Die innere Konsolidierung Russlands

Aus: Die deutschen Ansiedlungen in Russland - Einleitung 05
Autor: Matthäi, Friedrich (?-?) Offizier der kögl. Sächs. Armee, corresp. Mitglied der Kaiserl. freien ökonomischen Gesellschaft, sowie der Gartenbaugesellschaft zu St. Petersburg, Erscheinungsjahr: 1866
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Deutsche, Heimat, Auswanderung, Auswanderer, Kolonisten, Das Geschäftsleben der Bäcker und Apotheker, der Schneider, der Kaufleute, der Buchhändler, der Lehrer, Privatlehrer, Hauslehrer, Gymnasiallehrer, Universitätslehrer, Das Gesellschaftsleben, Die gute Gesellschaft, Die schlechte Gesellschaft, Die Frauen, Die Karten, Die Musik
Die innere Konsolidierung Russlands begreift, wenn ich sie recht verstehe, vor allen Dingen die Erschließung aller Hilfsquellen Russlands und die Hebung der produktiven Kraft, wo das nur immer die Verhältnisse gestatten mögen, die Regelung der den Zeit- und Staatsverhältnissen entsprechenden Gesetzgebung, so wie der staatswirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse des Kaiserreiches in sich. Die Aufhebung der Leibeigenschaft hat den Grundstein zu, dieser Konsolidierung gelegt, denn durch sie ist Russland in die Reihe der Kulturstaaten getreten; die Reorganisation des Gerichtswesens wird den zweiten großen Akt der staatlichen Entwicklung Russlands bilden und durch sie wird dasselbe zum modernen Rechtsstaat. Als Kulturstaat steht aber Russland noch immer gewissermaßen in der ersten Entwicklung, ja wir befinden uns hier inmitten einer gewaltigen volkswirtschaftlichen Krisis, die noch weit entfernt ist, ihren Gipfelpunkt hinter sich zu haben, einer Krisis, die sogar als eine notwendige Folge der Umgestaltung der sozialen Verhältnisse Russlands eintreten musste, wenn sich hier nicht wunderbarer Weise das Gegenteil aller bisher gemachten Erfahrungen herausstellen sollte. Machten sich doch schon diese Erfahrungen in Ländern geltend, welche in jeder Beziehung vorteilhafter situiert waren, wie Russland, und unter weit günstigeren Verhältnissen als die russischen sind.

Der Bauer hat die Leibeigenschaft abgestreift und ist zum freien Besitzer seines Grund und Bodens geworden und Millionen sind von drückenden Fesseln befreit. Ich will nicht glauben, was viele behaupten, dass die Zahl derjenigen Bauern, die sich nach den früheren Zuständen zurücksehnen, um sich von ihren Grundherren in Zeiten der Not erhalten zu lassen, eine große sei, obgleich die Gegner der Aufhebung der Leibeigenschaft dieses Argument vielfach anführen. Aber so viel scheint sich herauszustellen, dass nicht alle Bauern den Segen der neuen Institutionen, begreifen und sich der letzteren würdig erweisen. Sie haben wohl ihre Befreiung mit Jubel begrüßt, allein sie fasten die hohe volkswirtschaftliche Bedeutung derselben und ihre neue Stellung als die vorzugsweiser Kulturarbeiter ihres Landes nicht im richtigen Lichte auf. Es ist nicht zu bezweifeln, dass diese hin und wieder auftretenden Erscheinungen bald einer gesünderen, das eigentliche Volk durchdringenden Anschauung weichen werden, allein es wird immerhin noch eine geraume Zeit vergehen müssen, bevor dieser Umschwung vollständig eintritt. Bei dem gesunden, dem russischen Volke innewohnenden Sinne werden sich die Ansichten immer mehr auf allen Seiten klären, und in dem Verhältnisse, als dies geschieht, werden auch die Folgen der gegenwärtigen Krisis nach und nach schwinden. Allein selbst dann wird und kann sich Russland noch nicht zu einem vollständig entwickelten Kulturstaat herangebildet haben.

Fassen wir nur drei der wichtigsten inneren Kraftelemente Russlands ins Auge und forschen wir der Übereinstimmung derselben mit den Anforderungen des Kulturstaates nach: den Handel, die Industrie und die Landwirtschaft.

