Einleitung 1922

Die Geschichte der Menschheit ist reich an Tatsachen und Erscheinungen, die uns wie Rätsel entgegentreten und unseren Geist mit Erstaunen erfüllen. Zu diesen Rätseln der Geschichte gehört auch die Erhaltung, die Existenz des jüdischen Volkes unter den vielhundertjährigen Leiden und Verfolgungen des Mittelalters. Aber noch merkwürdiger muss es uns erscheinen, dass die Juden unter dem schweren Drucke in dieser unglückseligen Zeitperiode eine sehr fruchtbare literarische Tätigkeit entfaltet und an allen wissenschaftlichen Bestrebungen der sie umgebenden Nationen hervorragenden Anteil genommen haben. Jüdische Gelehrte übersetzten die wissenschaftlichen Werke der Araber und waren die Vermittler der Kultur zwischen dem Abendlande und dem Morgenlande. Jüdische Gelehrte waren bemüht, die Lehren der Religion mit den Ergebnissen der Philosophie in Einklang zu bringen und übten einen mächtigen Einfluss auf die christliche Scholastik aus.

Auf keinem Gebiete der Wissenschaft haben sich aber die Juden durch das ganze Mittelalter hindurch mehr Ruhm und Auszeichnung erworben als auf dem Gebiete der Heilkunde. Kein Volk im Mittelalter hat so viele tüchtige und wissenschaftlich gebildete Ärzte hervorgebracht als gerade das jüdische. In fast allen Kulturstaaten dieses Zeitalters, zuerst im Orient, etwas später in Spanien, sodann in den anderen europäischen Ländern sehen wir innerhalb des jüdischen Volkes berühmte und einflussreiche Ärzte auftreten, die mit großem Geschick und bestem Erfolge ihre Kunst praktisch ausübten, als Tröster und Helfer in die Hütten der Armen und in die Paläste der Reichen einkehrten, an den Höfen der Könige und Fürsten zu hohen Würden und Ämtern emporstiegen und deren Hilfe, wie die Geschichte uns lehrt, selbst von Päpsten und Prälaten sehr oft in Anspruch genommen wurde.


Die jüdischen Ärzte entwickelten aber auch eine rege wissenschaftliche Tätigkeit auf medizinischem Gebiete und trugen zur Erhaltung und Verbreitung der Heilkunde viel bei. Kein Geringerer als Professor Rudolf Virchow hat die Verdienste der Juden um die Heilkunde in anerkennender Weise hervorgehoben 1) „Erst unsere Zeit,“ sagt er unter anderem, „hat hebräische Manuskripte an das Licht gefördert, welche erkennen lassen, mit welchem Eifer und welcher Gelehrsamkeit jüdische Ärzte des früheren Mittelalters für die Erhaltung und Förderung der Medizin tätig gewesen sind; man darf wohl sagen, dass bis in diese Zeit zurück sich die oft erbliche Befähigung der Juden, die seitdem so Großes für die Wissenschaft geleistet haben, verfolgen lässt.“ In neuerer Zeit haben mehrere Fachgelehrte ihre Aufmerksamkeit den Leistungen der jüdischen Ärzte im Mittelalter zugewendet und ein besseres Verständnis für dieses interessante und beachtenswerte Kapitel der jüdischen Geschichte angebahnt.

So mögen denn auch die nachfolgenden Blätter dem Leben und Wirken der jüdischen Ärzte gewidmet sein. Zuerst wird die praktische Tätigkeit der jüdischen Ärzte in den verschiedenen Staaten während des Mittelalters geschildert; sodann werden ihre wissenschaftlichen Leistungen gewürdigt und die Ursachen, die die Juden zum Studium der Medizin veranlasst haben, besprochen. Zum Schluss soll die Stellung, die die Kirche den jüdischen Ärzten gegenüber einnahm, ins Auge gefasst werden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die jüdischen Ärzte im Mittelalter