Die irrfahrende Hamburgerin (1)

Aus: Zeitung für die elegante Welt. 36ter Jahrgang. 1836 (Karl Spazier)
Autor: Redaktion: Zeitung .f.d.e.W., Erscheinungsjahr: 1836
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Hamburg, Hamburgerin, Liebesgeschichte, Schicksal
*) Nach dem mündlichen Bericht mit wenigen Veränderungen hier wiedergegeben.

************************************
Als ich von meiner größeren Kunstreise zurückkehrte, hielt ich mich durchreisend einen Tag in Berlin auf, und find es bequem, für die kurze Zeit einen der kleineren entlegenen Gasthöfe zu wählen, weil eine gute Gelegenheit, mit der ich am andern Morgen früh nach meiner Heimat Schlesien abgehen wollte, dort stationierte. Das kleine Haus, indem ich damals einkehrte, ist jetzt nicht mehr an seinem Platze zu finden, denn als ich es nach Verlauf eines Jahres wieder aufsuchte, sah ich ein anderes stattliches an seiner Stelle aufgeführt, nur zum Privatbesitze dienend. Der unansehnliche, aber wohleingerichtete Gasthof, der auf der Friedrichstadt lag, war sehr angefüllt mit Fremden aller Art und jeden Standes. Ich trat in das Speisezimmer, das einen langen, öden, unabsehbaren Saal vorstellte, und mein Missvergnügen über diese unfreundlichen Räume wollte sich eben regen, als mein Auge auf eine seltene ungewöhnliche Erscheinung abglitt, die mich mehr als Alles überraschte. Ein weibliches Wesen, in aller Blüte und Fülle der Jugend, schritt durch den Saal und schien hier als eingewohnte Gestalt zu verkehren, obwohl sie wie ein fremdartiges Götterbild an diesen Umgebungen vorüberging. Ich begegnete ihren Blicken, die auch mich schon aus der fernen Ecke des Zimmers erspäht hatten, und aus denen ein wunderbares, gedankenvolles Sternenleben mich anleuchtete. Es war viel süßer Liebreiz als selbstbewusste Größe in diesem schönen Mädchen, ein Zug von Nachdenken und Trauer ließ den hellbraunen, reichgelockten Kopf etwas seitwärts neigen, indem sie ging. Ich betrachtete die hohe schlanke Gestalt, die für die niedrigen Räume, unter denen sie sich einher bewegte, nicht aufgewachsen schien, ich suchte mir aus diesem lilienblassen, stillsinnenden Gesicht das Geheimnis ihrer Existenz zusammenzulesen. Ihr Anzug war halb der einer Dame, halb trug er den Charakter des Häuslichen und Wirtschaftlichen, aber dieses Gemisch zweier verschiedener Bestandteile war in eine sehr geschmackvolle Anordnung gebracht. Ein kleines Schlüsselbund an der Seite gab ihr das Ansehen der Schaffnerin des Hauses. Ich hörte sie mit einem Fremden Französisch sprechen, das sie mit graziöser Leichtigkeit handhabte, eine feine Kenntnis im Ausdruck verratend. Indem sie sprach, zeigte der imponierende Anstand ihrer Bewegungen, dass sie etwas Besseres zu tun gewohnt sein mochte, als einem französischen Lederhändler Auskunft zu erteilen. Bald darauf redete sie zu einem der anderen Gäste, der sie angegangen, eben so geläufig Englisch, mir der anmutigsten Betonung. Ich stand verwundert und hatte noch immer vergessen, mir einen Platz am Tische auszuwählen. Ihr Blick traf mich noch einmal, wie zu Anfang, mit seinem tiefdringenden bedeutsamen Strahl, er war wie eine große schmerzliche Frage, auf die ich keine Antwort wusste, dann verhallte ihr edler Schritt im Hintergründe des Saales, wo sie in einem Nebenkabinett verschwand.

Ich fragte den Kellner, der mich bediente, nach dieser Erscheinung. Dies echt berlinische Gesicht grinste mich lächelnd an, und brachte endlich eine etwas zweideutige Antwort heraus, die mich eben so stutzig machte als von neuem mein Interesse spannte. Er sagte, sie sei das Mädchen aus der Fremde, man wisse nicht, von wo sie gekommen, und wohin sie fahren werde, aber sie sei hübsch. Sie befand sich erst seit fünf Tagen in dem Gasthofe.

