Polens, Litauens, Kurlands und Finnlands Abtrennung — bedeuten noch keine Schwächung Russlands!

Wenn es in der Presse zu der Erörterung der Frage gewisser Gebietsabtrennung von Russland kommt, dann werden gewöhnlich nur die nordwestlichen Gebiete Russlands — Polen, Litauen, Ostseeprovinzen und Finnland — gemeint. Retrospektiverweise die Frage behandelnd, ist man gewöhnt, nur diese Länder als zentrifugale und zur Abtrennung reife Elemente Russlands anzusehen, ferner — unter der Suggestion der verflossenen Jahrzehnte stehend — ist man bereit, diesen Ländern eine allzu große Bedeutung für die Machtstellung Russlands zuzuschreiben. Da die optimistischen Vorurteile viel schädlicher als die pessimistischen zu sein pflegen, so ist es am Platz, die deutsche Öffentlichkeit vor der Überschätzung der Bedeutung des gesamten obengenannten Länderkomplexes für Russlands Machtstellung in Europa zu warnen.

Einige statistische Angaben werden uns einen Lichtstrahl auf die Frage werfen. Das in Rede stehende Gebiet (Polen, Litauen, Ostseeprovinzen und Finnland) ist ca. 600.000 km2 groß, bildet also mehr oder weniger den neunten Teil des europäischen Russlands, während sich die Bevölkerung desselben auf 23—25 Millionen Köpfe beläuft, was mehr oder weniger den siebenten Teil der Gesamtbevölkerung Russlands ausmacht. Nach der Abtrennung dieser Gebiete verbleiben bei Russland dennoch rund 4.720.000 km2 in Europa, dazu 16.710.674 km2 in Asien mit ca. 145 Millionen Bevölkerung, was bei dem Zuwachsprozent l,6% jährlich 2,35 Millionen des Bevölkerungszuwachses bedeutet.


Wie wir aus diesen Zahlen ersehen, ist die Abtrennung sogar von 25 Millionen Menschen von Russland noch keine erhebliche Schwächung seines Menschenreservoirs, geschweige seiner Kraft, da die in Frage stehenden Gebiete zu den von Natur aus ärmeren und von den Richtungslinien des russischen Expansionsdranges seitwärts gelegenen Gebieten gehören. Von der gesamten Produktion Russlands entfallen nämlich auf diese Gebiete folgende Bruchteile im Vergleich zu den Zahlen der Ukraine:

Produktionen Ganz Russland Polen und Nordwest-Russland im Prozentsatz
Zerealien. 3.834.000.000 Pud 352.000.000 Pud 9,18
Großviehstand. 90.000.000 Pud — —
Steinkohle 1.580.000.000 Pud 330.200.000 Pud 21,00
Roheisen 500.000.000 Pud 12.500.000 Pud 2,50
Salz. 113.000.000 Pud — —
Naphtha — — —
Zuckerrüben. 725.000.000 Pud — —
Tabak 5.714.000 Pud

Produktionen Ukraine im Prozentsatz
Zerealien. 1.495.000.000 Pud 39
Großviehstand. 30.700.000 St. — 33
Steinkohle. 1.196.000.000 Pud — 75
Roheisen. 352.000.000 Pud — 70
Salz. 66.500.000 Pud — 50
Naphtha.
Zuckerrüben. 500.000.000 Pud — 80
Tabak. 4.000.000 Pud — 70

Außer den Kohlengruben in Südwest-Polen, die — wie gesagt — 21% der Gesamtproduktion Russlands gegen 75% der ukrainischen Produktion liefern, und außer den baltischen Häfen, die auch nur einen relativen Wert besitzen, haben diese Gebiete für Russland keine ausschlaggebende wirtschaftliche Bedeutung, so dass ihre Abtrennung im Wirtschaftsleben Russlands gar nicht zu spüren sein wird, im Gegenteil: in gewisser Hinsicht sind die Länder lästig, indem dieselben mit dem ukrainischen Weizen genährt werden müssen. Die Gesamtzufuhr des ukrainischen Kornes in diese Gebiete belief sich auf zirka 70 Millionen Pud jährlich, da die sumpfigen und sandigen Gebiete der baltischen Seeplatte und des zu dem baltischen System gehörenden polnisch-litauischen Tieflandes wie auch das nordische Finnland sich keineswegs selbst zu ernähren vermochten. Ohne diese Gebiete also bleibt Russland wirtschaftlich ebenso stark, wie es jetzt ist und infolgedessen wird seine Machtstellung und militärische Kraft durch ihre Abtrennung nicht im Geringsten gefährdet.

