Ein gefahrvolles Projekt.

Das schwache Vertrautsein der Deutschen mit den osteuropäischen Verhältnissen, insbesondere mit der ukrainischen Frage, wird von gewissen politischen Kreisen ausgenützt, um die Ansichten der Deutschen über die Länder des östlichen Kriegsschauplatzes zu verdunkeln und der deutschen Öffentlichkeit solche Kriegsziele im Osten zu unterschieben, die zwar beim ersten Blick einen gewissen Schein von Möglichkeit und Zweckmäßigkeit haben, im Grunde aber große Gefahren eben für Deutschlands Interessen in sich bergen. Es wurden nämlich in der jüngsten Zeit von polnischer Seite einige autoritative und einige zwar weniger autoritative, aber umso mehr symptomatische, charakteristische Publikationen und Erklärungen veröffentlicht, die jedenfalls einer Beantwortung bedürfen. So hat Herr Ignaz Daszynski, polnisch-sozialistischer Reichsratsabgeordneter und Vizepräsident des polnischen Nationalrates in Österreich (welcher Nationalrat eigentlich nur die Minorität der österreichischen Polen und eines verschwindenden Teils der russischen Polen repräsentiert, indem weder die russophilgesinnten Allpolen und ebenso gesinnten ostgalizischen Konservativen, die zwei größten und ausschlaggebenden westgalizischen polnischen Parteien in Österreich, noch die Stapinskische Bauernpartei, noch die größten Parteien Russisch-Polens, zu dem Nationalrate angehören!) in einer schwedischen Zeitung ein Interview veröffentlichen lassen, in welchem er das ukrainische Cholmer-Land an das zu schaffende polnische Reich kurzweg annektiert. Der Präsident desselben polnischen Nationalrates, Herr Dr. Ladislaus v. Jaworski, hat wiederum in einer offiziellen, namens dieses Nationalrates abgegebenen Erklärung ganz Ostgalizien (also wiederum ein ukrainisches und dazu an Österreich angrenzendes Gebiet!) für den von ihm vorgeschlagenen polnischen Staat beansprucht.

Noch weiter gingen die bekannten Publizisten, Leon Wasilewski *) und Ladislaus S. Studnicki **), indem dieselben für ihren polnischen Zu¬ kunftsstaat nicht weniger als das gesamte Gebiet bis West-Düna im Norden, bis zum Dniepr im Osten und Dniestr und Boh im Süden — d. i. nicht nur ganz Russisch-Polen und ganz Galizien, aber auch die Gouvernements Cholm, Wolhynien, Podolien, Kijew, Mohyliw, Minsk, Grodno, Kowno, Wilna, Wilebsk, Kurland usw. beanspruchen, wobei die beiden Publizisten sich auf die Tatsachen stützen, dass das genannte Gebiet einst zum polnisch-litauischen Staate gehörte und dass es auf demselben eine teilweise polnische Großgrundbesitzergeschichte gibt. Beide genannten Publizisten begehen dabei die Unkorrektheit, dass sie alle römischen Katholiken in dem Gebiet für Polen halten, alle Juden ebenso zu polnischen Gunsten eskamotieren, andere bedeutende Nationalelemente dagegen — wie Ukrainer, Weißruthenen oder Litauer — tendenziös geringschätzen und ihre tatsächliche Kraft und Tendenzen fälschlich herabzusetzen oder zu verdrehen trachten.


*) Leon Wasilewski: „Die nationalen und kulturellen Verhältnisse im sogenannten Westrussland“. Wien 1915. Verlag der Wochenschrift „Polen“.
**) Wladyslaw R. v. Gizbert-Studnicki: „Die Umgestaltung Mitteleuropas durch den gegenwärtigen Krieg. — Die Polenfrage in ihrer internationalen Bedeutung“, Wien 1915. Verlag: Buchhandlung Goldschmidt.

Während Herr Wasilewski seinen Ausführungen wenigstens vor dem Auslande den Schein von Wissenschaftlichkeit zu geben versucht, ist Herr Studnicki — ein Allpole, Mitredakteur des berüchtigten Lemberger „Slowo Polskie“ — in seinen Fälschungen ganz ungeniert, indem er wahrscheinlich auf die Leichtgläubigkeit der Deutschen und die mit osteuropäischen Verhältnissen unvertrauten Leser spekuliert.

