Die irrfahrende Hamburgerin (2)

Aus: Zeitung für die elegante Welt. 36ter Jahrgang. 1836 (Karl Spazier)
Autor: Redaktion: Zeitung .f.d.e.W., Erscheinungsjahr: 1836
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Hamburg, Hamburgerin, Liebesgeschichte, Schicksal, Bordell, Prostitution, Hurenhaus, Freier, Prostituierte, Hure,
Im ganzen Hause wurde es wieder still, ich ging unruhig den langen Saal auf und nieder. Ich horchte an der Tür, aus deren Ritzen noch ein Lichtschimmer zu mir hereindrang, ich konnte leise Bewegungen unterscheiden. Mir lag unendlich viel daran, das rätselhafte Wesen noch in dieser Nacht zu sprechen, ihr Schicksal zu erforschen. Ich hörte, dass sie im Nebenzimmer schrieb, einen Brief faltete, versiegelte. Dann sprach sie mehrere Worte zu sich selbst, deren tiefen Klagelaut ich nur vernahm, nicht ihre Bedeutung. Aber vor diesem Seelenklange der Stimme schwand mir gänzlich aller niedrige Argwohn gegen sie. Ich konnte mich nicht länger halten, ich rief ihr zu, klopfte an die Tür, nannte bittend ihren Namen. Sie öffnete sie, hieß mich eintreten, und schloss dann wieder sorgfältig hinter sich ab.

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Jetzt saß ich ihr gegenüber, in einem kleinen, spärlich erleuchteten Gemach, das fast nur mit ihrem Bett, einigen Stühlen und einem Tische, auf dem Schreibzeug und einige Bücher lagen, ausgefüllt war. Sie reichte mir still ihre Hand hin, und indem ich sie hielt, sah sie mit einem fragenden leuchtenden Blick, dessen Ausdruck ich nicht beschreiten kann, an mir herauf. Das prächtige lange Haar hing ihr aufgelöst über die Schulter, auf der Wange lagen einige Tränentropfen, sie weinte noch halb, halb lächelte sie, wie ein höherer Geist, der seinem Schicksale überlegen. Sie sah wunderschön aus, und legte die größte Ehrerbietung auf, indem sie zu sich hinriss. Ich fragte, ob sie mir ihre Geschichte vertrauen wolle?

Sie entzog mir ihre Hände, fuhr sich mit der einen über die Augen und weinte leise in sich hinein. Dann sagte sie, gefasst und mit Stolz sich aufrichtend: Ich fühle wohl, dass sie sich ein Recht darauf erworben, ihr nachzufragen, und auch ohne dies müsste ich Ihnen ja Alles erklären, da ich Ihnen unter so sonderbaren und zweideutigen Umständen begegnete. Meine Geschichte gleicht einem Brautkranze, der im Flechten unter den Händen zu einer Dornenkrone wurde. Mein Schicksal vergriff sich nur immer in der Wahl der Blumen, sonst nichts. Es hätte Alles schön werden können, und wurde hässlich, die wohlklingendsten Grundakkorde wurden rau und heiser, noch ehe sie in die Melodie übergehen konnten. Was soll ich sagen, wenn ich meine Geschichte in ihre Bestandteile zerlege? Ich sehe zu wenig Schuld für mein Unglück, und zu viel Unglück für meine Schuld. Darum ist mein Herz noch stark und trotzig in seiner Hoffnung, wenigstens fühle ich den göttlichen Trotz, nicht zu klagen. Ich lasse Alles über mich ergehen, aber ich weiß, was ich verdiene. Ich bin neugierig, ob das Schicksal sich wirklich in meiner Natur verrechnen wird, denn es hat mich bis jetzt behandelt, als kenne es mich und meine Art nicht. Hören Sie aber, welchen Eindruck die einfachen Tatsachen auf Sie machen werden.

Ich staunte, sie so reden zu hören. Dann begann sie zu erzählen.

Ich bin aus Hamburg, einer dort sehr geachteten Familie angehörig, in der ich zwar wenig Liebe, aber viele Gelegenheit zu meiner sorgfältigen Ausbildung fand.