Der Handel Russlands ist im Verhältnis zu den beiden andern Kulturelementen am weitesten ausgebildet. Der Charakter des russischen Volkes ist der Handelstätigkeit günstig und weise Herrscher haben gewusst, die natürlichen Hilfsmittel Russlands, namentlich seine Wasserstraßen so auszubeuten und zu vervollkommnen, dass diese Handelstätigkeit nicht bloß auf einzelne Landesteile beschränkt bleibt, sondern sich gleichmäßig im ganzen Lande verteilt. Der innere Handel Russlands ist daher auch ein geregelter, weit verzweigter und den Bedürfnissen des Landes entsprechender. Der auswärtige Handel Russlands dagegen, obgleich er vorzugsweise berufen ist, zu einer Stütze der inneren Kultur zu werden, bewegt sich noch immer in der Passivität, und es ist wenig Aussicht vorhanden, diesen Übelstand zu beseitigen, wenn es nicht gelingt die Kulturkräfte Russlands selbst zu heben, und dem Handel solche Produkte des Landes zur Verfügung zu stellen, wie deren das Ausland in größerem Umfange bedarf. Die Produktionskosten dieser Landeserzeugnisse stellen sich im Vergleich zu ihrem Handelswert zu hoch, denn der Mangel an genügenden Kulturkräften tritt hier hindernd in den Weg; es fehlt an Eisenbahnen und billigen Kommunikationsmitteln, um die Erzeugnisse der inneren Gouvernements nach den oft weit entfernten Emporien des Handels zu verfrachten, und auch die Qualität der russischen Exportware entspricht nicht immer den Bedürfnissen der Käufer. Letzteres ist teilweise die Folge einer gewissen Unsolidität, die hin und wieder den russischen Exporteuren anhaftet, und welche einem lebhaften Handelsverkehr mit dem Auslande oft hindernd entgegen tritt. Ehe die Exportware in die Hand des Exporteurs gelangt, geht dieselbe oft, ja in der Regel durch die Hände von drei bis vier Zwischenhändlern, die ebenfalls ihren Nutzen ziehen wollen, und die sie gewissermaßen erst marktgerecht machen, da hierzu der Urproduzent sich nur in seltenen Fällen versteht. Russland könnte noch zwei und drei Mal so viel produzieren als es gegenwärtig tut, ja es müsste auch seine Produktion den Bedürfnissen der europäischen Konsumation anpassen. Geschieht dies, erst dann wird Russlands Handel zu einem wahren Welthandel werden, dann wird er aus der Passivität in die für das finanzielle Gleichgewicht Russlands so unerlässliche Aktivität treten. Dieses Ziel lässt sich aber nur durch eine nachhaltige Hebung der russischen Landwirtschaft erreichen, denn der gesamte Export-Handel Russlands beruht lediglich auf den Rohprodukten des Landes, oder auf solchen Fabrikaten, wie Talg, Flachs, Hanf, Pottasche, Teer etc., die ebenfalls auf dem Vorhandenfein landwirtschaftlicher Rohstoffe basieren.

Russlands Industrie kann bis jetzt nur unter dem Schutze eines starken Prohibitivsystems bestehen, dessen Aufrechterhaltung man heute lauter befürwortet als je. Diese durch alle möglichen künstlichen Mittel groß gezogene Industrie bildet gewissermaßen den Angelpunkt, um welchen sich alle volkswirtschaftlichen und kommerziellen Maßregeln drehen. Man fürchtet sich, die Frucht einer hundertjährigen, opferreichen Anstrengung zu verlieren, wenn man dem frischen Strom einer durch keine Schutzzölle beengten Handelsbewegung in Russland Eingang gestattet, man fürchtet, dass mit dem Aufhören der Schutzzölle die Bilanz des russischen Handels nicht auf 40 sondern auf 80 Millionen herabsinken möchte. Die Ursache dieser allerdings wenig erfreulichen Verhältnisse liegt nicht in der Unmöglichkeit, Russland zu einem Industriestaat zu machen, sondern in der falschen Richtung, die zum Teil wenigstens die russische Industrie eingeschlagen hat. Würde letztere sich vorzugsweise mit der Verarbeitung der in Russland massenhaft auftretenden Rohprodukte besaßen, die Fabrikate aber genau den Bedürfnissen der Konsumenten des In- und Auslandes anpassen, würden namentlich die russischen Fabrikate sich hinsichtlich ihrer Solidität und Gleichmäßigkeit mit den ausländischen Fabrikaten derselben Art messen können, so ist kein Grund vorhanden, warum nicht auch die russischen Fabrikate ins Ausland gehen und die Konkurrenz daselbst aushalten sollten, da der Rohstoff in Russland billiger als im Auslande, die Arbeit aber mindestens nicht teurer ist.

Der russische Industrielle will noch auf einmal zu viel verdienen, er begnügt sich nicht mit einem kleinen, aber öfter wiederkehrenden Gewinn, er legt noch zu wenig Wert darauf, nur gute vollkommen entsprechende Rohstoffe zu verarbeiten und sieht mehr auf Billigkeit als auf Qualität, und daher kommt es auch, dass seine Fabrikate nicht gleichmäßig sind, das eine Mal gut, das zweite Mal schlecht. Nichts schadet aber dem Absatz einer Ware mehr, namentlich dem Absatz ins Ausland, als deren Ungleichmäßigkeit. Würde sich die russische Industrie hauptsächlich nur mit der Bearbeitung der in reicher Fülle im Laude erzeugten Rohprodukte besaßen, so würde sie nicht nötig haben die Quantität der Qualität vorzuziehen, denn sie hätte unter den ihr massenhaft zur Verfügung stehenden Produkten nur auszuwählen. Sie würde dadurch gewissermaßen zur Führerin und zugleich auch zur Beschützerin der Landwirtschaft.

Bauernhochzeit

Bauernhochzeit

Drohsky-Fahrer bei der Teepause

Drohsky-Fahrer bei der Teepause

Brennholztransport auf dem Ladoga-See. Im Hintergrund die Festung Schlüsselburg.

Brennholztransport auf dem Ladoga-See. Im Hintergrund die Festung Schlüsselburg.

Eine Troika

Eine Troika

Russicher Bauer in Wintertracht

Russicher Bauer in Wintertracht

Russische Parlamentaria beim Verlassen der Duma

Russische Parlamentaria beim Verlassen der Duma

Das heutige Russland

Das heutige Russland

Russisches Sittenbild

Russisches Sittenbild

Russisches Kaiserpaar in historischen Kostümen

Russisches Kaiserpaar in historischen Kostümen

Russischer Dorfmusikant

Russischer Dorfmusikant

Eine Großrussin

Eine Großrussin

Volksleben in Petersburg

Volksleben in Petersburg

Russischer Geistlicher

Russischer Geistlicher

Auf dem Vieh- und Fleischmarkt in St. Petersburg

Auf dem Vieh- und Fleischmarkt in St. Petersburg

Mutterliebe

Mutterliebe