Dreiundzwanzigstes Kapitel - Der Spießbürger war nun komplett. Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts ...

Der Spießbürger war nun komplett. Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts war seine Glanzzeit. Alle Eigenschaften, alle Errungenschaften der vorigen Jahrhunderte, alle Nuancen der Zivilisation hatte er in das Netz seiner Behaglichkeit einbezogen.

Der Friede schien ein Dauerzustand zu werden. Das kleine Glück der großen Menge schien gesichert, soweit man über den Lebensrand hinaussehen konnte. Der Spießbürger war das Maß aller Dinge geworden.




Selbst für den Thron galt das. Man wußte den Herrschern nichts Rühmenderes nachzusagen als familiäre Bürgereigenschaften. Alle Wirklichkeit wurde in den Teig rührseliger Weichlichkeit gewickelt. Die alte Queen von England galt als die tugendfesteste Großmutter von Europa, obwohl manches Witzblatt sich erdreistete, dicht neben ihrer breiten gekrönten Figur die Whiskyflasche abzubilden.

Vom alten Kaiser von Deutschland mußte jedes Kind wissen, daß die blaue Kornblume seine Lieblingsblume war, daß er jeden Bindfaden, der in seine Hände kam, sorgsam zusammenrollte und aufbewahrte, daß er infolge seiner Hochbetagtheit schon hohe Regale von diesen Bindfadenendchen hatte füllen können. Über das Gesetz der Sozialistenverfolgung schienen dagegen auch die Witzblätter nur wenig zu wissen.

Selbst aus Attentaten wurde eine beinah gemütliche Angelegenheit für die Allgemeinheit gemacht. Die Schüsse trafen glücklicherweise nie. Die Aufregung über das Ereignis kennzeichnete sich im Plauderton. Man lese die Vossische Zeitung, die Sonntagsausgabe vom 12. Mai 1871:

«Ein Attentat auf den Kaiser ist am Sonnabend Nachmittag um 3 Uhr 25 Minuten in der Nähe des Hauses Unter den Linden Nr. 7 verübt worden. Als um diese Zeit der Kaiser mit seiner Tochter, der Großherzogin von Baden, im offenen Wagen an jener Stelle vorüberfuhr, schoß, hinter einer haltenden Droschke hervor, ein etwa 19-jähriger, zerlumpt gekleideter Mensch aus einem sechsläufigen Revolver auf den greisen Monarchen, traf zum Glück aber nur den Wagen; ein zweiter und dritter Schuß fehlten. Nun ergriffen der Verbrecher und ein zweiter, fein gekleideter Mann, der dem Anschein nach zu ihm gehörte, die Flucht nach der Mittelpromenade zu, verfolgt von dem Publikum. Der Kaiser fuhr noch etwa zwanzig Schritte weiter und ließ dann den Wagen halten, um der Verfolgung des Attentäters zuzuschauen. Einem Herrn Dittmann aus Charlottenburg, auf den der Attentäter einen vierten Schuß abfeuerte, der dicht an dem rechten Ohr desselben vorüberging, gelang es, den Verbrecher festzuhalten. Nur mit Mühe vermochten die schnell herbeigeeilten Schutzleute den letzteren vor einer Lynchjustiz zu bewahren. Die Mordwaffe wurde ihm von den Beamten entwunden, und der Attentäter zunächst nach der Wache des Revierpolizei-Büreaus transportiert. Von dort aus gingen sofort die erforderlichen telegraphischen Meldungen an Untersuchungsrichter und Staatsanwalt, sodaß bereits um 5 Uhr, als der Verbrecher und sein vermuthlicher Gehilfe nach der Stadtvoigtei gebracht waren, der Untersuchungsrichter, Stadtgerichts-Rath Hollmann, behufs Vernehmung der Verhafteten sich eingefunden hatte. Zu gleicher Zeit trafen auch die Photographen Zielsdorf und Adler, welchen das Photographiren aller Verbrecher übertragen ist, an Ort und Stelle ein.»

Das Kapital wuchs. Die Maschinen zerstäubten die seelischen Kräfte, die Freuden wurden hohler, oberflächlicher. Man begann alle tiefen Erregungen zu fürchten. Man wappnete sich gegen jede Tragik mit einem witzelnden Ton, der bald zur Umgangssprache der Gebildeten gehörte. Die Mutter der Frau wurde die «Schwiegermutter» der Witzblätter, das nicht verheiratete Mädchen die «alte Jungfer», der Ehebruch der internationale Lustspielstoff.



