Die gute Mutter

Autor: Herausgeber: H. B. Wagnitz und Fr. Hesekiel, Erscheinungsjahr: 1829
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mutterliebe, französische Armee, Rheinarmee, 1797, Schweizer, Basel
Aus: Hallisches patriotisches Wochenblatt auf das Jahr 1829. Zur Beförderung nützlicher Kenntnisse und wohltätiger Zwecke herausgegeben von H. B. Wagnitz und Fr. Hesekiel.
29. Jahrgang, Band 1. 1829
Im Jahr 1797, als die französische Armee nach dem Rückzug aus Deutschland jenseits hinab am Rhein lag, sehnte sich eine Mutter in der Schweiz nach ihrem Sohn, der bei der Armee war, und von dem sie lange nichts erfahren, und ihr Herz hatte daheim keine Ruhe mehr. Er muss bei der Rhein-Armee sein, sagte sie, und der liebe Gott, der ihn mir gegeben hat, wird mich zu ihm führen; und als sie auf dem Postwagen zum St. Johannistor in Basel heraus und an den Rebhäusern vorbei ins Sundgau gekommen war, treuherzig und redselig, wie alle Gemüter sind, die Teilnehmung und Hoffnung bedürfen, und die Schweizer ohnedem, erzählte sie ihren Reisegefährten bald, was sie auf den Weg getrieben habe. Finde ich ihn in Colmar nicht, so gehe ich nach Straßburg; finde ich ihn in Straßburg nicht, so gehe ich nach Mainz. Die andern sagten das dazu und jenes, und Einer fragte sie: Was ist denn euer Sohn bei der Armee? Major? —

Da wurde sie fast verschämt in ihrem Inwendigen. Denn sie dachte, er könne wohl Major sein, oder so etwas, weil er immer brav war; aber sie wusste es nicht. Wenn ich ihn nur finde, sagte sie, so darf er auch weniger sein, denn er ist mein Sohn. Zwei Stunden herwärts Colmar aber, als schon die Sonne sich zu den Elsässer Bergen neigte, da trieben die Hirten heim, die Kamine in den Dörfern rauchten, die Soldaten in dem Lager, nicht weit von der Straße, standen partienweise mit dem Gewehr beim Fuß, und die Generale und Obersten standen vor dem Lager beisammen, diskutierten mit einander, und eine junge weißgekleidete Person vom weiblichen Geschlecht und feiner Bildung stand auch dabei, und wiegte auf ihren Armen ein Kind. Die Frau im Postwagen sagte: Das ist auch keine gemeine Person, dass sie so nahe bei dem Herrn steht. Was gilt es, der mit ihr redet, ist ihr Mann. Der geneigte Leser fängt allbereits an, etwas zu merken, aber die Frau im Postwagen merkt noch nichts. Ihr Mutterherz hatte keine Ahndung, so nahe sie an ihm vorbeigefahren war, sondern bis nach Colmar hinein war sie still und redete nimmer. In der Stadt im Wirtshause, wo schon eine Gesellschaft an der Mahlzeit war, und die Reisegefährten sich auch noch setzten wo Platz war, da war ihr Herz erst zwischen Bangigkeit und Hoffnung eingeengt, dass sie jetzt etwas von ihrem Sohne erfahren könnte, ob ihn Niemand kenne, und ob er noch lebe, und ob er etwas sei, und hatte doch den Mut fast nicht, zu fragen. Denn man ist in großer Angst, eine Frage zu tun, wo man das Ja so gerne hören möchte, und das Nein ist doch so möglich. Auch meinte sie. Jedermann merke es, dass es ihr Sohn sei, nach dem sie frage, und dass sie hoffe, er sei etwas worden. Endlich aber, als ihr der Diener des Wirts die Suppe brachte, hielt sie ihn heimlich an dem Rocke fest und fragte ihn: „Kennt Ihr nicht Einen bei der Armee, oder habt ihr nicht von Einem gehört, so und so?“ Der Diener sagt: Das ist ja unser General, der im Lager steht. Heut hat er bei uns zu Mittag gegessen; und zeigte ihr den Platz. Aber die gute Mutter gab ihm wenig Gehör darauf, sondern meinte, es sei Spaß. Der Diener ruft den Wirt. Der Wirt sagt: ,,Ja, so heißt der General;“ und auf ihre Frage antwortet er: „Ja, so alt kann er sein, und ja, so sieht er aus, und ist von Geburt ein Schweizer.“ Da konnte sie sich nicht mehr enthalten vor inwendiger Bewegung und sagte: Es ist mein Sohn, den ich suche; und ihr ehrliches Schweizergesicht sah fast ein wenig einfältig aus vor unverhoffter Freude, und vor Liebe und Scham. Denn sie schämte sich, dass sie eines Generals Mutter sein sollte, vor so vielen Leuten, und konnte es dennoch nicht verschweigen. Aber der Wirt sagte: Wenn das so ist, gute Frau, so lasst herzhaft eure Bagage abladen vom Postwagen, und erlaubt mir, dass ich morgen in aller Frühe ein Kalesche anspannen lasse, und euch hinausführe zu euerem Herrn Sohn in das Lager. Aber am Morgen, als sie in das Lager kam und den General sah, ja, so war es ihr Sohn, und die junge Frau, die gestern mit ihm geredet hatte, war ihre Schwiegertochter, und das Kind war ihr Enkel. Und als der General seine Mutter erkannte und seiner Gemahlin sagte: „das ist sie;“ da küssten und umarmten sie sich, und die Mutterliebe und die Kindesliebe, und die Hoheit und die Demut schwammen in einander und gossen sich in Tränen aus, und die gute Mutter blieb lange in ungewöhnlicher Rührung, fast weniger darüber, dass sie heute die Ihrigen fand, als darüber, dass sie sie gestern schon gesehen hatte. Als aber der Wirt zurückkam, sagte er: das Geld regne zwar nicht durch das Kamin herab, aber nicht 200 Franken nähme er darum, dass er nicht zugesehen hätte, wie die gute, Mutter ihren Sohn erkannte und sein Glück sah. –

Es ist die schönste Eigenschaft im menschlichen Herzen, dass es so gerne zusieht, wenn Freunde oder Angehörige unverhofft wieder zusammen kommen, und dass es allemal dazu lächeln, oder vor Rührung mit ihnen weinen muss, nicht ob es will.