Die minimalste Zwischenetappe in der Lösung der ukrainischen Frage.

Die oben geschilderte Lösung der ukrainischen Frage, welche gleichzeitig auch eine endgültige Liquidierung der russischen Machtstellung in Europa bedeuten müsste, ist aber nur im Falle einer vollständigen militärischen Zertrümmerung Russlands möglich. Ob das bei der großen Zahl der Feinde Deutschlands und Österreich-Ungarns geschehen kann, muss fraglich bleiben. Viel möglicher und wahrscheinlicher ist dagegen so eine Niederlage Russlands, dass dasselbe nach Osten über den Dniepr zurückgeworfen werden wird. Es scheint sogar nicht ausgeschlossen, dass die Kriegslage selbst z. B. eine Bedrohung der südlichen Flanke der Ostfront durch neue russische Kräfte von Kijew aus oder eine ernste Bedrohung der Dardanellenfront die Zentralmächte zwingen wird, gegen Kijew und gegen Odessa vorzustoßen. In diesem Falle würde die Kriegslage selbst eine (teilweise) Lösung der ukrainischen Frage — nämlich eine Abtrennung der ukrainischen Gebiete bis zum Dniepr hinaus im Osten — herbeiführen. Dieses Ergebnis erachten wir für ein Zwischenstadium und zugleich auch für das Minimalste, was aus Rücksicht auf die Interessen Deutschlands auf die beabsichtigte Schwächung und Zurückdrängung Russlands und auf die Sicherstellung der Verbindung Berlin—Bagdad geschehen soll — obwohl wir nicht einsehen können, warum nicht das ganze ukrainische Territorium befreit werden sollte, falls es gelingt die russische Macht derart zu brechen, dass den verbündeten Armeen bereits das Gebiet bis zum Dniepr ausgeliefert sein würde.

Nach der natürlichen Linie Düna-Witebsk-Smolensk-Kursk-Saratow-Wolga-Astrachan (mit der Variante: Narwa-Peipas-Witebsk-Smolensk-Kursk-Woronesch-Don-Zarizyn-Astrachan oder Don-Manytsch-Piatygorsk) ist die Linie Düna-Witebsk-Beryna-Dniepr-Katerynoslaw-Samara (Nebenfluss vom Dniepr) - Kalnius (Fluss) -Asowsches Meer-Kertschische Meerenge die zweite Grenzscheide zwischen Russland und Europa, die eine natürliche Grundlage besitzt und zugleich die großen Aufgaben des Krieges (beträchtliche Schwächung und Zurückdrängung Russlands und Sicherstellung des Weges von Berlin nach Bagdad!) zu wahren geeignet ist. Düna, Beresyna-Sümpfe, Dniepr-Strom mit dem höheren rechten Ufer und das Asowsche Meer sind die natürlichen Grenzen, welche geeignet, die westwärts von denselben gelegenen Gebiete vor dem russischen Andrange zu schützen. Dabei wird Russland von dem Schwarzen Meere und von seinen besten Häfen (Odessa, Mykolajiw, Sebastopol) genug weit zurückgedrängt, und verliert auch die fruchtbarsten Gebiete der Ukraine (Podolien, Süd-Kijew, Katerynoslaw, Cherson, Taurien) und einen Teil der ukrainischen Gruben (Krywyj Rih und Kertsch).


Ein selbständiger ukrainischer Staat in den Grenzen Beresyna- Dniepr-Samara-Kalnius-Asowsches und Schwarzes Meer nach Osten und Südosten würde schon auch ein ziemlich starkes Staatsgebilde sein, das nicht zu schwach, um dem russischen Drang nach dem Meer und gegen Westen ganz ernst die Stirne zu bieten. So ein Staat würde eine Oberfläche von zirka 550.000 km2 (so groß wie das bisherige Deutschland) und eine Bevölkerung von zirka 28 Millionen Menschen (darunter zirka 17 Millionen Ukrainer, zirka 4,5 Millionen Weißruthenen, zirka 700.000 Polen, ebenso viel Deutsche, zirka 2 Millionen Russen und zirka 3 Millionen Juden) haben. Insgesamt mit Polen, Litauen und den Ostseeprovinzen wäre das schon für Russland ein Verlust von 50 Millionen Menschen, ein Verlust von allen noch zu Europa zu zählenden Gebieten und von allen Handels- und Kriegsmarinehäfen. Zu dem letzteren Zwecke aber muss an eine bis zum Dniepr reichende Ukraine auch das linksseits des unteren Dniepr gelegene und den östlichen Teil des Gouvernements Katerynoslaw und das Gouvernement Taurien (mit Krim) umfassende Gebiet angegliedert werden, weil Russland sonst Odessa, Mikolajew und Konstantinopel bedrohen und das Schwarze Meer beherrschen könnte und da nur in dem Falle Russland seinen Kriegshafen Sebastopol verliert. Erst die Losreißung dieser Gebiete von Russland — wie es im Jahre 1853 die damalige Wochenblatt-Partei in einer Denkschrift an den König von Preußen vorgeschlagen hat — verdrängt dasselbe gänzlich vom Schwarzen Meere. Allerdings bliebe die ukrainische Frage in diesem Falle noch nicht gänzlich in ihrem Gesamtumfange gelöst, da über 14 Millionen Ukrainer in den östlich-ukrainischen Gebieten Tschernyhiw, Charkiw, Poltawa, Kubanj und von den angrenzenden Bezirken der Gebiete Kursk, Woronesch, Don, Samara, Stawropol, Perek bei Russland bleiben müssten — darunter auch die Gebiete Poltawa, Tschernyhiw, Charkiw und Kubanj, die zu den etnogr. reinsten und national am meisten bewussten ukrainischen Gebieten gehören. Zum Schluss dieses Kapitels ist zu bemerken, dass eine höchst .angezeigte Variante der hier besprochenen Grenzlinie Dniepr-Asowsches Meer die Linie Dniepr-Samara-Donetz, Don-Rostow-Asowsches Meer wäre, wodurch die großen Kohlen- und Eisengruben des Donetz-Gebietes an die Ukraine kommen würden. Diese Gruben versorgen ganz Russland mit Kohle und Eisen; ohne diese ist die Industrie Zentral-Russlands ruiniert.