Die großen, durch den jetzigen Krieg zu lösenden Aufgaben und die Bildung eines ukrainischen Staates.

Die Sicherstellung der Machtstellung Deutschlands in der Welt, eines konstanten Friedens und der Freiheit großer und kleiner Nationen (darunter die Befreiung der Balkanvölker von der russischen Vormundschaft), eines ununterbrochenen Weges von Berlin nach Bagdad und Sicherstellung Mitteleuropas und des Balkans vor der russischen Eroberungssucht — das sind, wie gesagt, die konkreten, großen, durch diesen Krieg zu lösenden Aufgaben, die den von dem Reichskanzler gestellten politischen Thesen entsprechen können; diese großen Aufgaben, die eigentlich alle auf den gemeinsamen Nenner einer definitiven Schwächung Russlands und der Stabilisierung eines großen Staatensystems von der Nordsee bis zum Persischen Meerbusen — zurückgeführt werden können, sind nur dann zu erreichen, wenn Russland von dem Schwarzen Meer zurückgedrängt und ein starker Riegel zwischen Russland und die Karpaten-Donau-Linie eingeschoben wird. Das aber kann nur durch die Abtrennung der Ukraine von Russland und durch die Bildung eines ukrainischen Staates zwischen Narew und dem Schwarzen Meer erlangt werden.

Es wurde schon in dem vorigen Kapitel erwähnt, dass die jetzige Machtstellung Russlands in Europa mit dem Sieg Peters des Großen bei Poltawa (1709) und mit der Einnahme Kijews und der Ukraine durch die Russen gegründet wurde. Was nachher geschah: Die Einnahme von Krim und von Bessarabien, wie auch die Teilung Polens, — das waren nur natürliche Folgen der Eroberung der Ukraine durch die Russen, indem durch den Sieg bei Poltawa, der bisher zu der ukrainischen Saporoger Republik gehörende unterste Dnieprstromlauf in die Macht der Russen geriet und indem in Kijew eine Operationsbasis gegen Polen geschaffen wurde, was Polen schon bald zu spüren bekam. Bis zur Schlacht bei Poltawa war Russland — bis dahin noch „Moskowien“ genannt! — ein Binnenstaat des Wolgabeckens mit asiatischem Gepräge und asiatischen, nach Osten gerichteten, höchstens aber mit nordischen Interessen. Peters des Großen baltische Flottenbauprojekte, seine Kämpfe mit Schweden um die Ufer des Finnischen Meerbusens, seine „Reformen“ der Sitten der russischen Bojaren u. dgl. waren nur Extravaganzen eines Europa nachahmenden und geistreichen, aber auch rücksichtslosen Barbaren — denn im Grunde genommen, alles das änderte beinahe gar nichts und konnte auch nicht viel an der Stellung Russlands in Osteuropa ändern. Erst nach der Schlacht bei Poltawa wendete sich rapid und radikal die Bahnlinie der russischen Geschichte. Nicht durch Petersburg und den Finnischen Meerbusen, sondern durch Kijew und die Ukraine kam Russland zu Europa und umgekehrt ein Stück von Europa kam zu Russland.


Denn die Besetzung der Ufer des Finnischen Meerbusens hatte für Russland weder eine politische noch eine militärische Bedeutung. Von der Newamündung aus konnte ja Russland niemanden beeinflussen. Von Petersburg aus konnte sich Russland nirgends mehr ausbreiten. Die Newamündung war bereits zwei bis drei Jahrhunderte vor Peter dem Großen schon in den Händen Moskowitiens, wo auch zwischen Moskowitern und Schweden, wie auch Moskowitern und deutschen Ordensrittern öfters Grenzschlachten ausgefochten wurden. Der Besitz oder abermalige Verlust dieses Meerufers hatte aber keinen Einfluss auf die Entwicklung und Stellung Moskowitiens gehabt, da dies seine Eroberungen im Osten und Südosten unbekümmert um die Vorfälle an der Ostseeküste weitermachte.

Anders war es dagegen mit der Besetzung der Linie Kijew-Dnieprmündung nach dem Jahre 1709. Peter der Große war sich der Bedeutung dieser Besetzung bewusst, indem er nach der Niederlage an der Narew und nach dem Verlust der Ostseeküste alle Kräfte einsetzte, um nur die Ukraine zu beherrschen und den Zutritt zum Schwarzen Meere zu gewinnen. Mit dem Moment, als ihm das gelungen war, wurde Russland zu dem, wovon Peter der Große geträumt hatte. Es tritt aus dem Wolgabecken, aus der nach Asien inklinierenden Lage heraus und das Übergewicht seiner Interessen versetzte sich nach Süden, eigentlich nach Südwesten. Es schimmerte ihm mit dem Moment in den politischen Träumen die Kuppel der Aja Sophia entgegen und es wurde mit dem Moment zu dem „Beschützer“ der Christen in der Türkei und der Slawen in der Donaumonarchie. Und die ukrainischen, weißruthenischen und litauischen Gebiete Polens mussten ihm nachher schon im Wege eines natürlichen Anwachsens zukommen. Die Teilung Polens war schon bei Poltawa (1709) gegeben. Damals schon seit der Einnahme Kijews und der Ukraine hörte Polen auf, ein selbständiger Staat zu sein. Russische Truppen hausten oftmals in seinen östlichen Provinzen und russische „Residenten“ in Warschau lenkten nach ihrem Willen die Politik der Königsrepublik, terrorisierten mit ihren Schutztruppen den polnischen Landtag und die polnische Regierung, deportierten nach ihrem Belieben die Russland feindlich gesinnten Politiker und dgl. Die nachmalige Teilung Polens war nur die Legalisierung der faktisch seit der Schlacht bei Poltawa sich entwickelnden Verhältnisse und Machtverschiebungen.

