Jüdische Ärzte in Spanien und Portugal

Seit dem Beginne des Niederganges der Zivilisation im Orient blühte die jüdische Wissenschaft in verjüngter Kraft in Spanien wieder auf, und auch die jüdischen Ärzte fanden hier einen fruchtbaren Boden für ihre segensreiche Tätigkeit. Die meisten spanischen Herrscher vertrauten nicht nur ihre Staatsschätze in Gold und Silber, sondern ein noch weit kostbareres Gut, ihre Gesundheit, jüdischen Händen an; sie hatten nicht nur jüdische Finanzminister, sondern auch jüdische Leibärzte. Der Fürst Chasdai ibn Schaprut (st. um 970) war der Leibarzt des Kalifen Abdurrahman III. in Cordova und stand in hohem Ansehen bei Hofe. Chasdai gehört zu den hervorragendsten Gestalten, die die jüdische Geschichte aufzuweisen hat, und eröffnet den Reigen jener hochgestellten Persönlichkeiten, die in Spanien die jüdische Wissenschaft zu einer nie geahnten Blüte brachten und eine neue Glanzperiode in der geistigen Tätigkeit der Juden anbahnten. Er hatte sich der Gunst des Kalifen in einem so hohen Grade zu erfreuen, dass dieser ihn, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, zum „Minister der auswärtigen Angelegenheiten“ ernannte und durch seine Vermittelung die wichtigsten diplomatischen Geschäfte abschließen ließ. Chasdai brachte eine diplomatisch Alliance zwischen dem Kalifen und dem griechischen Kaiser Romanus zu stande, die er auch im Interesse der Wissenschaft zu verwerten wusste. Er übersetzte nämlich ein damals hochgeschätztes medizinisches Werk des Dioskorides über Pflanzenkunde, welches der Kalif von seinem neuen Verbündeten unter anderen Kostbarkeiten zum Geschenke erhalten hatte, mit Hilfe eines griechischen Mönchs in die arabische Sprache. Chasdai war auch der erste Arzt in Spanien, der eine Art Theriak (Gegengift) nach Angabe der griechischen Quellen komponierte und als Universalmittel in der Medizin einführte 27).

In dem nachfolgenden Zeitalter war der gelehrte Grammatiker Jona ibn Gannâch (Abulwalid, um 995 — 1050), der als der bedeutendste aller hebräischen Sprachforscher in Spanien anerkannt wird, auch als Arzt berühmt. Ibn Gannâch erforschte und ergründete nicht nur die Gesetze der hebräischen Sprache, sondern dachte auch über die Mittel nach, die dem kranken und siechen Körper Kraft und Frische verleihen. Er hatte seine medizinische Ausbildung an der Hochschule zu Cordova erhalten und übte die Heilkunde berufsmäßig aus. Er schrieb auch ein medizinisches Buch, genannt Telkhis, über einfache Heilmittel und ihre Dosierung 28). Etwas später lebte der berühmte Arzt Salomo ibn Almuallem aus Sevilla, der sich der Gunst des hochbetagten almoravidischen Herrschers Ali zu erfreuen hatte. Er führte den Titel Fürst und Wesir und wird auch als Dichter gepriesen 29). Nicht minder berühmt war am Hofe desselben Fürsten der Arzt Abulhassan ibn Kamnial aus Saragossa, der ebenfalls mit dem Titel Wesir geschmückt war. Die größten Dichter Spaniens feierten ihn in schwungvollen Versen wegen seiner hohen, edlen Gesinnung und seiner Freigebigkeit gegen Arme und Kranke. „Durch sein Vermögen rettete er die dem Tode Geweihten und gab Leben den dem Untergange Verfallenen 30“). Zu den gelehrtesten Vertretern des ärztlichen Standes in Spanien am Ausgange des 11. Jahrhunderts gehörte Jona ibn Biklarisch, der im Dienste des Herrschers von Saragossa stand und für ihn ein größeres Werk über Heilmittel verfasste, das von den späteren Ärzten vielfach benutzt wurde 31).