Doch nein, unterbrach sie sich mit einer schmerzlichen Zuckung, in diesem Tone, der dem Anfange eines gewöhnlichen Romans gleicht, kann ich nicht fortfahren. Ich muss Ihnen in schnelleren Tableaux meine Ereignisse vorüberführen, nehmen Sie dann daraus den Zusammenhang, wie Sie können.

Ich schlich mich gegen Abend aus dem Hause meiner Eltern fort, der stille Abschied, den ich zu nehmen hatte, fiel mir nicht schwer. Der Vater war gut, aber schwach, ich küsste ihn noch einmal aus ganzer Seele, er wusste nicht warum. Die einzigen Worte, die ich seit den letzten Monaten aus seinem Munde gehört, waren: Du sollst heiraten, wen Dir die Mutter bestimmt hat. Die Mutter küsste ich nicht, sie würde sonst Verdacht geschöpft haben. Gott, wir waren uns so fremd, dass es mir oft schien, sie hätte sie mich nur darum geboren, um mich hassen zu können. Sie gehörte zu den Naturen, die gern hassen, weil sie gar kein Talent für die Liebe haben. Mich wenigstens hat sie kein einziges Mal geliebt. Ich aber liebte auf der ganzen Welt nur einen jungen, mit mir einverstandenen Freund, er hieß Wilhelm.

Ich muss anführen, dass ich unten in der Haustür weinte, während ich unsere Zimmer ohne Tränen und Empfindung verlassen hatte. Es war mir schon einmal begegnet, dass meine Empfindung gerade an einer Stelle losbrach, welche eigentlich die gleichgültige war. In der Haustür aber wurde es mir bitter, die Schwelle zum letzten Male zu überschreiten, es war mir, als hielte mich etwas beim Kleide zurück, nicht in die Nacht hinauszugehen. Dieselbe Tür hatte vor wenigen Jahren ein Bruder von mir hinter sich zufallen lassen, der dem väterlichen Hause heimlich entfloh. Dann aber hüllte ich mich fester in mein Umschlagetuch, und eilte mit einem klopfenden Herzen, indem ich den Schmerz nicht mehr von der Freude zu unterscheiden wusste, über die noch geräuschvollen Gassen dahin. Erst an dem entfernten Steintor hielt ich still, und lag in den Armen meines harrenden Freundes.

Ich sagte zu ihm: Losgerissen von den sichern Banden, welche das Weib an die hergebrachte Sitte knüpfen, komme ich zu Dir, mein Freund! lass mich an ein unerschütterliches Herz fallen! Unsere Liebe, weil sie echt ist, trägt die Sühne in sich für unsere Schuld! — Gott weiß es, wie ein Sakrament empfand ich seinen zärtlichen Kuss, mit dem er mich in den Wagen hob. Unsere Fahrt war zuerst nach Berlin bestimmt.

Wilhelm war reich, unabhängig, elternlos, amtlos, sein Inneres war voller Schönheit, sein Gemüt heiter und klar. Indem ich mich an ihn schmiegte, vergaß ich alle Sorgen der ganzen Erde. Sternenhell war die Nacht über uns, mein Herz frei und leicht und voller Liebe, dies junge Herz war damals eine reiche Beute, mit dem die schnaubenden Rosse, die mich entführten, lustig davonflogen.

Ich wollte, wir wären immer auf der Reise geblieben und das Leben draußen hätte sich nur in der Fensterperspektive dieses Reisewagens zu uns gestellt. So glücklich war ich. Ich blieb es und wurde es noch mehr zwei Monate lang in Berlin, in dieser Stadt des nackten Verstandes erlebte ich herrliche Pfingsttage meines so lange unterdrückten Gemüts, Auferstehung alles Guten und Schönen, was in mir war. Ich hatte an meine Eltern fest und besonnen geschrieben, aber die Zeugnisse, die zu unserer Trauung herbeigeschafft werden mussten, waren noch immer nicht zu erlangen. Dies hätte mich zuweilen sehr geängstigt, wenn ich nicht so viel Leichtsinn, Zärtlichkeit und ein grenzenloses Vertrauen auf den Himmel besessen hätte. Wenn ich eine Zeit lang deshalb geweint hatte, dachte ich immer, Gott fragt nicht nach den Papieren, und lachte. Wir hatten unsere Zeit gut eingeteilt, lasen viel zusammen, und Wilhelm beschäftigte sich mit Zeichnen. Zuweilen tat mir mein alter Vater leid, der jetzt ganz allein mit der Mutter in dem hohen fahlen Zimmer sitzen mochte, und die heiseren Glockenschläge der Michaeliskirche, neben der unser Haus lag, gähnend zählte.