Diesen geschichtlichen Rückblick erachten wir für angezeigt, da unter dem Einfluss der polnischen politischen Emigration aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich in Europa die allgemeine Meinung eingebürgert hat, als ob erst nach der Teilung Polens Russland Europa bedroht hat und demzufolge der Schlüssel zur Abwendung dieser russischen Gefahr irgendwo an der Weichsel liegt. Nur eine volle Unkenntnis der osteuropäischen Geschichte und der osteuropäischen Verhältnisse konnte die Verbreitung dieser grundfalschen Meinung begünstigen, wobei es die Polen, dank ihrer aristokratischen Beziehungen, verstanden haben, den allgemeinen Daltonismus in Europa in den osteuropäischen Fragen auszunützen, um ihrer Frage eine zu ihrer wirklichen Bedeutung unverhältnismäßige Reklame zu machen.

Wenn aber Russland wirklich geschwächt, wenn es gleich dem Damokles’ Schwert über Mitteleuropa zu hängen aufhören, wenn sein Einfluss auf die Slawen der Donaumonarchie und des Balkans gebrochen, wenn schließlich Konstantinopel, die Meerengen, Anatolien und die Bagdadlinie vor Russland wirklich geschützt werden sollen, dann müssen an den nördlichen Ufern des Schwarzen Meeres und an dem mittleren und unteren Dnieprstrome die Zustände aus der Zeit vor dem Jahre 1709 hergestellt, Russland vom Schwarzen Meere nach Nordosten zurückgedrängt und zwischen Mitteleuropa und dem Balkan einerseits und Russland andererseits ein starker Riegel hineingeschoben werden. Es muss ein ukrainischer Staat hergestellt werden.

Die gesamte russische Balkan- und Slawenpolitik, seine Träume von der Aja Sophia und den Dardanellen, wie auch von Bagdad und dem Persischen Meerbusen, zuletzt der gesamte Panslawismus der West- und Südslawen brechen dann in einem Nu zusammen. Eine direkte von der Veränderlichkeit der Balkanverhältnisse und vom Nordosten geschützte Verbindung Berlins mit Bagdad (Berlin-Warschau-Kijew-Rostow-Tyflis-Bagdad oder Berlin-Warschau-Wolhynien-Odessa-Trapezunt- Bagdad, oder auch Berlin-Lemberg-Odessa-Trapezuni-Bagdad) ist dann auf unabsehbare Zeit gesichert, Russlands Machtstellung im Südosten Europas ein für alle Mal gebrochen und eine militärische Bedrohung des Balkans oder der Karpatenlinie ausgeschlossen.

Zu diesen politischen Erwägungen kommen noch die innerwirtschaftlichen und die völkischen in Betracht. Die Ukraine ist die Korn-, Rinder-, Kohlen- und Eisenkammer Russlands und ihre Bevölkerung beläuft sich auf zirka 50 Millionen Menschen. Der Verlust der Ukraine für Russland bedeutet nicht nur den Verlust von 50 Millionen (und wenn dazu die obenerwähnten polnischen und nordwestlichen Provinzen zugerechnet werden) von zirka 75 Millionen Menschen nichtrussischer Abstammung — sondern auch den Verlust von 39% (mit Polen und Nordwestrussland 48,18%) der Getreideproduktion, 33% des Viehbestandes, 75% (mit Polen 86%) der Kohlenproduktion und 70% (mit Polen 72,5%) der Eisenproduktion. Dadurch wird Russland ökonomisch und finanziell ruiniert und erst nach dem Verlust so einer Menschenmasse und so einer Wirtschaftskammer wird es aufhören, Europa zu bedrohen. Jahrhunderte lang wird es ohnmächtig sein, seine Eroberungspolitik in Europa wiederum aufzunehmen. Es wird gezwungen werden, alle seine Interessen Kräfte, Gedanken und Gefühle nach Osten, nach Nord- und Zentralasien zu richten. Das wird die beste Bürgschaft des Weltfriedens und der zukünftigen Machtstellung Deutschlands sein.