Interessant ist die Geschichte, die von einem der letzten jüdischen Ärzte unter mohammedanischer Herrschaft in Spanien erzählt wird. Isaak Hamon war Leibarzt des Königs von Granada, das bis gegen Ende des 15. Jahrhunderts unter maurischer Botmäßigkeit stand (1492). Isaak genoss bei Hofe und bei dem Volke das größte Ansehen, was aber ihm und seinen Glaubensbrüdern verhängnisvoll werden sollte. Auf den Straßen Granadas brach einmal zwischen einigen Mohammedanern ein Streit aus. Vergebens beschwor das Volk bei dem Leben des Propheten die feindlichen Parteien, von einander abzulassen; die aufgeregten Gemüter konnten sich nicht so leicht beruhigen. Als die Streitenden aber bei der Ehre des königlichen Leibarztes aufgefordert wurden, das Gezanke einzustellen, gingen sie sofort auseinander. Der Hinweis auf den jüdischen Arzt Isaak Hamon hatte diesmal mehr genutzt, als der auf den Propheten Mohammed. Dieser Vorfall reizte einige fanatische Mohammedaner auf, unter den Juden Granadas ein fürchterliches Gemetzel anzurichten; nur diejenigen blieben gerettet, die nach der königlichen Burg sich geflüchtet hatten. Seit diesem Ereignisse beschlossen die jüdischen Arzte von Granada, nicht mehr seidene Gewänder zu tragen und nicht auf Rossen zu reiten, um nicht die Aufmerksamkeit der mohammedanischen Bevölkerung auf sich zu lenken und so ihren Neid zu erregen 32).

Ebenso wie die arabischen, so bedienten sich auch die christlichen Herrscher auf der pyrenäischen Halbinsel mit großer Vorliebe der jüdischen Ärzte. Schon Alfonso VI., der siegreiche Herrscher von Kastilien, hatte einen jüdischen Leibarzt, Amram ben Isaak ibn Schalbib, in seinem Dienste, den er später zu seinem Geheimsekretär ernannte und zu den wichtigsten diplomatischen Geschäften verwandte. Alfonso VI. schenkte auch seine Freundschaft dem jüdischen Arzt Cidellus und „dieser durfte mit ihm freimütig sprechen wie keiner der spanischen Edelleute und Granden des Reiches“ 33). Der König Alfonso X., der Weise von Kastilien, ein Freund und Beschützer der Wissenschaften (1252 bis 1284), wählte zu seinen Leibärzten die Juden Don Juda ben Moses Kohen, der zugleich sein Astronom war, und Don Meir, den er so hochschätzte, dass er ihm kurz vor seinem Tode ein Haus zum Geschenk gab. Auch seine Gattin und seine Kinder ließ er nur von jüdischen Ärzten behandeln 34). Diesem Beispiele folgten, fast ohne Ausnahme, die späteren Könige von Kastilien, wo die Juden überhaupt in glücklicheren Verhältnissen als in allen anderen spanischen Ländern lebten und zu den hervorragendsten Stellungen gelangten. Todros Abulafia, der schwärmerische Kabbalist, war Leibarzt und Schatzmeister des Königs Sancho IV. (bis 1295) und hatte sich einer besonderen Beliebtheit bei Hofe zu erfreuen, so dass er das Königspaar auf einer Reise nach Südfrankreich begleitete. Samuel ibn Wakar stand als Leibarzt im Dienste Alfons XI. (1312 bis 1350). Dieser wissenschaftlich gebildete Arzt büßte später die Gunst seines Fürsten ein, wurde mit seiner Familie in den Kerker geworfen und starb unter den Qualen der Folter 35). Alfons Sohn und Nachfolger Pedro, mit Unrecht der Grausame genannt, unter dessen Regierung den Juden Spaniens die letzten Schimmer einer besseren Zeit aufstrahlten, hatte außer seinem jüdischen Schatzmeister Samuel Abulafia, der zu der höchsten Stellung des Reiches emporstieg, auch einen jüdischen Leibarzt, Abraham ihn Zarzal. Letzterer, der auch Astrolog war, hatte dem König sein tragisches Ende vorausgesagt: er unterlag im Kampfe und wurde von seinem eigenen Bruder enthauptet 36). Der König Heinrich III. von Kastilien (1390 — 1406), unter dessen Herrschaft die grausamsten Judenverfolgungen ausbrachen und viele Tausende zum Scheine das Christentum annehmen mussten, hafte nichtsdestoweniger auch einen jüdischen Leibarzt an seinem Hofe, Don Meir Alguadez, den er sehr schätzte und auch zum Oberrabbiner aller kastilischen Gemeinden ernannte 37). Nach dem Tode seines königlichen Gönners wurde dieser gelehrte Arzt durch die Umtriebe des getauften Rabbiners Paul de Burgos oder de Santa Maria genannt, der ein fanatischer Feind seiner früheren Glaubensgenossen wurde, unter Anklage gestellt und musste in den dunklen Kasematten der Inquisition seinen Geist aushauchen 38). Heinrichs Nachfolger, Juan II. von Kastilien, nahm die jüdischen Ärzte gegen die harten Bestimmungen des judenfeindlichen Papstes Eugen IV., der ihnen die Praxis gänzlich untersagt hatte, in Schutz und erlaubte, im Gegensatze zu der Kirche, der christlichen Bevölkerung, von den geschickten jüdischen Ärzten sich behandeln und heilen zu lassen, wo kein christlicher Arzt vorhanden sei. So durfte der gelehrte Arzt Chajim ibn Musa an seinem Hofe verkehren und im Kreise der spanischen Granden seine medizinische Praxis frei ausüben. Oft disputierten gelehrte Geistliche mit ihm über Glaubenslehren, und er verstand es, in geschickter Weise das Judentum zu verteidigen und die erhobenen Anklagen zu widerlegend 39). Der kastilische König Heinrich IV. (bis 1474) bediente sich wie seine Vorgänger eines jüdischen Leibarztes. Jakob ibn Nunes, den er zum Großrabbiner ernannte und mit der Einnahme und Verteilung der Steuern der Juden betraute.