Außerdem werden polnischerseits auch im vertraulichen Wege an die maßgebenden Kreise Deutschlands und Österreich-Ungarns Denkschriften ähnlichen Inhaltes eingereicht, deren Ziel es ist in einer hinterlistigen und übertriebenen Weise die Polen als den einzigen staatsbildenden Faktor in Osteuropa darzustellen, dagegen womöglich und wie möglich nur die Bedeutung des ukrainischen Elementes herabzusetzen. Aus der Lektüre dieser Produkte polnischer politischer Gegner erhält man den Eindruck, dass den Herren Polen nicht so viel an der Schaffung eines polnischen Staates, wie vielmehr an der Vereitelung der Bildung eines ukrainischen Staates liegt.

Es ist auch zu verstehen: die Bildung eines selbständigen ukrainischen Staates ändert nämlich ein für alle Mal die Verhältnisse in Osteuropa, indem die Ukrainer vom Narew, Bug, Wepr und San im Westen bis über den Don hinaus im Osten zu einem kräftigen und durch seine internationale und geographische Lage ausschlaggebenden Faktor in Osteuropa werden, was die Liquidierung der polnischen Expansions-Pläne in Bezug auf das ukrainische Territorium herbeiführen müsste. Dagegen lässt das Hintanhalten des ukrainischen Elementes in seiner Entwicklung, wenn auch mit der Beeinträchtigung der Interessen der Zentralmächte, weil es ja mit der Beibehaltung der Machtstellung Russlands in Osteuropa unbedingt verbunden ist, den Polen die Hoffnung, dass es ihnen gelingen wird, bei besserer Konjunktur, auf Rechnung eines Teiles der Ukrainer und im Wege eines Kompromisses mit den Russen (wie es schon im 17. und 18. Jahrhundert der Fall war *) wieder zur Geltung zu kommen.

Die Öffentlichkeit beider mitteleuropäischer Mächte steht seit Dezennien unter dem einseitigen Einfluss der polnischen Informationen, infolgedessen sie gewissermaßen prädestiniert ist, die genannten polnischen Ansprüche auf nichtpolnische, hauptsächlich auf ukrainische Gebiete für berechtigt zu halten. Da es aber gar nichts Gefährlicheres in der Politik gibt, als die Illusionen, so werden wir trachten, womöglich kurz mit dem faktischen Material an der Hand den Wert dieser polnischen Anmaßungen auf nichtpolnische Länder zu beleuchten. Im voraus schon müssen wir aber bemerken, dass ein polnischer Staat mit einer ukrainisch-weißruthenisch-litauischen Mehrheit oder sogar mit einer solchen Minorität ein Monstrum wäre, welches keine Lebensfähigkeit besitzen würde, und welches in kurzer Zeit von den separatistisch-nationalen Bestrebungen zersetzt sein würde, wobei Russland die Rolle „des Befreiers“ der von den Polen bedrückten Völker übernehmen wird, so wie es vor der Teilung Polens im 18. Jahrhundert diese Rolle spielte. Solch ein Resultat wäre wirklich ein bitterer Lohn für das Blut, das jetzt die beiden verbündeten Großmächte opfern!

*) In dem Vertrage von Andrusow (1676) haben Polen und Moskowiter die Ukraine (das ukrainische Hetmanstum) längst des Dnieprlaufes in zwei Interessensphären — eine polnische, westlich vom Dniepr und eine moskowitische, östlich vom Dniepr — untereinander geteilt, was nachher noch in dem Baktschisarajer-Vertrage von 1681 und dann in dem Übereinkommen Peter des Großen mit der Polenrepublik vom Jahre 1700 bestätigt wurde. Diese Verständigung der beiden Erbfeinde der Ukraine war gegen die Staatsselbständigkeit derselben gerichtet.