Gegen Erregungen jeder Art versuchte man sich zu schützen. Gegen den Anblick von Bettlern und Verarmten hatte man Vereine gegründet. Durch einen Jahresbeitrag, gezahlt an einen dieser Vereine, enthob man sein Gewissen vor jeder Mühe der Einzelleistung an Mitgefühl oder Beistand. Eiserne Schilderchen verkündeten, daß man Mitglied des Vereins gegen Bettelei sei und darum privat nichts gebe. Sie waren angebracht unter der Klingel, neben dem Namensschild und dem Haken, der für den Beutel für frische Brötchen da war, der dreimal des Tages gefüllt wurde.

Um so «billiger» alles wurde, um so «teurer» wurde jedem das eigene Leben. Die Ärztekunst kam zu neuer Blüte. Es begann der «Spezialarzt» in Erscheinung zu treten. Für jedes Organ ein eigener Arzt.

Wie sehr sich der Wohlhabende daran gewöhnt hatte, für alles einen Arzt aufzusuchen, und ebenso, wie er alles überwichtig nahm, was in seinem Umkreis vorging, beweist die kleine Anekdote von der reichen Dame, die sogar einen weltberühmten Arzt kommen ließ, als sich bei einem ihrer Goldfische Anzeichen einer ernsten Erkrankung zeigten, denn er schwamm kläglich auf einer Seite.

Der Professor bat, den Fisch durch seinen Diener holen lassen und den Patienten in Privatbehandlung nehmen zu dürfen. Er versprach der alten Dame sichere Genesung ihres Lieblings. Zu Haus ließ der Herr Professor den inzwischen verendeten Fisch durch einen neuen ersetzen, der aus einer nahen Tierhandlung besorgt worden war. Am anderen Morgen wurde der Goldfisch in seinem Glas zurückgeschickt, der Professor schrieb dazu: «Sie sehen, er ist wieder kreuzfidel geworden.»

Dieser Vorfall trug viel dazu bei, das Vertrauen an die ärztliche Kunst dieses in Wirklichkeit hochbedeutenden Mannes in den wohlhabenden Kreisen zu steigern ...

Es war eine Zeit, wo sich der Spießbürger nicht nach dem Paradies zu sehnen brauchte.

Von der «enormen Billigkeit» war man noch einen Schritt weiter gekommen. Man hatte sich in der Anpreisung bis zur «echten Imitation» verstiegen, eine Schutzmarke, die als sinnbildliche Bezeichnung für alles hätte angenommen werden können, das den Spießbürger anging.

Der «Stil» dieser «echten Imitation» wurde mit «Neurenaissance» bezeichnet. Der hatte mit der Renaissance der Medici nur gemeinsam, daß der Bankier der führende Geist auch dieser Epoche war.

Die Mahagonimöbel der letzten Bürgergeneration, die noch die Persönlichkeit des Herstellers wie des Besitzers gezeigt, verschwanden vorerst.

«Geschnitzte Eiche» war das Losungswort. Schnörkel, Verzierung, Vergoldung, ohne inneren Rhythmus, nur aus der Willkür äußeren Prunkenwollens geschaffen, mußten überall den schnell gewachsenen Reichtum beweisen. Häuserfassaden, Zimmerdecken strotzten vor «Stuck», ebenfalls vergoldet, verschnörkelt. Jedes Zimmer mußte an Wänden, in allen Ecken beweisen, daß man kaufen konnte, mehr als Platz gewesen wäre im weitesten Rund.

Die Industrie der «Nippessachen» blühte auf, der erste bürgerliche Zimmerschmuck, der nicht mehr das geringste Kunstgefühl oder auch nur eine Nuance von Ästhetik zeigte, Produkte, die ungewollt jene Spießbürgerepoche aufs grellste versinnbildlichen. Sie waren alle nutzlos, zeitraubend, geschmacklos.

Aschenbecher, Visitenkarten, Wandteller mußten als Symbole allgemeiner Wünsche herhalten, in der Form des glückbringenden Schweins, das der Deutlichkeit halber noch ein «echt imitiertes» Goldstück im Maul trug, imitierte Hundertmarkscheine unter Glas, imitierte Goldrollen, Hufeisen, Spielkarten, imitierte Blumen, imitierte japanische Fächer und imitierte Familienangehörige in Gestalt unpersönlicher Photographien, bei deren Aufnahmen der Kopf in eiserner Stütze kerzengrad hochgeschraubt war, die Gesichter immer lächelnd (das bekannte Losungswort des Photographen war «Bitte recht freundlich»), retouchiert zu unpersönlicher Glattheit.