Wie in Kastilien, so vertrauten auch die Fürsten in dem damals selbständigen Königreich Aragonien den jüdischen Ärzten ihre Gesundheit an. So ernannte Jakob I. von Aragonien, der im Jahre 1262 eine öffentliche Religionsdisputation zwischen dem berühmten Nachmanides und einem getauften Juden, dem Dominikaner Fra Pablo Christiano, veranstaltete, Bachiel ben Moses zu seinem Leibarzte und gab einem andern jüdischen Arzte, den er an seinem Hofe hatte, eine jährliche Pension von 500 Sols de Jaca. Bachiel begleitete den aragonischen König auf seinem Siegeszuge nach der Insel Malorka und diente ihm als Dolmetscher für die arabische Bevölkerung des eroberten Landes. Ein anderer jüdischer Leibarzt, Isaak Benveniste, den Jakob I. an seinem Hofe hatte, besaß in Anerkennung seiner hohen Verdienste ein Ehrendiplom vom Papste Honorius III. und bewirkte durch sein Ansehen, dass die Juden vom Tragen des besonderen Abzeichens befreit wurden 40). Auch der Arzt Jehuda de la Caballeria stand bei den Königen von Aragonien in hohem Ansehen. Die Königin Leonore gestattete ihm, außerhalb des Judenviertels in Saragossa zu wohnen, damit er ungehindert auch in der Nacht zu den christlichen Patienten gerufen werden könnte (1331) 41). Der König Juan II. (bis 1479) bediente sich des jüdischen Arztes Abiatar ibn Kreskas, der ihm durch eine glückliche Operation das Augenlicht wiedergab. „Der Arzt führte ihm“, so wird wörtlich berichtet, „die Nadel ins rechte Auge ein und nahm den Star ihm weg. Nachdem er sich nach Ablauf eines Monats von dem guten Erfolge der Operation überzeugt hatte, führte er, selbst gegen die Meinung des Leibarztes, dieselbe Operation auch am linken Auge aus, welche gleich glücklichen Erfolg hatte und wodurch der König von seinem Augenleiden gänzlich befreit wurde“ 42). Auch der philosophische Schriftsteller Abraham Bibago verkehrte, wahrscheinlich in seiner Eigenschaft als Arzt, am Hofe Juan II. und disputierte daselbst, wie er berichtet, mit einem ausgezeichneten Gelehrten über Fragen der Religion 43).

Wohlgeordnet waren die Verhältnisse der jüdischen Bevölkerung in Portugal. Die Juden besaßen da besondere günstige Privilegien 44) und standen wie als Staatsmänner, so auch als Arzt in hoher Gunst. Der König Juan I. (bis 1433) bediente sich während seiner langjährigen Regierungszeit mehrerer jüdischer Ärzte, die in seinem Palaste aus- und eingingen 45). Der bekannteste unter ihnen war Don Moses Navarra, von dem noch die Rede sein wird. Der König Duarte hatte einen gelehrten jüdischen Leibarzt Gedalja ibn Jachja (Maestro Guadelha) in seinem Dienste, der auch sein Astronom und Ratgeber war. An seinem Krönungstage gab ihm dieser den Rat, den Regierungsantritt aufzuschieben, da die Konstellation der Gestirne eine ungünstige sei; der König setzte sich aber über diese astrologische Wahrsagerei hinweg und starb in der Tat nach einer kurzen, wenig glücklichen Regierung an der Pest (1438).