Ein Blick auf die Karte Osteuropas genügt, um einzusehen, dass auch von dem geographisch-strategischen und vom politischen Standpunkt die Abtrennung der nordwestlichen Gebiete von Russland für dasselbe nicht entscheidend ist, indem es trotz allem seine militärische und politische Macht im Südosten Europas behalten wie auch — von Kijew ausfallend — Ostgalizien und die Ostkarpaten immer zu bedrohen imstande sein wird.

Die Geschichte Osteuropas gibt uns auch klare Weisungen in der Frage. Nicht durch die Einnahme der Ostseeküste wurde Russland aus dem moskowitischen Binnenreiche zu einer europäischen Macht, auch nicht erst durch die Teilung Polens an der Neige des 18. Jahrhunderts. Peter der Große hat diese Machtstellung fundiert und die Schlacht bei Poltawa (1709) war der Wendepunkt in der Geschichte Osteuropas. Die Niederwerfung der Ukraine eröffnete Russland den Weg sowohl nach Süden zum Schwarzen Meere (schon Peter der Größe besetzte Assow an der Donaumündung und wagte gegen die Türken in der Moldau zu kämpfen!) wie sie auch das Los Polens besiegelte, indem von Kijew her die ukrainischen Länder Polens (Podolien, Wolhynien, Pollisje, ja sogar Galizien) bedroht und nachher größtenteils annektiert wurden.

Die russische Expansionspolitik bewegt sich in Europa in zwei Richtungen: in der Linie Kijew-Lemberg-Budapest-Triest und in der Linie Kijew-Sebastopol-Konstantinopel-Dardanellen. Die erste Linie führt zur Adria und berührt unterwegs Galizien, Slowakei und die adriatischen Südslawenländer. Die zweite hat den Ausgang ins Mittelmeer und noch mehr die Beherrschung Vorderasiens bis zum persischen Meerbusen im Auge. Und für beide Linien ist nur Kijew der Ausgangspunkt und nur die Ukraine ist die Ausgangsbasis für beide. Die Abtrennung Finnlands, Kurlands, Litauens und Polens, ja sogar eines Teiles der Nordwestukraine beiderseits des Bug kann an diesem Expansionsdrang Russlands nach Süden gar nichts ändern und gar nichts gefährden, da die Basis dieses Expansionsdranges unversehrt in den Händen Russlands bleibt, ein russischer Vorstoß gegen Ostgalizien ebenso wie im August 1914 von Kijew aus ausführbar ist und über den Balkanstaaten wie auch über Konstantinopel ebenso die russische Gefahr hängt, wie es bis jetzt der Fall war.

Im letzteren Falle muss man sich befragen, welchen Wert die Länder für Deutschland haben könnten. Es wurde schon oben erwähnt, dass dieselben von solchen Völkern bewohnt sind, die in dem jetzigen Kriege eine durchaus russenfreundliche Orientierung an den Tag legten. Die Gründe und Ursachen dieser Erscheinung wurden schon im vorigen Kapitel dargelegt. Hier ist zu konstatieren, dass diese Gründe zu stark in dem kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnis dieser Länder zu Russland wurzeln, als dass dieselben durch die Tatsache der Abtrennung dieser Länder von Russland aufgehoben oder in ihrem Wirken gehindert werden könnten; im Gegenteil: ihrer wirtschaftlich-privilegierten Stellung in Russland verlustig, in der wirtschaftlichen Selbständigkeit von dem höher entwickelten Deutschland bedroht und in nationaler Hinsicht von dem Deutschtum gefährdet, werden die Gebiete nach ihrem Anschluss an Deutschland oder nach ihrem Anlehnen an Deutschland in der Form eines oder einiger halb selbständiger Staaten erst recht russophil, indem dieselben im wirtschaftlichen und politischen Anschluss an Russland ihre Rettung vor dem unmittelbar bedrohenden deutschen „Drange nach Osten“ suchen werden.

Aus dem Gesagten wollen wir keineswegs die Schlussfolgerung ziehen, dass Polen, Litauen und Kurland aufzugeben und den Russen zu überlassen sind. Nach den schon vollendeten Tatsachen wäre es ja lächerlich, so etwas zu meinen. Unsere Absicht ist, nur darauf aufmerksam zu machen, dass die Eroberung dieser Länder nur ein Vorspiel zur wirklichen Schwächung Russlands sein kann, ein Vorspiel, welches aus geographischen und militärischen Rücksichten eben nicht zu vermeiden war.