Zweites Kapitel - Der Stammbaum des Bourgeois beginnt bei den roten Pfählen der Guillotine...

Der Stammbaum des Bourgeois beginnt bei den roten Pfählen der Guillotine. Die Gemütlichkeit erwuchs aus blutigem Boden.

Die Revolution am Schluß des 18. Jahrhunderts schuf nominell und allgemein sichtbar den Bourgeois. Daß sein eigentlicher Ursprung viel weiter zurücklag, beweisen MOLIERES Werke. Sein «Geizhals», sein «Eingebildeter Kranker» und sein «Tartüff» sind die Vorfahren des unsterblichen Spießbürgertyps aller Nationen. Molières Genie hatte sie aufgespürt unter Perücke und Ungewaschenheit und auf die Bühne gestellt, nicht richterlich streng, sondern mit dem ganzen Charme altfranzösischer Heiterkeit und der weisen Überlegenheit des Humors. Alle bürgerlichen Stände wurden gefoppt von ihm, dem unbürgerlichsten «Fahrenden», dem Komödianten, Spaßmacher und Dichter, dessen Genie die Kritiker seiner Zeit keineswegs anerkannten, «weil er ein Spaßvogel war, der allem Volk gefiel», der von seiner eigenen Frau betrogen wurde mit jenen «vornehmen Herren der höheren Stände», der von den Kammerdienern Fußtritte erhielt und nächsten Tages doch mit dem König selber speiste, der in den Sielen seines Berufs starb, in der vierten Vorstellung seines «Eingebildeten Kranken», seines letzten Stückes, wo er mit einem Blutsturz zusammenbrach. Das war mehr als hundert Jahre früher, als man die Guillotine errichtete, bei deren Schreckensarbeit die Zuschauer Süßigkeiten und Backwerk knabberten, Wein und Limonaden tranken, die von den fliegenden Händlern wohlfeil und in Massen angeboten wurden. Man könnte sagen, der Place de Grève, der heutige Place de la Concorde, auf dem die Guillotine ihr Schreckenswerk verrichtete, war der erste schauerliche Rummelplatz bürgerlicher Volksunterhaltung. Denn auch die Guillotine selbst ist ein Beweis für die Dämonie, die zwischen dem Ursprung unserer Handlungen und ihrem Weiterwirken waltet. Guillotin, ihr Erfinder, war ein Philanthrop und war bemüht gewesen, eine möglichst schmerzlose Hinrichtungsart zu erfinden. Am 10. Oktober 1789 führte der große Menschenfreund seine praktische Erfindung in einer Sitzung der Nationalversammlung en miniature vor. Das niedliche Instrument gefiel allen. Es wurde sofort Modenovität der Aristokratie. Die Damen trugen goldene zierliche Guillotinen als Ohrgehänge und Vorstecknadeln. Bei den Festessen hatte man auf den feingedeckten Tafeln kleine Guillotinen stehen, um Würste, Geflügel oder Fische damit zu köpfen. Auch auf der Bühne bereicherte sie den Schmuck der Ausstattungsstücke. Im Weihnachtsmonat 1789 war der Clou eines neuen Ballettes in Paris, daß die vier Haymonskinder auf offener Szene ihren Kopf durch die Guillotine verloren. Unter den lachenden Zuschauern war vielleicht mancher, der dieses drollige Instrument auf andere Weise kennenlernen sollte. Kaum drei Jahre später, zur Frühlingszeit, stand die Guillotine mitten in Paris, in voller Tätigkeit.


Immer tanzt die Zukunft schon in irgendeiner Maske durch die Gegenwart. Nur zu oft verkündet sich kommende Tragik im Spiel heiterster Formen.

Das Schauspiel Geschichte läßt seine tragischen Konflikte gern durch eine «heitere Person» anonym voraussagen. Ein Beweis dafür sind Beaumarchais und sein Werk: «Die Hochzeit des Figaro».

