Zwölftes Kapitel - Die Rettung in die Gemütlichkeit, die Ableugnung der großen Dinge, ...

Die Rettung in die Gemütlichkeit, die Ableugnung der großen Dinge, das Sichblindstellen, das Nichthinaussehenwollen über den Rand der Kaffeetasse oder den Boden des Bierseidels ist vielleicht nichts anderes als Furcht vor den großen Konflikten, die das Zusammenleben von ausgeprägten Persönlichkeiten mit sich bringen muß.

ARTHUR SCHOPENHAUER wurde der Philosoph des Pessimismus. Die Vorbedingung dazu lag eigentlich schon in seiner Kindheit begründet.


Da ist zuerst der Vater: Heinrich Floris Schopenhauer. Danziger Handelsherr und Patrizier. Viel älter als die Gattin. Despotisch, launenhaft, verschlossen. Jedoch voll höchster Rechtlichkeit. Die kulturelle Steifheit und die Einseitigkeit der englischen Lebensform ist ihm die einzig gültige.

Er begleitete die Seinen nur die kürzeste Strecke ihrer Lebenswege. Der plötzliche Tod des großen Handelsherrn erregte damals größtes Aufsehen und traf auch die Seinigen ganz unvermutet: er stürzte aus einem hochgelegenen Speicherfenster seines Geschäfts in den Kanal; sein Tod konnte nur freiwillig gewesen sein. Nirgends jedoch findet sich die mögliche Ursache des Freitodes dieses Verschlossenen irgendwo notiert oder auch nur durchscheinbar. Man könnte vermuten, daß es «nichts anderes» gewesen als die gleiche Verneinung, die sein Sohn in ein philosophisches System bringen sollte. Er hinterließ die Seinen in stolzer Vermögenslage.

Johanna, seine Frau, wurde erst später die berühmte Schriftstellerin. Aber sie war immer ebenso anmutig gewesen wie selbstgefällig. Sie gab ihren Kindern Kuchen statt Brot, Geselligkeit statt Beisammensein, Worte statt Antwort. Die Kinder der Frau Rätin Goethe oder der einfachen Ernestine Voß hatten es glücklicher. Und doch so einfach abgetan war auch dies nicht. Die Kompliziertheit lag in den Gegensätzen. Jeder hier war «eine Welt für sich». Johanna, real, lebensgenießerisch und optimistisch bis zur Leidenschaft, in ihrer Eigenart ein durchaus wertvolles Ganzes, wie jeder persönliche Mensch, war auch der vollkommene Gegensatz ihrer Tochter Adele. Diese war der Liebling Goethes, nicht nur aus Nachbarschaft der Hausgiebel, sondern im tiefen Sinn seines Faustwortes: «Den lieb ich, der Unmögliches verlangt.» Adele suchte beständig das Unauffindbare in allen, die sie liebte. Und sie schwärmte, anbetete und liebte immer. Sie eigentlich war der Mahlstein zwischen Mutter und Sohn, zwischen Optimismus und Pessimismus.



Denn ein noch größerer Abstand trennte die Mutter vom Sohn, dessen finsteres Wesen, dessen scharfe, nicht beschönigende Beobachtungskraft ihr von früh an unbehaglich war.

Obwohl es Johanna gewesen, der es zu danken war, daß Arthur Schopenhauer die Kaufmannslehre mit dem Studium tauschen durfte, hat später nicht der geringste mütterliche Instinkt Johanna ahnen lassen, daß hinter der schwierigen Ungewöhnlichkeit des Sohnes Größe stecken könne. Arthurs Schroffheit war der geistvollen Schriftstellerin ebenso unbequem, wie es jeder biederen Bürgerfrau gewesen wäre. Sie verbat sich das «leidige Disputieren, Lamentieren über die dumme Welt», die «im Orakelton gesprochenen Einwendungen, die bizarren Urteile», weil sie «ihr immer eine schlechte Nacht und üble Träume machen und sie gern gut schläft».

Umgekehrt mögen die schöngeistigen Gespräche an der Mutter Teetisch ähnlich aufreizend gewirkt haben auf den zu schroffem Pessimismus so überragend Veranlagten. In «sein Fach» gehörte nun einmal nicht «der ewig mit aufgesperrtem Maul lachende und jachternde frivole Ton des Tees».

