Die russische Gefahr.

Schon Bismarck hat Russland als den eigentlichen Friedensstörer Europas gekennzeichnet; weil ja tatsächlich nicht in dem allmählich hinsinkenden Frankreich, nicht in dem angriffsunfähigen England, sondern in dem immer wachsenden, jugendlichen, noch nicht abgebrauchten, sich organisierenden und angriffslustigen Russland die zukünftige Gefahr sogar für ein siegreiches und erweitertes Deutschland liegt. Es hat schon der jetzige Krieg gezeigt, dass der einzige ernste Gegner der verbündeten Zentralmächte Russland ist. Es hat ja der ganzen Welt viele Überraschungen gemacht, indem die russische Öffentlichkeit und das russische Offizierskorps eine von niemandem in Europa geahnte patriotische Begeisterung und Einheitlichkeit der Gesinnung an den Tag legten, indem die russische Intendantur und Kriegsführung einen ebenso unerwarteten Grad von Bildung und Leistungsfähigkeit zum Vorschein brachten und indem die Nationen, wie Polen, Litauer, Esten, Letten, Finnen, Juden usw., auf deren Abneigung gegen Russland man rechnete, wie auch die- russischen Revolutionäre sich für die russische Sache in dem Kriege begeistert erwiesen. All die Erscheinungen, die einem von den oberflächlichen „Kennern“ Russlands informierten Mitteleuropäer so unverhofft und unerklärlich erscheinen, sind im Grunde genommen einem jeden, der die ungemein rasche, ja rapide Entwickelung Russlands nach dem japanischen Kriege und der Revolution in den Jahren 1905—1906 in der Nähe beobachtet hat, durchaus verständlich. Das heutige Russland mit der Duma, mit dem politischen Leben und den paar großen Parteien, mit wachgerüttelter Öffentlichkeit und herangewachsenem Nationalgefühl, mit der fortgeschrittenen Volksaufklärung und der gewissen Beteiligung des Volkes am politischen Leben — ist gar nicht dasselbe, wie es vor dem Jahre 1905 war! Und dazu ein Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn, wegen eines Ausganges zu den südlichen Meeren und wegen der Sicherstellung der russischen Macht im Südosten Europas, ist ein Nationalkrieg im wahrsten Sinne des Wortes. Deshalb sind Plechanoff, Burzeff, Krapotkin und Miljukoff derselben Meinung in dem Kriege wie Nikolaj Nikolajewitsch, Graf Bobrinskij, Erzbischof Eulogius, Markoff und Puriszkewitsch. Immerhin für die nichtrussischen Nationen — die einzigen Ukrainer und Mohamedaner ausgenommen! — ist das jetzige Russland im Vergleich zu Deutschland nicht dasselbe, was es bis zum Jahre 1905 war. In dem Rahmen des sich entwickelnden russischen Konstitutionalismus hoffen sie ihre nationale Eigenart besser, leichter und sicherer bewahren zu können als in einem Staatsverband mit dem hochentwickelten und nach Osten drängenden Deutschtum. Gegen die Polen, Litauer, Letten, Esten und Finnen besitzt Russland keine oder fast keine Denationalisierungskraft, da die russischen Volksmassen mit dem Bauerntum, dem Bürgertum wie auch der Arbeiterschaft der genannten Völker keinen Konkurrenzkampf beginnen können und da die russische Ansiedelungsauswanderung nicht nach den dichter bevölkerten und kulturell höherstehenden Westprovinzen, sondern nach Sibirien gerichtet ist. Die politische Selbständigkeit haben zwar diese Völker eingebüßt — sie haben sich aber damit abgefunden und sich in diese Lage eingepasst; sie suchen ein Äquivalent dafür in der Konstitutionalisierung, respektive Föderalisierung Russlands. Ihr nationales Leben, ihr Nationalwesen und Nationalgrundstock sind trotz allem unversehrt geblieben. Ja! dank ihrer höheren Kulturstufe und Industrieentwicklung, dank dem großen russischen Handelsmarkt haben sich dieselben sogar in den letzten Jahren bedeutend gestärkt.