Eines Abends wartete ich lange, — erzählte Antonie weiter, — dass Wilhelm zu einer festgesetzten Stunde nach Hause kommen solle. Er kam nicht. Es wurde neun, zehn, elf, zwölf Uhr, er kam nicht. Ich fühlte zum ersten Mal mit heißen Schweißtropfen auf der Stirn, was es heißt, vergeblich zu warten auf Einen, der zu uns gehört, der sich uns entzieht. Ich bat Gott um Verzeihung, wenn ich meinen Eltern vielleicht eine eben so bange Stunde bereitet, meiner zu warten.

Aber Wilhelm kam nicht, wie ich auch langte und harrte die ganze Nacht hindurch. Der erste Tagesstrahl, der mit dem aufgehenden Morgen in mein Fenster drang, schoss mir wie ein Blitz betäubend über den Scheitel, und meine Angst machte sich in einem einzigen gellenden Schrei Luft. Es hätte noch zufällig sein können, dass er ausblieb, aber ich war schon überzeugt, dass er mich verlassen hatte, obwohl ich nicht wusste, warum. Ich rechnete Alles noch einmal nach und fand, dass in der ganzen Rechnung kein Irrtum war, aber in den Zahlen. Wir hatten mit unrichtigen Ziffern gerechnet, es musste ein Bruch übrig bleiben. Schon öfter war es mir gewesen, als sei ich viel glücklicher als er, aber ich wollte nur nicht daran glauben. Er hatte unser Stillleben nicht länger ertragen können, und ich sah ein, dass ich die Größe des Mannesherzens, von dem ich überhaupt in meiner Mädchenschwärmerei immer zu idealisch geträumt, in ihm überschätzt hatte. Den andern Tag erhielt ich einen Brief aus Leipzig, der war gut geschrieben, versöhnlich nach seiner oberflächlichen Weltansicht, die ich oft für Genialität an dem heiteren Jüngling gehalten. Er bot mir alle Mittel der Existenz, und machte Vorschläge zur Aussöhnung mit meinen Eltern. Ich lehnte Beides mit gleicher Entschiedenheit ab. Ich wollte, wie auch immer, fortan nur auf mein eigenes Schicksal gestellt sein.

Er war klein, ich beschloss ihm nicht zu zürnen, und dachte an die Zukunft. Ich musterte die schönen, von seiner Prachtliebe reich geschmückten Räume, die zwei Monate lang der Tempel unserer Liebe und Täuschung gewesen waren. Was ihm angehörte und von ihm herrührte, verkaufte ich und schenkte den Erlös an die Armen. Vielleicht war mein Eigensinn töricht, dass ich gar nichts, selbst zum Vorteil meiner prekären Lage, mehr von ihm besitzen wollte. Meine eigenen Kostbarkeiten, die ich zu Gelde machte, sicherten mich jedoch für den Augenblick. Ich wurde wieder guten Mutes und fühlte keine Reue in meiner Brust. Was ich getan hatte, war getan, ich konnte immer eine milde Richterin meiner eigenen Taten sein, weil es das Schicksal schon streng genug mit mir nahm.