Drei Menschentypen unbedingt seltener Kostbarkeit als einzelne gesehen, jedoch sich katastrophal auswirkend innerhalb der bürgerlichen Familiengewalt. Noch war es nicht die Zeit der Kompromisse. Die Flucht in das «Alles verstehen heißt alles verzeihen», der Weg ins duldsame Spießbürgertum war noch unbekannt.

Adele schreibt von einer Reise: «Das Resultat meiner Reise ist die heiterste Befriedigung, zugleich das Anerkennen, wie viele Mädchen und Frauen auf gleicher Geistesstufe mit mir stehen.» Des Vaters letzter Brief an den sechzehnjährigen Sohn ist der folgende:

«Und was das Geradegehen- und Sitzen betrifft, so rate ich Dir, jedweden, der mit Dir umgeht zu bitten, Dir einen Schlag zu reichen, wenn Du gedankenlos ob dieser großen Sache Dich antreffen läßt. So haben Fürstenkinder verfahren und nicht den Schmerz gescheut für wenige Zeit, bloß um nicht als Tölpel ihr Leben lang zu erscheinen ... Du wirst mit Deiner lieben Mutter und Schwester in der Mitte des Dezembers das gute Danzig verlassen und so noch mehr als drei Monate darinnen verlebt haben. Vom tanzen und reiten kann man nicht leben als Kaufmann, dessen Briefe gelesen werden sollen und folglich gut geschrieben werden müssen. Hin und wieder finde ich die großen Buchstaben Deiner Schreiberei noch immer wahre Mißgeburten, besonders im Teutschen welches als Deine Muttersprache Dir keines einzigen Fehlers in der Handschrift zeihen müßte. Es ist ganz gut, daß Du in Danzig konfirmiert werden wirst, hier aber noch Morgens die Vorlesungen des Herrn Runge in der Theologie anhören und stets Dich bescheiden, sittlich und fleißig betragen. Adieu.

Heinrich Floris Schopenhauer.»

Als Arthur der Mutter seine Doktorarbeit überreicht – «Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde» –, macht die Mutter einen Witz. Sie fragt, ob dies etwas mit Zahnarzt zu tun hat?

Aber einstmals, als Johanna den Sohn unter dem Herzen trug und das erste Mal in Frankfurt war, schreibt sie:

«Hier in Frankfurt weht ein Hauch vaterländischer Luft mir entgegen. Alles erinnert mich an Danzig und das dortige reichsstädtige Leben.»

Das war die Stadt, die des Sohnes Wahlheimat werden sollte und seine Grabstätte umschließt.

Mitfühlendes Erschrecken für Mutter und Sohn überläuft uns, wenn wir vergebens nach einem Zeichen suchen, daß beide jemals ihren tiefen Zusammenhang gespürt haben. Ihr persönliches Leben war Mißverständnis. Der Alltag besiegte Instinkt und mystische Bindung.

Zwischen den Wänden, die hinter der geblümten Tapete von Johannas berühmtem Salon lagen, in dem sich die geistige Elite Deutschlands traf, wo Goethe Wandschirme klebte und Reimspiele aufgab, herrschte selten Frieden, Freude und Festigkeit. Der Hausfreund brachte Beunruhigung jeder Art. Adele, stets im Überschwang irgendeines Gefühls oder Wunsches schwankend, mit geheimen Heiratswünschen neben der umschwärmten Mutter alternd, wurde stets zwischen leidenschaftlicher Liebe und Abneigung zur Mutter hin und her geworfen. Erst im späten Alter Johannas, als Adele selbst einsam, abseitig und unjugendlich geworden war, überwog die Liebe, die nirgends sonst eine bleibende Herzensstätte gefunden hatte.

Die «frei lebende» Johanna war immer beobachtet. Tagebuchaufzeichnungen der Tochter unter gleichem Dach oder ungehemmte Briefergüsse dieser an Ottilie, die Schwiegertochter Goethes, geben ihr Leben preis wie den Wetterstand eines Barometers. So können wir auch aufs intimste genau die schwere Stunde miterleben, die Mutter und Sohn für immer trennen sollte. Adele schreibt:

