Einleitung 1887

Das größte Rätsel, welches uns in der Geschichte der Menschheit entgegentritt und unsern Geist mit erstaunen erfüllt, ist die Erhaltung des jüdischen Volkes unter den vielhundertjährigen Leiden und Verfolgungen des finstern Mittelalters. Aber geradezu als ein Wunder muss es uns erscheinen, dass das jüdische Volk unter dem schweren Drucke in dieser unglückseligen Zeitperiode eine sehr fruchtbare literarische Tätigkeit, wie kaum ein zweites Volk auf Erden entfaltet und an allen wissenschaftlichen Bestrebungen der es umgebenden Nationen hervorragenden Anteil genommen hat. Wenn sonst ein Volk mit dem Verluste seiner nationalen Freiheit und dem Beginne seiner politischen Unterdrückung auch seine geistigen Güter einbüßt, seinen eigenartigen Charakter nach und nach aufgibt und immer mehr in Unwissenheit versinkt, bis endlich sein Geisteslicht ganz erlischt, so sehen wir in der Geschichte des jüdischen Volkes eine geradezu entgegengesetzte Erscheinung an den Tag treten. Der jüdische Staat war untergegangen, und Israel wurde, seiner politischen Selbstständigkeit und Bedeutung beraubt, unter alle Völker auf Erden zerstreut. Wohin die Vertriebenen und Heimatlosen kamen, wurden sie verfolgt, geknechtet und gemisshandelt und hatten gegen eine Welt voll der erbittertsten Feinde zu kämpfen. Aber nur der Körper war siech und krank, der Geist blieb frisch und rege und schien um so mächtiger und freier seine Schwingen zu entfalten, je mehr von ihm die äußere leibliche Hülle losgelöst wurde. Der Baum, der seinem Heimatlande entrissen und auf fremden Boden verpflanzt wurde, blühte dennoch in vollkräftiger Frische und Zeitigte die köstlichsten Früchte.

Abgesehen von der so überaus reichhaltigen und großartigen Tätigkeit im Bereiche der rabbinisch-talmudischen Literatur, haben die Juden zur Ausbildung und Verbreitung aller anderen Wissenschaften im Mittelalter unendlich viel beigetragen*).


Auf keinem Gebiete der Wissenschaft haben sich aber die Juden durch das ganze Mittelalter hindurch mehr Ruhm und Auszeichnung und die Anerkennung und Dankbarkeit der Andersgläubigen, in deren Mitte sie wohnten, erworben, als auf dem Gebiete der Heilkunde. Man wird mit Verwunderung und Erstaunen, aber auch mit gerechtem Stolze erfüllt, wenn man gerade dieser Seite der jüdischen Geschichte seine Aufmerksamkeit zuwendet und die ungeheure praktische Tätigkeit und den weitgreifenden Einfluss der jüdischen Ärzte auf die Entwicklung und Verbreitung der medizinischen Kenntnisse im Mittelalter wahrnimmt. Kein Volk im Mittelalter hat So viele tüchtige Ärzte hervorgebracht und, wenn auch nicht zur eigentlichen Begründung und Förderung, so doch zur Erhaltung und Verbreitung der Heilkunde so viel beigetragen, als gerade das jüdische. In fast allen Kulturstaaten dieses Zeitalters, zuerst im Orient, etwas Später in Spanien, Sodann in den anderen europäischen Ländern sehen wir innerhalb des jüdischen Volkes berühmte und einflussreiche Ärzte auftreten, die mit großem Geschicke und bestem Erfolge ihre Kunst praktisch ausübten, als Tröster und Helfer in die Hütten der Armen und in die Paläste der Reichen einkehrten, an den Höfen der angesehensten Könige und Fürsten zu hohen

*) Die große Bedeutung der Juden für die Verbreitung und Erhaltung der Wissenschaften im Mittelalter wird seit den gründlichen Forschungen von Munk, Joel und Renan allgemein anerkannt. Schon Tiedemann sagt in seinem bekannten Werke „Geist der spekulativen Philosophie“. (4. Band. S. 161,, welches im Jahr 1795 erschien: ,,Ihnen (den Juden) verdanken wir die meisten noch vorhandenen Übersetzungen der Araber, ihnen verdankt das folgende Zeitalter die Scholastik, die Bekanntschaft mit arabischen Lehren, nebst der ganzen daraus geflossenen Aufklärung; ihnen verdankt endlich die Wissenschaft selbst einige Erweiterung und Vervollkommenheit.“