Beaumarchais, der Spekulant, der Prozesseur, der immer auf der Woge Zeit Schwimmende, ist ein echtes Beispiel auf dem Weg der bürgerlichen Entwicklung, noch ein Abenteurer, aber nicht schon gehemmt, sondern noch gefördert durch jene Eigenschaften, die in kommenden friedlicheren Zeiten die Schwächen des Spießbürgers werden sollten. Das Leben Beaumarchais' war eine Serie von Gegensätzen. Als Uhrmacher, Waffenhändler, Schiffsbauer, Verleger (und zwar veranstaltete Beaumarchais die erste französische Gesamtausgabe von Voltaires Werken in einer Riesenauflage, die aber ein buchhändlerischer Mißerfolg wurde, obwohl man Voltaire später als den «Dämon der Revolution» zu kennzeichnen versuchte), als Literaturkünstler und als Gatte zweier reicher Witwen wurde er auf Umwegen und mit manchem Seitensprung zum Millionär. Nichts Humorvolleres, als daß das Dichtwerk dieses Mannes es war, das die Revolution entzündete. Die «Hochzeit des Figaro», die 1781 zum ersten Male auftauchte, wagte ohne Beschönigung, aber mit der gefährlichen Waffe des Witzes die lockeren Lebensformen des französischen Adels zu geißeln. Es zeigte frech und grell die anmaßende Willkür der Höhergeborenen gegen das Bürgertum. Witz ist gefährlicher, als sich mancher bewußt ist. Die ahnungslose Königin Marie Antoinette amüsierte sich köstlich, als sie das Stück vorgelesen erhielt. Der König war ein wenig sensibler. Figaros Monolog im fünften Akt, der das erste Revolutionsmanifest genannt werden könnte, ließ ihn ausrufen, daß dieses Stück abscheulich sei und niemals aufgeführt werden dürfe. Hier würde alles verhöhnt, was an einer Regierung zu respektieren wäre. Wollte man die Erlaubnis geben, dieses Stück aufzuführen, müßte man als nächste Konsequenz die Bastille zerstören. Marie Antoinette plädierte für die Aufführung des Stückes, der König schrie heftig: «Nie!» Auch ein König soll niemals «Nie» sagen, zumal wenn er so schwach ist, wie es Ludwig XVI. gewesen.

1784 wurde die «Hochzeit des Figaro» in der Comédie Française aufgeführt und mit beispiellosem Erfolg aufgenommen. Ihr Verfasser verdiente in wenigen Monaten über fünfzigtausend Franc. Einen großen Betrag der Summe spendete Beaumarchais den Armen von Paris. Im Schloß veranstaltete man Liebhabervorstellungen, in denen die Königin mitspielte, der Comte d'Artois und Mgr. de Vaudreuil. Abend für Abend reizte das Werk des Herrn Beaumarchais die Menge mehr auf, er selbst baute sich in jenen Zeiten ein Palais übertriebener Eleganz gegenüber der Bastille.

Das Jahr 1792 schaffte einen unheimlichen Ausgleich zwischen diesen Gegensätzen. Trotz aller seiner Wohltätigkeiten, mit

denen sich Beaumarchais beliebt zu machen versuchte, hielt die wütende Menge jemanden, der von seinem Fenster aus dem Sturm auf die Bastille behaglich zusehen konnte, für einen «Aristokraten». Man drang in sein Haus, zerstörte, was zu zerstören war, Beaumarchais mußte fliehen. Es bleibt ein Wunder, daß er der Guillotine entging.

Er war nach Hamburg geflohen, ein Dreiundsechzigjähriger. Er mußte die Sorge kennenlernen, aber er verlor nicht seine Beweglichkeit. Es gelang ihm 1796, wieder nach Frankreich zurückzukehren. Er spekulierte, prozessierte weiter, so gut es noch gehen wollte. Sein Schwiegersohn wurde einer der geachtetsten Bourgeois von Paris. Beaumarchais' letzte Jahre waren friedlich-gemütlich, er nannte sich selbst «einen guten Greis, dick, fett und grau». Er starb ganz plötzlich in einer Mainacht im Jahre 1799. Er hatte mit einem Lustspiel die Revolution heraufbeschworen. Er hatte den Text geliefert zu den beiden heitersten Opern: «Die Hochzeit des Figaro» und «Der Barbier von Sevilla», von denen man wohl sagen kann, daß die Welt schöner geworden, seit sie darauf sind. Beaumarchais' pfiffiges Lächeln überbrückt das Jahrhundert der Abenteuer mit dem des Biedermeiers.

