüdischen Interesses auf das Wanderungsproblem erwartet und entdeckt werden. Denn es war das Jahrhundert der groß angelegten und vielleicht der erfolgreichsten Assimilationen, die Zeit der Sesshaftmachung des jüdischen Volkes in Europa, Man war froh in dem ungewohnten Gefühl der neu erworbenen, anscheinend festen und echten Staatszugehörigkeit, Um so bitterer wirkte die Enttäuschung, als im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts das jüdische Volk wieder auf die Wanderung gehen musste. Die alten größeren Zentren schienen in einer Auflösung begriffen zu sein, die kleineren wurden durch die Zuwanderer in ihrer Festigkeit bedroht — und neue entstanden: mächtiger, anders aufgebaut, mit einer eigen- und fremdartigen ökonomischen und rechtlichen Struktur.

Die ersten Versuche, den Wanderungsprozess zu erfassen, wurden alle von dem Gedanken getragen, der Bewegung möglichst schnell und sicher Herr zu werden. Dieses anfängliche Bestreben ging dahin, unter Berücksichtigung der vorhandenen Wanderbewegungen und durch Entfachung der religiösen Leidenschaften des Volkes diesen Wanderungen eine Richtung zu geben, die ihnen ein Ende bereiten würde. Von diesem Gesichtspunkte aus sind alle falsche Messias des Mittelalters zu verstehen. In der neuen Zeit entkleidete man das Bestreben der religiösen Hülle, der utopische Gedanke blieb jedoch auch den neueren Plänen anhaften. Ich denke hier vor allem, um nur ein krasses Beispiel zu geben, an die Ausführungen von Theodor Herzl, der ja bis zum Jahre 1923 die Übersiedlung eines großen Teils des jüdischen Volkes nach Palästina plante. Die Frage, die sich die zahlreichen geistigen Vorgänger Herzls *) — auf die ich hier näher nicht eingehen kann — und seine ersten Mitarbeiter vorlegten, war nicht die nach dem Wesen der jüdischen Wanderbewegungen, sondern ausschließlich die nach der Verwertung und dem Ziel und dem Ende der jüdischen Emigration. Diese Epoche, die ich als die Zeit des Dilettantismus und des Utopismus bezeichnen möchte, und die übrigens recht viele gemeinsame Züge mit der geistigen Struktur des utopischen Sozialismus aufweist, wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts abgelöst durch junge jüdische Wissenschaftler aus den Reihen der jüdischen Arbeiterparteien, die es unternahmen, zunächst in Zeitschriftenaufsätzen das Problem wissenschaftlich und vom ökonomischen Gesichtspunkte aus zu ergründen und zu erfassen.


*) Eine Geschichte der jüdischen messianischen Bewegung im Mittelalter gibt es nicht. Es kommen also zunächst die betreffenden Stellen aus allgemeinen Geschichtswerken in Betracht. So bei Graetz: Geschichte des jüdischen Volkes, Leipzig 1900, Bd. 8, und S. Dubnow; Geschichte des jüdischen Volkes, St. Petersburg 1910, Bd. 3 (russisch). Die Schriften Herzls sind gesammelt in: Dr. Theodor Herzls zionistische Schriften, zwei Teile, Berlin-Charlottenburg. In diesem Zusammenhang sei noch die Biographie von Herzl von Dr. Adolf Friedemann: Das Leben Theodor Herzls, Berlin 1914, erwähnt, in der gerade das Messianische der Herzl sehen Sendung herausgearbeitet ist, und Achad Haam: Am Scheidewege, Essays, Bd. 2, Berlin 1916, der das Utopische der Bewegung eindringlich vor Augen führt.