Der jüdische Wundarzt Joseph, der von Fez aus an sein Krankenlager geschickt wurde, war nicht imstande, den hohen Patienten vom Tode zu retten 46). Auch der König Juan II. von Portugal (1481 — 1495) bediente sich, obwohl er das jüdische Volk hasste und hart bedrängte, mehrerer Juden als Leibärzte. Einer derselben, mit Namen Joseph Vezinho, hat sich durch die Verbesserung des astronomischen Instrumentes zur Messung der Sternhöhe (nautisches Astrolabium) ein nicht geringes Verdienst um die Schifffahrtskunde erworben. Als zu derselben Zeit Christoph Columbus, der Entdecker Amerikas, an den König Juan II. mit der Bitte sich wandte, ihm zu seiner Reise die nötigen Schiffe zur Verfügung zu stellen, gehörte der jüdische Leibarzt Joseph Vezinho zu der Kommission, welcher der König den Antrag zur Prüfung vorlegte und die sich allerdings gegen Columbus’ Plan entschied 47).

Es ist selbstverständlich, dass wie die Fürsten so auch das Vo 1 k in Spanien und Portugal sich der tüchtigen jüdischen Ärzte bediente. Überall im Lande praktizierten trotz der kanonischen Satzungen jüdische Ärzte. Der gelehrte Arzt Meir Alguadez, den wir bereits oben kennen gelernt haben, übte, bevor er zum Leibarzte des Königs von Kastilien ernannt wurde, in den weiten Kreisen der Bevölkerung seine medizinische Praxis aus und musste, wie er berichtet, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land wandern 48). Die Stadt Reus in Katalonien stellte einen jüdischen Mediziner, Benjehuda mit einem festen Jahresgehalt an und verpflichtete ihn, die armen Kranken unentgeltlich zu behandeln. Einen ähnlichen Vertrag schloss eine andere Stadt mit dem Arzt Don Benjamin. Als später zur Zeit der Inquisition die Juden von der christlichen Bevölkerung völlig abgeschlossen wurden, war es dennoch den jüdischen Ärzten gestattet, „außerhalb der Judenquartiere zu wohnen, weil sie die christliche Bevölkerung nicht missen konnte“ 49).

Die angesehene und einflussreiche Stellung, zu der die jüdischen Ärzte auf der iberischen Halbinsel emporstiegen, verwendeten sie oft zum Heile ihrer Glaubensgenossen und zum Segen des Judentums. So rettete der Oberrabbiner Don Moses Navarra, der zugleich Leibarzt des Königs Juanl. von Portugal war, seine Glaubensgenossen in diesem Lande von einem drohenden Unglücke, welches die übrigen Juden in Spanien an den Rand des Unterganges gebracht hatte. Als im Jahre 1391 auf Antrieb des fanatischen Judenfeindes Fernando Martinenz in Spanien blutige Religionsverfolgungen ausbrachen, die sich wie ein Lauffeuer über das ganze Land ausbreiteten und viele jüdische Gemeinden gänzlich vernichteten, hatten die Juden von Portugal diesem edlen und einflussreichen Arzt es zu verdanken, dass sie selber von der großen Gefahr verschont blieben und überdies zahlreiche Flüchtlinge gastfreundliche Aufnahme fanden. Moses Navarra legte nämlich dem König zwei Bullen von den Päpsten Clemens VI. und Bonifazius IX. vor, dass die Juden nicht durch Gewaltmittel zur Annahme des Christentums gezwungen werden dürften und wusste den Herrscher gegen die Verfolgten milder zu stimmen. Den zwangsweise Getauften, die wieder als Juden auftraten, wurde überdies die schwere Kirchenstrafe erlassen 50). — In Navarra war es wiederum Don Joseph Orabuena, der sehr angesehene Leibarzt des Königs Karl III., zugleich Oberrabbiner und Finanzmann, der seine Glaubensgenossen beschützte und die schweren Leiden der Zeit von ihnen fernzuhalten bemüht war 51). Diesen edlen Wohltätern würdig zur Seite steht ein anderer berühmter jüdischer Arzt Profiat Dur an, Efodi genannt, der in derselben unglückseligen Zeit lebte und wirkte. Dieser gelehrte Mann, der auch als Philosoph und Grammatiker Bedeutendes geleistet hat, trat mit dem Mut eines Märtyrers für seine angestammte Religion in die Schranken und kämpfte gegen den genannten Judenfeind Martinenz mit den scharfen Waffen seines Geistes. Während der blutigen Verfolgung im Jahre 1391 zur Annahme des Christentums gezwungen, hatte er mit seinem Leidensgenossen David Bonet den Entschluss gefasst, zu der Religion der Väter zurückzukehren und nach Palästina auszuwandern. David blieb jedoch dem Christentume ergeben und forderte auch seinen Freund auf, seinem Beispiele zu folgen. Efodi richtete nun an seinen verräterischen Freund ein Sendschreiben, voll feiner Ironie und Spott über dessen Religionswechsel. Dieses Sendschreiben, dessen einzelne Abschnitte immer mit den Worten: Al thehi kaabotecha („Sei nicht wie Deine Väter“) anfangen, ist so täuschend gehalten, dass christliche Leser zuerst die eigentliche Absicht nicht merkten und es für eine Werbeschrift zu Gunsten ihrer Religion hielten. Dieses Schreiben wurde schnell über ganz Spanien verbreitet und war von zündender Wirkung auf die Gemüter 52).