Jetzt komme ich auf einige Situationen meines Lebens, wo mir der Atem ausgehen möchte, sie zu schildern. Bis sich meine Zukunft feststellte, wollte ich eine kleine stillgelegene Wohnung in der Stadt beziehen, und meine bisherige Wirtin, eine alte Frau, versprach, mich einer anständigen Familie zu überweisen, bei der ich für einen mäßigen Preis Aufnahme und Beköstigung finden könnte. Es war eine freundliche, etwas korpulente Dame in mittleren Jahren, die mir ein Zimmer, wie ich es wünschte, in ihrem Hause abtrat, und bat, dass ich mich zu ihrer Familie gehörig betrachten mochte. Ich blieb jedoch die ersten Tage ganz allein auf meinem Zimmer und Niemand störte mich. Ich schrieb einige Briefe, um mir Gelegenheiten zu einer für mich passenden Lage zu eröffnen. Dann empfand ich Langeweile und den Trieb, wieder mit Menschen zu verkehren, und begab mich eines Nachmittags hinunter in das Familienzimmer. Hier traf ich mehrere sehr geputzte junge Damen an, die mir als Anverwandte des Hauses vorgestellt wurden. Ich fühlte mich ein wenig befremdet in diesem Kreise, so dass ich Anstand trug, den mir dargebotenen Platz anzunehmen. Die jungen Mädchen schienen sich übrigens wenig um mich zu bekümmern. Die eine saß am Flügel und sang, eine andere lehnte in einer sehr nachlässigen Stellung auf dem gelbseidenen Canapee und las in einem Buche, an dessen ziemlich unsauber gewordenem Einbände man eine gesuchte Leihbibliotheken-Lektüre erkennen konnte, noch vier andere saßen um einen kleinen Marmortisch und spielten Karten. Das Zimmer war übrigens ausnehmend elegant eingerichtet. Es währte nicht lange, so trat ein Offizier ins Zimmer, der sich auf eine sehr ungebundene Art mit den Damen in ein Gespräch einließ, und Scherze wagte, denen ich mit Erschrecken entfloh. Ich war erbleicht und erstarrt, und schlich nachdenkend auf mein Zimmer, das im zweiten Stockwerk lag. Dort hatte ich keine Ruhe, ich flog wieder die Treppe hinunter, suchte die Frau vom Hause, rief nach ihr, und fand sie nirgends. Alles was ich jetzt in dem Hause flüstern, rascheln, sich bewegen hörte, machte mir Angst. In meiner Bangigkeit ging ich auf dem Hausflur auf und ab, ich stürzte auf die Haustür zu, und bemerkte, dass sie verschlossen war. Die Bücherleserin, welche auf dem Canapee gesessen hatte, trat zu mir heraus, sie beredete mich, wieder mit ihr ins Zimmer zu gehen, und entschuldigte das Benehmen des Offiziers, der ein Verwandter der Familie sei, und leider öfter betrunken komme. Er sei nicht mehr da. Sie hatte noch am meisten Angenehmes in ihrem Wesen, ich folgte ihr halb gedankenlos und setzte mich an ihrer Seite nieder. Sie sprach Mehreres mit mir, schien gutmütig und gebildet. Von den übrigen Damen fehlten jetzt einige, andere standen vor dem Spiegel, mit coquetten Anordnungen ihres Putzes beschäftigt. Da wurde die Hausglocke so heftig gezogen,
dass ich in allen meinen Nerven zusammenbebte, die Tür ging auf, und eine Gesellschaft von mehreren älteren und jüngeren Herren stürzte mit tumultuarischen Gebärden herein. Ein Bowle Punsch wurde gefordert, bald stand sie dampfend auf dem Tische, und da es inzwischen Abend geworden war, flackerten zwei Gasröhren in starken Flammen auf und warfen eine blendende Helle über das Zimmer und die darin zusammengedrängten unheimlichen Gestalten. Mein Entschluss war gefasst. Unter den Anwesenden befand sich ein ältlicher Herr, dessen Aussehen mir am meisten Zutrauen einflößte. Ich bat ihn, mir einen Augenblick zu folgen und mich anzuhören. Draußen redete ich ihn mit den eindringlichsten Worten an, ich vertraute ihm die unglückliche Ahnung über mein Hiersein, und beschwor ihn, mir nur dazu behilflich zu sein, dass ich gleich im Augenblicke dies Haus verlassen könne. (D. F. f.)

Hamburg 1842

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