Das Zimmer hatte sich unterdes von Gästen geleert, und ich saß allein am Tische. Allerlei Gedanken über meine Verhältnisse beschäftigten mich, ich sank in ein stilles Sinnen und Träumen. Ball darauf setzte sich ein junger Mensch von wildem verworrenem Ansehen mir gegenüber, struppiges Haar hing ihm über finstere verwüstete Gesichtszüge herab, Leidenschaft, Tücke und Unglück sprachen aus seiner abschreckenden Physiognomie. Seine Kleidung war phantastisch und unordentlich, und man hätte ihn nach derselben für ein heruntergekommenes Genie meiner edlen Profession halten können. Ich achtete nicht ferner auf ihn, und überließ mich, den Kopf in die Hand gestützt, wieder meinen inneren Bildern. Da traf auf einmal ein leiser, aber aus unendlich tiefer und schöner Seele hörbar werdender Seufzer mein Ohr. Ich blicke auf und sehe, dass am Fenster, nicht weit von uns, mit einer weiblichen Arbeit beschäftigt, Antonie sitzt. Sie mochte schon seit einiger Zeit unbemerkt dort ihren Platz genommen haben. Ihren Namen Antonie hatte mir der Aufwärter genannt. Es war jene unvergessliche Mädchengestalt, die mir seit meinem Eintritte in diesen Saal unablässig vorschwebte.

Sie sah mich mit ihren herrlichen traurigen Augen einen Moment in freundlicher Wehmut an, richtete sie aber dann ernst und scharf auf den jungen Menschen, der mir gegenübersaß. An diesen scheint ein besonderes Interesse sie zu knüpfen. Sie späht alle Augenblicke forschend zu ihm hinüber, ihre Teilnahme für den düster Schweigenden hat etwas Sorgliches und Peinliches. Er dagegen aß hastig, mit vor sich hinstarrenden Blicken, stand dann trotzig auf, sie von der Seite finster ansehend, und verließ den Saal. In seinem taumelnden Gange bemerkte ich erst, dass er betrunken zu sein schien. Sie begleitete ihn ängstlich mit den Augen und ließ nicht eher den Blick von ihm, als bis er in der Tür verschwand.

Ich war allein mit ihr. Sie hatte etwas so Ungewöhnliches und Seltenes in ihrem Wesen, dass es mir schwer wurde, mit den banalen Redensarten ein Gespräch anzuknüpfen. Man hätte gleich das tiefste Herz ihres Charakters, das wie verhüllt unter einer Nesseldecke von Lebensschmerzen lag und zuckte, mit festlichen Glockenklängen aufrufen mögen. (D. F. f.)


Antonie erkundigte sich sehr teilnehmend nach Schlesien, das sie als mein Reiseziel aus dem Passbuche erfahren. Ihre Fragen danach verrieten ein gespanntes Interesse. Sie habe gehört, es gebe dort viele gute freundliche Menschen, einen gemütlichen Schlag, zu dem ein Gescheiterter gern pilgern möchte, um dort sein Asyl zu suchen. Ein schneidendes Gefühl von Heimatlosigkeit und Hoffnungslosigkeit schien plötzlich bei ihr durchzubrechen, sie schauerte heimlich zusammen, fasste sich aber wieder und blickte mich an mit klaren Augen, in die etwas Entschlossenes und Selbstständiges trat. Ich lud sie ein, morgen mit mir nach Schlesien zu fahren, und sie ging heiter auf diesen Scherz ein, erkundigte sich aber dann wieder mit fast ernsthafter Genauigkeit nach der Meilenzahl zwischen Berlin und Breslau. Sie schien einiges Vertrauen zu mir zu empfinden. Ihre klangvolle ausgebildete Stimme hatte zugleich einen äußerst gutmütigen Ton, und hauchte zuweilen die weichsten Nuancen der Seele aus. Sie hatte etwas von dem hamburgischen Dialekte, besonders in der schillernden Aussprache der Vokale. Ihre Gesichtsbildung, die in etwas großen Zügen einen starkausgeprägten Madonnencharakter zeigte, gemahnte den Kenner auch einigermaßen an die Hamburgerin. Als das Gespräch mit ihr eben inniger sich ineinanderschlang, wurde sie abgerufen. —
Von mehreren Gängen und Geschäften in der Stadt kehrte ich erst spät gegen Abend in meinen seltsamen Gasthof zurück. Ich wusste schon, dass ich im Saale auf einem Sofa die Nacht würde zubringen müssen, weil die geringe Anzahl von Zimmern, welche das kleine Haus fasste, schon seit mehreren Tagen mit Gästen überfüllt war. Die lange schmale Ebene des Saales war an mehreren Orten von Seitentüren durchschnitten, die in kleinere angrenzende Zimmer zu führen schienen. Mein Nachtlager, auf dem ich mich eingerichtet hatte, war in der Nähe einer solchen Tür befindlich, und ich glaubte Geräusch und Tritte hinter derselben zu vernehmen. Dann ließ sich ein leises Schluchzen, ein recht bitteres Seufzen und Weinen hören, das jedoch bald wieder verstummte. Ich dachte an Antonie, und glaubte sie zu erkennen.