Es muß daran erinnert werden, daß vor und zwischen diesen Menschen und Zeiten ROUSSEAU schon gelebt und gewirkt und sein Erziehungswerk «Emile» geschrieben hatte, Rousseau, der sozusagen als der Erfinder der Selbstbiographie angesehen werden kann, als erster Selbstbespiegler kleinmenschlicher Eigenschaften. Wir können es heute nicht mehr verstehen, daß seine Werke ein so heftiges Für und Wider hervorrufen konnten, daß sie in Paris und Genf öffentlich verbrannt wurden, daß Rousseau darum verhaftet werden, sein Vermögen konfisziert werden sollte, daß er in die Schweiz hatte fliehen müssen.

Uns scheint an seinem Erziehungswerk «Emile» nur merkwürdig, daß dieser Mann, der die ganze Kindererziehung umzuwälzen versuchte, seine eigenen Kinder ins Findelhaus gebracht hatte. Es macht uns seine Gesinnung verdächtig, es scheint uns das Geschwollene seines Stils zu erklären.

Von diesem Standpunkt aus liest man nicht ohne kleine Nebennachdenklichkeiten Bemerkungen wie etwa folgende:

«Der Reiz des Familienlebens ist das beste Gegengift gegen den Verfall der Sitten. Der fröhliche Lärm der Kinder, denman für störend und lästig hält, wird mit der Zeit angenehm, er macht Vater und Mutter einander unentbehrlicher, einander lieber; er knüpft das eheliche Band, das sie vereinigt, enger und fester. Wenn ein Geist gegenseitiger und lebhafter Zuneigung die Familienglieder aneinander kettet, dann bilden die häuslichen Sorgen die liebste Beschäftigung der Frau und den angenehmsten Zeitvertreib des Mannes.»

Und selbst auf die bravste, einfachste Mutter und gerade vielleicht auf solche wird als lustige Spießbürgerbetrachtung folgende ernsthafte Belehrung wirken:

«Wenn ein Kind fällt, sich eine Beule an den Kopf stößt, Nasenbluten bekommt oder sich in den Finger schneidet, werde ich ihm durchaus nicht mit bestürzter Miene sofort zu Hilfe eilen, sondern mich eine Zeitlang ruhig verhalten. Das Übel ist einmal geschehen, das Kind muß den Schmerz aushalten. Im Grund genommen wird der Schmerz, den man bei einer Verletzung empfindet, weniger von der Wunde als von der Furcht erregt, die uns der Anblick derselben einflößt. Sieht das Kind mich unruhig herbeieilen, um es zu trösten und zu beklagen, so wird es sich für verloren halten; sieht es mich dagegen meine Kaltblütigkeit bewahren, so wird es auch die seinige bald wiedergewinnen. Unter solchen Erfahrungen entwickelt sich schon in diesem Alter (zweijährig) in der Brust des Kindes Mut und Unerschrockenheit. Es hat fast den Anschein, als ob die Kinder nur klein und schwach sind, um diesen wichtigen Unterricht ohne Gefahr erhalten zu können ...»

Später die Abschnitte, die sexuelle Probleme berühren, unverhüllt und doch in unangenehm blumenhafter Sprachkünstelei (sowohl in «Emile» wie in der «Beichte»), verstärken unser Lächeln über einen Wolf im Schafspelz.

Die spätere Geschichte gewöhnte sich daran, Rousseau den «Patriarch» der Revolution zu nennen. Man kann es zugeben. Wenn man den Satz erweitert und dazusetzt: «... und der Bourgeoisie».

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die gute alte Zeit.