«Arthur bot der Mutter an, sein Vermögen mit uns zu teilen, er bediente sich aber in Hinsicht auf den Vater ungeziemender Ausdrücke. Ich meinte, Taten sprächen mehr als das Wort, ich verstand ihn und die Mutter nicht. Sie fand den Brief, las ihn unvorbereitet, und eine gräßliche Szene erfolgte. Sie sprach von meinem Vater – ich erfuhr die Schrecknisse, die ich geahndet, sie war so außer sich, daß weder Bitten noch Anerbieten meines ganzen Erdenreichtums sie zu einem freundlichen Worte, zur Überzeugung meiner Liebe bringen konnten. Ihre Ansichten, ihre Gefühle konnte ich nicht teilen; endlich, als sie mich durchaus nicht anhörte, reizte mich das offene Fenster mit unwiderstehlicher Gewalt! Sterben war ein Spiel gegen die Riesenlast des Lebens – aber als ich den entsetzlichen Drang in mir fühlte, gab mir Gott Besinnung und Kraft. Dennoch brachte mich die Härte der Mutter gegen Arthur, ihr Starrsinn, die Unmöglichkeit, sie zu überzeugen, daß meine Seele rein von jeder Anklage gegen sie, zu einer Verzweiflung, die in lautes Schreien und Weinen ausbrach. Ich lag weinend, vergehend auf der Erde – nirgend einen hellen Punkt. Alles dahin! Und nicht einmal das Glück erkauft, daß sie mir mild und ruhig traut, daß sie einsieht, daß ich sie liebe. Jahre löschen den Eindruck nicht aus, den Tag habe ich vergessen, die Worte gellen mir noch schmerzend in den Ohren.»

So steht über allem sichtbar oder versteckt hinter allem die grausame Feindschaft zwischen Mutter und Sohn. Johanna schreibt selbst, daß dieses unglückselige Verhältnis ihr ganzes Leben vergiftet habe.

Die äußere Ursache dazu war eigentlich allergewöhnlichster Art. Der Bankrott des Bankhauses, dem das Schopenhauersche Vermögen anvertraut gewesen, drohte schweren materiellen Verlust zu bringen. Man bemühte sich zu retten, was zu retten war. Arthur mißtraute jedem, sogar Mutter und Schwester verdächtigte er aufs ungerechteste. Immerhin, sein Blick war schärfer gewesen, was das Praktische der Angelegenheit anging. Er war es schließlich, der sein Vermögen rettete und sein Leben lang unabhängig bleiben konnte, während für den Lebensunterhalt von Mutter und Tochter Johannas Feder nun tüchtig mitarbeiten mußte. Sie zeigte sich tapfer bis zuletzt. Aber selbst der Tod der Mutter brachte keine Versöhnung in des Philosophen Gemüt. Weniger als das. Noch vierzehn Jahre nach dem Heimgang der Mutter war der unversöhnliche Sohn imstande, über ein gedrucktes Urteil, das die Mutter als Frau wie als Schriftstellerin verunglimpfte, lachen zu können und «diese Charakteristik vortrefflich zu finden».

Er, der das Wort geprägt, daß Mitleid das edelste der Gefühle. Er, der, als ihm sein Pudel stirbt, an den Freund schreibt: «Meinen teuren, lieben, großen, schönen Pudel habe ich verloren: er ist vor Altersschwäche gestorben, nicht ganz zehn Jahre alt. Hat mich inniglich betrübt und lange.»

Er, der noch in seinem Testament in besonders sorgfältiger und rührender Weise mit ausführlicher, fürsorgender Einzelbestimmung seiner Hunde gedenkt.

Vergaß der Sohn, daß er zwanzig Jahre vor der Mutter Tode nach einem Schweigen von achtzehnjähriger Dauer plötzlich an sie geschrieben, um ihr zu sagen, daß sein Bart ergraut wäre, daß gottlob niemand auf seine einsame Stube käme, die er nun zwei Monate nicht verlassen habe? Hatte er dies Schreiben vergessen?

Er wird es nicht vergessen haben. Denn die Antwort hierauf war wieder nichts anderes gewesen als einige geschickte und gefühlvolle Redewendungen, aufrichtend und belehrend, wie sie eine Mutter in den Frauenromanen damaliger Zeit geschrieben hätte.

Eine Mutter hatte einen gewaltigen Augenblick nicht begriffen und ihn verpaßt. Des Sohnes Haß war unerfüllte Zärtlichkeit gewesen. Das Ungetüm Alltag hatte sie alle besiegt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die gute alte Zeit.