Leider sehen wir um dieselbe Zeit aus dem Kreise der jüdischen Ärzte in Spanien einen Mann hervorgehen, welcher der Religion seiner Väter den Rücken zukehrte und sein reiches rabbinisches Wissen, das er sich als Jude erworben hatte, dazu verwendete, auf seine früheren Glaubensgenossen namenloses Elend zu häufen. Josua Lorki, als Christ Hieronymus de Santa Fé, ist der Name dieses Verräters. Er war der Leibarzt des Papstes Benedikt XII. und leitete jene merkwürdigste aller Religionsdisputationen, die dieser Kirchenfürst in Tortosa veranstaltete und zu der zwanzig der angesehensten jüdischen Gelehrten Spaniens erschienen waren (1413). Der getaufte Arzt, der in den öffentlichen Disputationen vergebens seine angestammte Religion zu bekämpfen und seine frühern Glaubensgenossen zum Christentume zu bekehren suchte, gab am Schlüsse dessen ungeachtet vor, über die Juden den Sieg davongetragen zu haben. Der fanatische Papst verbot infolgedessen das Studium des Talmuds und erließ noch andere harte Anordnungen gegen die Juden Spaniens.

Die Heilkunde war unter den gebildeten spanischen Juden so allgemein verbreitet, dass sich nicht nur eine große Anzahl derselben der praktischen Ausübung der Medizin widmete, sondern auch viele hervorragende Rabbiner und Gelehrte unter ihnen dem ärztlichen Stande sich zuwandten. Da sich die jüdischen Gelehrten in Spanien bei ihrem lauteren, selbstlosen Charakter hüteten, aus ihren talmudischen Kenntnissen irgendwelchen materiellen Nutzen zu ziehen und selbst die Rabbiner für das geistliche Amt, welches sie verwalteten, kein Gehalt bezogen, so erwarben sie sich sehr oft durch die Ausübung der Heilkunde ihre Existenzmittel. Der von Spanien nach Afrika ausgewanderte Gelehrte Simon ben Zemach Duran, der zum Rabbiner in Algier ernannt wurde und ein sehr geschätztes Responsenwerk (Taschbaz) verfasst hat, war der erste Rabbiner, der von der Gemeinde ein jährliches Gehalt bezog, und er findet es nötig, sich mit der Bemerkung zu entschuldigen, dass er sein Vermögen in dem Gemetzel in seiner Vaterstadt Malorka eingebüßt habe und die Ausübung der Arzneikunde ihm die erwünschten Existenzmittel nicht gewähre, da die ärztliche Praxis unter den Berbern ganz in Verall geraten sei 53).