Durch all diesen Zierat hindurch kam die Erfindung der Automobile, die man zuerst «Hexenkarren» und «Stinkkasten» titulierte. Nicht nur die Pferde scheuten davor.

Die elektrische Beleuchtung kam. Für den ersten Fachkongreß dieser neuen Möglichkeit hatte Edison den Saal, in dem der Kongreß tagte, mit elektrischen Glühlampen ausgestattet. Einer der größten Gelehrten hielt einen Vortrag über die Möglichkeit der elektrischen Beleuchtung. Er sagte: Wenn man künstliches Licht schaffen wolle, müsse man sich naturgemäß die Sonne zum Vorbild nehmen, es könne also nur von Bogenlicht die Rede sein. Er schloß seine Ausführungen mit den Worten: «Wir befinden uns hier zum erstenmal bei Glühlichtbeleuchtung; sehen wir sie uns sehr genau an, denn wir sehen sie zum ersten und wahrscheinlich auch zum letzten Mal.»

Aber auch das Wunder wurde wahr, daß der Mensch zu fliegen begann. Alles dies machte die Friedumsäumten nur selbstzufriedener, stärkte das Gefühl ihrer Wichtigkeit.

Der Musiker jener Epoche war RICHARD WAGNER. Seine Persönlichkeit könnte als synthetisches Standbild des ganzen Jahrhunderts genommen werden, dieses Jahrhunderts, dessen Anfang Hunger gewesen und dessen Ende Überfluß, dieses Jahrhunderts, das man das «wundervolle» genannt, das «glückliche», das «weiche», das «reiche», je nach der Epoche, die sein Chronist als die stärkste empfunden.

Wagner schreibt noch an seine erste Frau:

So bleibt denn immer nichts übrig, als zu hoffen, daß es einmal besser werde! Ich denke, es sollte endlich einmal dazu kommen, und viele Menschen auf dieser Welt hätten durch das, was ich ihnen biete, Veranlassung genug, auch mir einmal eine Freude und Erhebung zu bereiten. Der Eindruck, den Du von Lohengrin empfangen, hat mich sehr erfreut, und mehr als das: denn ich muß mir ja sagen, daß für so viele Beschwerden und Kümmernisse des Lebens, die Dir durch Deine Vereinigung mit mir bereitet worden sind, die Gaben meiner Kunst die einzigen mir möglichen Entschädigungen sind: nimm die erhebenden Eindrücke, von denen Du mir meldest, so auf, und bedenke, daß, wer das leistet, was ich leiste, hauptsächlich nur mit diesen Leistungen andren auch ihre Opfer lohnen kann. Liebe daher auch meinen Lohengrin; er gehört zu dem, was ich Dir einzig bieten kann! Und nun leb' wohl für heute; melde mir, ob Du das Geld richtig empfangen haben wirst, vertraue auf mich, wie auf das Schicksal; hüte Dich vor Anstrengungen! Besuche einmal wieder den Lohengrin, aber Niemand sonst, damit Du Dich nicht unnütz aufregst. Ganz allein, sage es Niemand, daß Du da bist! –

Und nun, Gott befohlen!

Dein
Richard.

Eine Bitte: –

Schicke mir sofort die Partitur vom Rheingold.
Gieb an Werth: 10 THALER.

Aber immerhin, schon damals ist Wagner der Mann, der sich nur im buntseidenen Schlafrock inspiriert fühlt, der sich jahrelang durch Fürstengunst tragen läßt und der am Schluß des Weges seinem eigenen Werk einen Tempel setzt in Bayreuth, von dem er sagt: «Daß ihm der Name Bayreuth das Liebste nennt, was ihm neben seiner Familie zuteil geworden.» Und der dort dem engen eigenen Reich entrinnend, die letzten Jahre seines Lebens unter einem venezianischen Palast birgt, dessen Glanz große Vergangenheit ausatmet. Eine Gondel führt ihn nächstens bei Fackelbeleuchtung aus der Welt der Lebenden ...

Schon hatte sich das Übermaß der spießbürgerlichen Macht in Zwiespalt zu teilen begonnen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die gute alte Zeit.