In erster Reihe muss es ausdrücklich betont werden, dass die von den Polen angegebene nationale Statistik der sogenannten westrussischen Gebiete grundfalsch ist, wobei von beiden polnischen Publizisten alle slawischen Römischkatholischen (also nicht nur Polen, sondern auch Weißruthenen und Ukrainer) gerechnet werden. Anderseits gehen die Zahlenmanipulationen des Herrn Studnicki so weit, dass er von den „1—2 Millionen Ukrainer“ in dem an Polen anzugliedernden Wolhynien und Podolien spricht, während schon in Wolhynien allein zirka 3 Millionen Ukrainer, in Podolien dagegen über 3 Millionen, also zusammen in diesen zwei Gouvernements allein zirka 6 Millionen Ukrainer gibt! Ähnlich ist die gesamte Statistik und die Glaubwürdigkeit aller tatsächlichen Angaben der Herren Studnicki und Wasilewski. So z. B. sollen in dem von Herrn Studnicki projektierten Polen, das bis zur Düna, Dniepr, Kijew, Berdytschew, Umanj und Dniestr zu reichen hätte, jetzt nach seinen Angaben 30 Millionen Menschen, darunter 50% (15 Millionen) Polen und weitere 20% (6 Millionen) „Katholiken, die gleichfalls (!!) nach Polen gravitieren“, sowie 15% (4—5 Millionen) Juden wohnen. Wir wissen wirklich nicht, woher Herr Studnicki diese Zahlen herausgegriffen hat; nach der offiziellen Statistik, welche auch die ernsten polnischen Statistiker E. Czynski und Dr. Szerer im großen Ganzen bestätigen, gibt es in diesem Länderkomplex zirka 36 Millionen Menschen, darunter keine 50%, sondern nur 31% (11 Millionen) Polen und 69% Nichtpolen und zwar: 22,5 % (8 Millionen) Weißruthenen, 24% (8,5 Millionen) Ukrainer, 13% (4,5 Millionen Juden), 6% (2 Millionen) Litauer, je 3% (je 1 Million) Russen und Deutsche u. a. In konfessioneller Hinsicht gibt es außer den 31% polnischer Katholiken noch höchstens weitere 16,5% (5,5 Millionen), von katholischen Deutschen 3%, Weißruthenen 6%, Litauer 6% und Ukrainer 1,5%, also wiederum keine 20%, wie Herr Studnicki es angibt. Infolgedessen bleiben von den angeblichen 50% Polen +20% „an Polen gravitierender Katholiken“ (zusammen 70%) nur 31% + 16 ½ % zusammen 46 ½ % Katholiken. Bei derlei Zahlen erscheint uns der „polnische“ Charakter so eines polnischen Staates in einem ganz anderen Lichte, als bei den 50% + 20% = 70 % des Herrn Studnicki. Wenn man dazu noch berücksichtigt, dass die angeblichen „an Polen gravitierenden Katholiken“ alles, was polnisch ist, von Herzen hassen, so schrumpft die angebliche polnische „Mehrheit“ so eines polnischen Zukunftsstaates auf 31% der Gesamtbevölkerung zusammen. Mit der Gravitation der Katholiken zu Polen verhält es sich folgendermaßen: es ist ja eine gewöhnliche Erscheinung, dass die Litauer sich mit den Polen in den katholischen Kirchen wegen der Sprache der Kirchenlieder oder Predigten blutig raufen. Ebenso sind die katholischen Weißruthenen der nationalbewussteste Teil der Weißruthenen und, wie alle Weißruthenen, gegen die Polen, als ihre geschichtlichen Bedrücker, feindlich gestimmt. Wenn die Weißruthenen gewisse Sympathien haben, dann nur für die verwandten Ukrainer. Nicht die polnischen Bischöfe von Wilna oder von Mohiliw, sondern der ukrainische Metropolit zu Lemberg, Graf Scheptyzkij, ist bei den katholischen Weißruthenen die populärste Gestalt!

Die Anmaßungen der Herren Polen auf die ukrainischen und weißruthenischen Länder wirken umso befremdender, als die Zahl der Polen in manchen von ihnen beanspruchten Gouvernements bis zu 1% (!) sinkt. So haben wir im Gouvernement Mohyliw nur 1% Polen, in den Gouvernements Podolien und Kijew je 2%, im Gouvernement Minsk 3% usw. Mit derselben Berechtigung könnte man Berlin für eine „polnische“ und Warschau für eine „russische“ Stadt erachten. Merkwürdigerweise aber entrüsten sich gleichzeitig die Herren Polen bei dem Gedanken, dass das Gouvernement Petrikau, wo es 11% Deutsche und 14% deutschsprechende Juden, zusammen 25 % deutschsprechender Bevölkerung gibt, oder Warschau, wo die Juden mit den Deutschen die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, an Deutschland kommen kann. Die logischen Wege des polnischen politischen Gedankens sind manchmal wirklich merkwürdig. Es ist aber für eine Nation und für ihre Regierungsfähigkeit charakteristisch, dass im Momente, wo sie selbst noch nichts besitzt, schon nach dem fremden Gute die Hand ausstreckt.