Würden und Ämtern emporstiegen und deren Hilfe wie die Geschichte uns lehrt, selbst von Päpsten und Prälaten sehr oft in Anspruch genommen wurde. Merkwürdig, gerade dasjenige Volk, welches man mit unmenschlichem Hasse und Fanatismus überall unterdrückte und verfolgte und physisch und moralisch zu Grunde richten wollte, sollte aus seinem Schoße die hervorragendsten Vertreter der Medizin hervorgehen lassen, sollte einen großen Teil seiner besten Lebenskraft in den Dienst der leidenden Menschheit stellen und den Kranken und Unglücklichen, ohne Unterschied des Glaubens und Bekenntnisses, Hilfe und Trost bringen. Es klingt fast wie ein Märchen, aber es ist doch die reinste historische Wahrheit, dass die Juden gerade in den Jahrhunderten und in den Ländern, wo Sie am meisten gehasst und verfolgt wurden, die Heilkunde fast ausschließlich in ihren Händen hatten und so einen großen Teil der christlichen Menschheit im buchstäblichen Sinne des Wortes vom Untergange gerettet haben.

Ja, sogar um die Zeit der Kreuzzüge und der nachfolgenden unheilschwangeren Jahrhunderte, wo man gegen die Bekenner des Judentums mit unsäglichem Fanatismus wütete und die grässlichsten Folterqualen ihnen täglich bereitete, ließen sich weltliche und geistliche Fürsten von jüdischen Ärzten heilen und ernannten die Söhne jenes Volkes, das ihnen so verächtlich erschien, zu ihren Leibärzten. Wie der Seidenwurm mit Emsigkeit sein eigenes Totenkleid spinnt, so erhielten die jüdischen Ärzte ihre erbittertsten Feinde und Gegner beim Leben, die dann plötzlich über sie und ihre Glaubensgenossen herfielen und sie schonungslos ermordeten. Es liegt etwas unbeschreiblich Ergreifendes und Erhabenes in diesem Zeugnisse der Geschichte, vor dem wir in heiliger Scheu zurückbeben. — Wie oft mag es vorgekommen sein, dass ein jüdischer Arzt, dessen Weib von den fanatischen Horden geschändet und dessen Kind in grausamer Weise getötet wurde, zu dem Krankenlager eines dieser Andersgläubigen, die der Religion der Liebe angehörten, gerufen wurde, um durch jüdische Rezepte seine Schmerzen zu lindern. Es wollte fast scheinen, als ob die Juden eine doppelte Aufgabe erhalten hätten, nicht nur den Geist vor moralischem Verfalle zu wahren, sondern auch den Körper von Tod und Untergang zu retten. „Es gab eine Zeit, in der die Juden als Leibärzte das Leben sämtlicher Fürsten und Prälaten in ihrer Gewalt hatten“, sagt mit gerechter Bewunderung ein bekannter nichtjüdischer Gelehrter*). Wahrlich, ein Schöneres Ehrenzeugnis konnten die Feinde den Juden nicht ausstellen, als indem Fürsten und Könige Sie zu ihren Leibärzten ernannten und die große Masse des Volkes ihr teuerstes Gut, das eigene Leben, ihnen anvertraute. ,,Bei aller Eingenommenheit gegen die Juden hatten Sie also doch — das haben Sie auf die unzweideutigste Weise an den Tag gelegt — das Bewusstsein, die Überzeugung, dass sie sich aus ihre Treue verlassen können dass dieselben, anhänglich und ergeben, es mit Fürst und Volk ehrlich meinen**)“ — Es gibt keinen schärferen Protest gegen die gehässigen Angriffe und Anklagen, die zu allen Zeiten und auch in der neuesten Zeit gegen die Juden geführt werden, als eine lebendige und wahrheitsgetreue Darstellung des Lebens und Wirkens der jüdischen Ärzte im Mittelalter. Nirgends tritt der schroffe und Scharfe Gegensatz zwischen dem Fanatismus und der Verfolgungswut der Andersgläubigen und der Sanftmut und Nächstenliebe der Juden schöner und herrlicher in die Erscheinung, als in der Geschichte der jüdischen Ärzte. Dort Tod und Verderben, hier Heilung und Trost; dort Hass und Gewalt, hier Barmherzigkeit und Milde. Der ergreifendste und zugleich der erhabenste Akt im Leben des jüdischen Volkes ist die Geschichte der Ärzte, die aus seiner Mitte hervorgegangen sind.

So möge denn in den nachfolgenden Blättern der Versuch gemacht werden, das Leben und Wirken der jüdischen Ärzte im Mittelalter in einigen schwachen Umrissen darzustellen. Es soll hierbei weniger auf die Anzahl der Namen, als auf ein übersichtliches, anschauliches Gesamtbild ankommen.

*) Schleiden in seiner schönen und lesenswerten Schrift: „Die Bedeutung der Juden für die Erhaltung und Wiederbelebung der Wissenschaft im Mittelalter“.

**) Dr. L. Münz, die modernen Anklagen gegen das Judentum als falsch nachgewiesen. S. 23. (I. Kauffmanns Buchhandl. Frankf. a. M. 1882.)



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die jüdischen Ärzte im Mittelalter