Der sowohl als Dichter, wie auch als Philosoph allgemein beliebte Juda Halevi (1086 — 1140), der Verfasser des hochgeschätzten Buches Kusari und einer großen Zahl religiöser Gesänge, die zu den schönsten Blüten jüdischer Poesie gehören, war seinem Lebensberufe nach ein Arzt. Er übte in seiner Vaterstadt Toledo die Medizin mit großem Geschicke praktisch aus und wurde von Juden und Arabern sehr oft an das Krankenlager gerufen. Er scheint sogar als Arzt in Hofkreisen tätig gewesen zu sein. Doch der fromme Dichterphilosoph fühlte den höhern Beruf in sich, Seelenarzt zu sein; in einem Briefe an seinen Freund kann er nicht die Klage unterdrücken, dass er „seine Jahre damit zubringen müsse, die Krankheiten der hohen Herren zu heilen“ und sich nicht ganz den rein geistigen Bestrebungen hingeben könne. Als er einmal selber erkrankte und sich ein Heilmittel zubereitete, hören wir ihn beten:

„Mein Gott, lass mich durch deine Kraft genesen,
Lass mich in Deinem Grimme nicht verwesen!
Das Mittel, das ich selbst mir zubereite,
Erkenne ich’s? Nur Du bist, der mir’s heute.
Ob's gut, ob’s schlimm, ob rasch den Schmerz es lindere.
Ob langsam es und dürftig ihn nur mindere.
Du weißt’s! Ich trau’ nicht meiner Kunst,
Vertrau’ nur Deiner Huld und Gunst 54).“


Der als Religionsphilosoph und Geschichtsschreiber hervorragende Abraham ibn Daud (st. um 1180), Verfasser zweier berühmter Werke (Emmunah Ramah und Sefer ha Kabbalah) war seinem Berufe nach ein Arzt und beschäftigte sich wie mit den höchsten Problemen des menschlichen Geistes auch mit Fragen medizinischer Art 55).

Nachmanides (Moses ben Nachmon, starb 1195), der zu den größten Heroen des rabbinischen Judentums gehört und wegen seiner edlen Gesinnung und hingebenden Frömmigkeit in ganz Spanien hochgeachtet wurde, eine großartige, imposante Erscheinung, hatte zu seinem Erwerbszweige gleichfalls die Arzneikunde gewählt und lässt oft in seinen Schriften seine medizinischen Kenntnisse durchblicken. So macht er zu der Bibelstelle Genesis 45, 27 eine interessante medizinische Bemerkung. Das Herz des Patriarchen Jakob blieb bei der plötzlichen Freudenbotschaft, die ihm überbracht wurde, starr stehen, die Herztätigkeit setzte aus und er schien leblos zu sein. Es ist dies — wie er weiter ausführt — eine bekannte und in den Büchern der Heilkunde erwähnte Erscheinung, denn Greise und geschwächte Personen werden oft von einer Ohnmacht ergriffen, wenn sie ganz plötzlich und unerwartet eine Freude überrascht: das Herz erweitert sich, gibt seine natürliche Wärme an die anderen Organe ab und gerät so durch den Wärmeverlust in eine Kältestarre. Erst nach einiger Zeit erwachte der Patriarch aus seiner Ohnmacht und erholte sich vollends, als er die Worte hörte, die Joseph gesprochen, und die Wagen sah, die er gesandt hatte. „Der Geist Jakobs lebte wieder auf“56).