Auch die polnischen Darstellungen der Verhältnisse, der Gesinnungen, der nationalen Kräfte u. ä. w. auf dem von den Polen beanspruchten Gebiete sind ganz falsch und tendenziös fabriziert. Wir haben schon davon gesprochen, dass nichtpolnische Katholiken dieser Gebiete den Polen durchaus feindlich gesinnt sind. Die Polen haben in den diesbezüglichen Ländern 17% des gesamten Bodenbesitzes in ihrer Hand und bilden eine durchaus dünne und seit einem Jahrhundert nummerisch sehr stark zurückgegangene Schicht der mit dem Volke auf ewigem Kriegsfuße lebenden Plantatoren. Wir haben sie mit dieser Benennung deshalb bezeichnet, da dieselbe uns das Verhältnis dieser Schicht zur einheimischen Bevölkerung am getreusten widerzuspiegeln scheint. Drei kleine Häuflein von den wirtschaftlich umkommenden und von den Volksmassen leidenschaftlich gehassten Individuen ist absolut nicht imstande die Millionenmassen von Ukrainer oder Weißruthenen zu regieren. So ein Staat mit 69% bedrängter Nationalitäten, und mit 1—2% der regierenden Nation in den Provinzen seiner östlichen Peripherie würde bald umkommen und von den inneren Nationalkämpfen zersetzt werden.

Das würde umso sicherer geschehen müssen, da die nationalen Bewegungen der Ukrainer, Weißruthener und Litauer gar nicht so schwach sind, wie sie es die Herren Wasilewski und Studnicki nötig haben, darzustellen. Die Litauer haben eine stark individualisierte Nationalphysiognomie und sind national in ihren Volksmassen hoch bewusst, viel höher als die Polen. Die Weißruthenen sind auch schon am Wege sich von fremden Einflüssen zu emanzipieren und bei ihrer Zahl (6—8 Millionen) sind sie gar nicht zu polonisieren — umso mehr die Ukrainer, die gegen die polnische Herrschaft Jahrhunderte blutig gekämpft haben, die in dem polnischen Staate des Herrn Studnicki noch zahlreicher als die Weißruthenen sein müssten und die in einem regen Nationalerwachen begriffen sind. Die Polen haben in ihrem geschichtlichen Staat eine Prüfung der Regierungsunfähigkeit abgelegt, indem ihre nationale und konfessionelle Unduldsamkeit den Staat zersprengten. Eben dasselbe würde auch im neuen, auf dem Rücken der Ukrainer, Weißruthener und Litauer gegründeten Staate geschehen — umso mehr, da Russland, wie es im 18. Jahrhundert das getan hat, schon verstehen wird als „Befreier“ der Orthodoxen und Nicht-Polen mit Triumpf in diese Länder zurückzukehren. So einen Staat zu bauen, hieße auf dem ganzen Gebiet ostwärts vom Njemen, Narew, Wepr, Ssan „pour le Tzar de Russie“ zu arbeiten!

In einem einzigen Falle könnte sich so ein buntsprachiges Polen eine Zeit hindurch behaupten — nämlich im Anschluss an Russland und in dem Bunde mit demselben gegen Mitteleuropa, in erster Reihe gegen Deutschland. Eine Verständigung Polens mit Russland in der Frage der westukrainischen und weißruthenischen Gebiete ist ja möglich; sie hat schon ihr Vorbild im Vertrag von Andrussow. Für den Preis, ein paar westrussische Gouvernements im Besitze Polens gutwillig zu belassen und für das Versprechen für Danzig und Polen, ohne welchen ja ein polnischer Großstaat undenkbar ist, kann Russland ganz sicher Polens Zutritt zum Bunde gegen Mitteleuropa gewinnen. Dazu kommt auch der Umstand, dass die polnische Industrie mit der deutschen keine Konkurrenz aushalten kann und ohne die russischen Absatzgebiete zur Verkümmerung verurteilt sein würde. Einen polnischen Großstaat auf nichtpolnischen Ländern zu bauen, hieße also einen Bundesgenossen Russlands in der Nähe Berlins und Wien organisieren: ein zweites Serbien! So ein polnischer Staat, von inneren Nationalfragen geplagt und keine Widerstandskraft gegen Russland besitzend, wird auch an Russlands politischen Wagen sich anspannen lassen müssen.