Das Geschilderte ist aber nur ein Anfangsstadium von einer großzügigen Entwicklung Russlands, die eben schon im Rollen ist und die in zwei oder drei Dezennien aus Russland eine unüberwindliche, mit ideellen und materiellen Gesamtinteressen zu einer Einheit verbundene Macht machen wird. Wie schon gesagt, sind Russland und die russische Wehrmacht im jetzigen Kriege bei weitem nicht dasselbe, was sie im japanischen Kriege waren. In einem zukünftigen Kriege aber wird Russland noch mehr vorbereitet und noch mehr kriegsbegeistert sein. Es handelt sich ja nicht um die exotischen Korkeichenwälder oder zarischen Goldgruben im Ussurilande, irgendwo am Stillen Ozean, es handelt sich um Russlands lebendigste Interessen, um dessen Macht, um dessen Weltstellung, um dessen Existenz. Ein verlorener Krieg, in welchem nur eine kleine Amputierung Russlands vom Nordwesten, ohne Russland erheblich zu schwächen, vorgenommen werden sollte, wird nur den russischen Nationalismus entwickeln, Revanchegelüste nähren, Germanenhass bis in die tiefsten Volksschichten tragen, indem einerseits die finanziellen Folgen des verlorenen Kampfes, auch dem kleinsten Mann empfindlich werden müssten, anderseits alle Parteien bei der fortschreitenden Konstitutionalisierung das Volk lehren würden, in dem Deutschtum den Todfeind zu sehen. Wenn wir dabei berücksichtigen, dass die Volksaufklärung und Industrialisierung Russlands mit Riesenschritten wachsen, so kann man sich vorstellen, mit welchem Feinde es Deutschland in zwei bis drei Dezennien zu tun haben wird.


Lassen wir auch die erwähnten sozial-kulturellen Faktoren der russischen Entwicklung bei Seite, so genügt bereits der natürliche Zuwachs der russischen Bevölkerung im Vergleich zu dem Deutschlands, Österreich-Ungarns und im allgemeinen Europas, um die zukünftige russische Gefahr für Deutschland klar zu erkennen. Die Bevölkerung Russlands belief sich im Jahre 1910 auf 169,7 Millionen Menschen, wobei der durchschnittliche alljährliche Zuwachs — im Vergleich zu dem in Europa höchsten Zuwachsprozent von 1,6—2,9 Millionen Menschen beträgt. In demselben Jahre hatte das westliche Europa 320 Millionen Einwohner, wovon auf Deutschland 65 Millionen mit dem jährlichen Zuwachsprozent von 1,4 und dem Zuwachse von 900.000 Menschen entfielen. Sogar wenn die Zuwachsverhältnisse sich gar nicht ändern — und bekanntlich ist der Zuwachs Westeuropas, ja sogar Deutschlands im Fallen begriffen — so wird der Zuwachsprozent Russlands infolge Besserung der sanitären Verhältnisse und der Kultur Dezennien hindurch eher wachsen als fallen; auf diese Weise werden nach fünfzig Jahren 350 Millionen Russlands gegen ebenso viel Millionen des westlichen Europas stehen. In vierzig Jahren werden 300 Millionen Russlands höchstens 90 Millionen Deutschlands gegenüberstehen, wenn heute den 170 Millionen Russlands 65 Millionen Deutschlands entsprechen. Das Verhältnis wird sich also automatisch zugunsten Russlands ändern und dasselbe in ein unüberwindliches Menschenmeer verwandeln. Wenn man dabei das vorhin von der inneren Entwicklung Russlands Gesagte berücksichtigt und wenn man in Betracht zieht, dass Europa auch in dem zukünftigen Kriege — ebenso wie jetzt — in zwei Kriegslager geteilt sein wird, so muss man zur Schlussfolgerung kommen, dass für den Fall, wenn Russland jetzt nicht gründlich gelähmt wird, ein jedes weitere Jahr eine Verschiebung der Kampfkräfte und Kampfbedingungen zugunsten Russlands bedeutet, was schließlich seinen endgültigen Sieg sichern muss.

Den Verbündeten Russlands in Mitteleuropa und auf dem Balkan — den Panslavismus — darf man auch keineswegs aus dem Auge verlieren, wenn man von der Zukunft spricht. Eine Kräftigung Deutschlands in Mitteleuropa, die zugleich keine Zertrümmerung Russlands bedeuten sollte, wird den Panslavismus und die Gravitierung nach Russland bei den West- und Südslaven keineswegs schwächen, sondern im Gegenteil nur stärken; von dem Deutschtum viel mehr als bisher sich bedroht fühlend, werden diese Slawen alle ihre Hoffnungen nur in einem starken Russland sehen. Nur eine Zertrümmerung Russlands und eine Abdrängung desselben aus der Nähe Mitteleuropas und des Balkans kann den Hoffnungen der West- und Balkanslawen auf Russlands Hilfe, also dem Panslawismus, ein Ende bereiten.