Zur Zeit des Nachmanides wirkte in Toledo der bekannte Arzt Juda Alfachar, der eine besondere Berühmtheit dadurch erlangt hat, dass er in dem heftigen Kampfe gegen Maimonides mit voller Entschiedenheit als Gegner der philosophischen Geistesrichtung auftrat und die Schwächen des maimunischen Systems mit klarem, kritischen Blick erkannte. Ein Mann von weitreichendem Einfluss und berühmt als Dichter war auch der Arzt Don Vidal Benvenisti, der zu den zwanzig Gelehrten gehörte, die an der bereits erwähnten Religionsdisputation in Tortosa (1413) teilnahmen, und der durch seine Beredsamkeit zu dem günstigen Verlauf derselben viel beitrug. Unter den verdienstvollen Gelehrten, die auf Anregung der römischen Juden und unter der Protektion des berühmten Ben Aderet den größten Teil des Mischnah-Kommentars von Maimonides aus dem Arabischen ins Hebräische übersetzten, befanden sich auch zwei jüdische Ärzte aus Saragossa: Salomo ben Jakob und Nathanel ibn Almali. Etwas später verfasste der gelehrte Salomo ibn Jaisch (starb 1345) in Sevilla einen ausführlichen und geschätzten Kommentar in arabischer Sprache zu dem medizinischen Kanon des Avicenna 57). In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ragt der durch seinen lichtvollen Kommentar zu den Halachot des Alfasi berühmte Rabbi Nissim ben Ruben (Ran) aus Gerona, einer der bedeutendsten rabbinischen Autoritäten seiner Zeit, als Arzt hervor; neben den Reditsgutachten und religiösen Vorträgen schrieb er auch Rezepte, um die Schmerzen seiner Kranken zu lindern. Zu diesen spanischen Gelehrten, die auf dem Gebiete der Heilkunde tätig waren, gehört auch Joseph Albo (1380 — 1444). Dieser gelehrte Mann, der das bekannte religionsphilosophische Werk Ikkarim (Grundlehren) verfasst hat, war praktischer Arzt und bringt in seinem Werke sehr oft Gleichnisse und Bilder, die dem Gebiete der Medizin oder der Naturwissenschaft entnommen sind 58). Einmal bemerkt Albo: „Die Gesundheit hängt nicht vom Arzt allein ab, auch nicht vom Patienten, sondern vom Arzte und von der Natur des Patienten. Ebenso ist das Wachstum nicht bloß vom Ackersmann, auch nicht vom Boden, sondern vom Ackersmann und von der Natur des Bodens abhängig“ 59).

Doch diese großartige, imponierende Tätigkeit der jüdischen Ärzte, die sich über ganz Spanien erstreckte und viele Jahrhunderte hindurch dauerte, sollte in diesem Lande plötzlich durch eine furchtbare Katastrophe für immer aufhören. Am Ausgang des 15. Jahrhunderts spielte sich auf der pyrenäischen Halbinsel eine der traurigsten Tragödien in der Geschichte der Menschheit ab: im Jahre 1492 wurden die Juden aus Spanien und wenige Jahre später (1497) aus Portugal vertrieben. Unter den Hunderttausenden von Unglücklichen, die den Wanderstab ergriffen und ihr geliebtes Vaterland verließen, befanden sich auch viele jüdische Ärzte, die nicht wenig zur Verbreitung der Heilkunde in ihrer neuen Heimat beitrugen. Der gelehrte Arzt Abraham Saba, der einen Pentateuchkommentar, Zeror-hamor, verfasste, fand in Fez eine Zufluchtsstätte. Ein anderer bekannter Schriftsteller, Joseph Sarco, der der Leibarzt der portugiesischen Grafenfamilie de Menezes war und von dieser sehr geschätzt wurde, siedelte nach Agrigent über 60). Diego Joseph aus Oporto begab sich zunächst, um den Nachforschungen der Inquisition zu entgehen, nach Flandern, woselbst er einige Zeit als geschätzter Arzt tätig war. Später wanderte er von einem Orte zum andern und starb, fern von der Heimat, in Korfu. Für seinen Grabstein verfertigte er eine lateinische Inschrift, die in der Übersetzung lautet:

[i]Leb' wohl geliebtes Vaterland, dein Zögling zieht von hinnen.
Er zieht in jenes Reich, wer kann auf Rückkehr sinnen?
Nicht soll der Vater Duero die Gebeine mir bespülen,
Die Fluten des aegeischen Meeres werden meine Gebeine durchwühlen 61).[/b]

Spanien und Portugal hatten sich aber ihrer großen Wohltäter auf immer beraubt. Im ganzen Lande trat bald nach der Vertreibung der Juden ein Mangel an Ärzten ein, und die Kranken mussten zu der Kunst der gewissenlosen und unwissenden Quacksalber und Gaukler ihre letzte Zuflucht nehmen oder einen Arzt aus weiter Ferne um teures Geld kommen lassen. In Portugal musste den jüdischen Ärzten und Chirurgen, die sich dem Religionszwange gefügt hatten und im Lande geblieben waren, erlaubt werden, von ihren hebräischen Lehrbüchern der Medizin Gebrauch zu machen und in gewohnter Weise ihre Kunst auszuüben. Nur die Rezepte durften sie in keiner anderen als in der Landessprache verschreiben 62).

Doch verlassen wir den Boden Spaniens, der am Ausgange des 15. Jahrhunderts mit Blut und Tränen getränkt wurde, und richten wir den Blick auf die jüdischen Ärzte in den übrigen europäischen Ländern.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die jüdischen Ärzte im Mittelalter