Ich streckte mich unruhig auf meinem Lager hin und her, es war spät geworden, nur ein trübes Nachtlicht brannte in der entferntesten Ecke. Bei der großen Stille, die nun ringsum eintrat, hörte man nichts als das Drehen des Holzwurms in dem alten Gemäuer. Da öffnete sich mit heftigem Geräusch die große Saaltür, und jener junge Mensch, der mir schon heut Mittag als mein Tischnachbar auffällig gewesen, stürzte polternd und stolpernd herein. Er war völlig betrunken, so dass er sich kaum mehr aufrecht erhalten konnte, murmelte einige wilde Flüche vor sich hin, und warf sich sodann auf ein mir gegenüber befindliches Ruhebett, wo er sogleich einschlief und in ein heftiges Schnarchen verfiel.

Die Mitternachtsstunde mochte herangerückt sein, als ich durch ein kleines Geräusch in meiner Nähe wieder erwachte. Die Seitentür neben mir hatte sich leise geöffnet, und eine Gestalt im weißen Nachtkleide, mit einem Lichte in der Hand, trat mit vorsichtigen Schritten herein. Es war Antonie. Ich hielt mich zurück, ich wagte kaum zu atmen. Sic schwebte wie eine Lichterscheinung an mir vorüber, die außerordentliche Schönheit der Glieder durchschimmerte das leichtverhüllende Gewand. Was will sie beginnen, was bedeutet ihr irresuchender Blick? Ich konnte von meinem Platze alles deutlich wahrnehmen, was vorgehen möchte.

Sie stand drüben vor dem Lager des jungen Mannes betrachtend still, und beleuchtete ihn einen Augenblick, um seinen Schlummer zu prüfen. Dann setzte sie das Licht auf den Boden nieder, beugte sich zu dem Schlafenden herab, und zog ihm eine goldene Kette mit einer daran befestigten goldenen Uhr, die er um den Hals trug, behutsam über den Kopf. Wie? War dies Diebstahl, hatte es einen andern unbegreiflichen Zusammenhang? Ich wusste mich vor Erstaunen nicht zu lassen, ich wollte aufspringen, Zorn, Empörung bemeisterten sich meiner, aber nein! dann konnte und wollte ich wieder an dieser edlen Gestalt, an diesem herrlichen Gesichte nicht irre werden.

In diesem Augenblicke war aber auch schon der Schlummernde erwacht und sprang wie ein Rasender auf das Mädchen zu, das die Kette mit der Uhr zitternd in ihrer Hand hielt. Er fasste sie bei den Haaren, warf sie mit grässlichen Schimpfreden, unter denen das Wort: Metze! verworfene Dirne! mich kalt durchrieselte, an die Erde nieder, und war eben im Begriff, sie auf das Entsetzlichste zu misshandeln, als ich, hinzuspringend, ihn von hinten beim Genick ergriff und mit aller Gewalt zur Seite schleuderte. Seine ganze Wut richtete sich jetzt gegen mich. Eine völlige Tollheit schien sich seiner zu bemächtigen, zähnegrinsend starrte er mich einen Augenblick an, zog dann ein langes Messer, das er in der Brust verborgen getragen, und stürzte damit schreiend und mit schäumendem Munde auf mich los. Ich würde schlecht davongekommen sein, wären nicht auf den Lärm, der alle Schläfer des Hauses erweckt hatte, mehrere herbeigeeilt, die den Unbändigen ergriffen und entwaffneten. Man konnte seiner nicht anders Herr werden, als dass man ihn mit Stricken band und davonschleppte. Ich blickte mich nach Antonien um, sie war schon früher in ihr Zimmer verschwunden. (D. F. f.)

Hamburg, Flet in der Altstadt

Hamburg, Flet in der Altstadt

Hamburg, Blick auf die Unterelbe

Hamburg, Blick auf die Unterelbe

Hamburg - Deichstraßenfleet

Hamburg - Deichstraßenfleet

Hamburg - Leitergasse

Hamburg - Leitergasse