Die Bismarck-Hartmannsche Lösung der ukrainischen Frage.

Bei der Erörterung, in welchen Grenzen und in welcher Größe ein ukrainischer Staat zu schaffen wäre, müssen wir selbstverständlich mit den militärischen und internationalen politischen Möglichkeiten rechnen; es ist klar, dass die Frage anders im Falle einer vollständigen Niederringung Russlands und anders im Falle eines Halbsieges über dasselbe gelöst werden kann. In jedem Falle muss aber zur Voraussetzung dieser Lösung eine Offensive der Zentralmächte in der Richtung gegen Kijew und Odessa sein, eine Offensive, die auch eine direkte Verbindung der Ostfront mit der Dardanellenfront über Odessa zu ermöglichen imstande ist.

Eine ideelle, wünschenswerteste Lösung der ukrainischen Frage wäre die, die im Jahre 1887/88 von dem Philosophen Hartmann, einem politischen Freunde Bismarcks und nach der damals allgemein herrschenden Anschauung im geheimen Einvernehmen mit dem großen Kanzler in der „Gegenwart“ vorgeschlagen wurde. Es ist die Bildung eines Königreichs Kijew mit der Nordostgrenze in der Linie Witebsk-Dniepr-Kursk-Saratow-Wolga-Astrachan als einer natürlichen, von der Wasserscheide Dniepr-Don-Wolga geschaffenen Grenze zweier Wasserbecken: des Schwarzmeer- und des Wolgabeckens. Das Schwarzmeerbecken gehört noch zur mittelländisch-europäischen Welt und hat eine natürliche kulturelle und wirtschaftliche Inklination über das Schwarze Meer nach Südwesten und über das reiche Wassersystem Weißrutheniens und Litauens nach Westen. Das Wolgabecken dagegen inkliniert mit dem Laufe der Wolga nach Osten, nach Zentral- und Nordasien, dem es kulturell und wirtschaftlich angehört. Demzufolge ist die Linie Witebsk-Kursk-Saratow eine konstante Grenzlinie, wie sie es wirklich seit dem Beginn der Geschichte Osteuropas war. Bis dahin reichten ja die Einflüsse Phöniziens und Griechenlands wie auch des Scythenreiches im Altertum; es war auch die Grenze der gotischen Machtsphäre und der byzantinischen Kultureinflüsse in den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt. Im 8. bis 10. Jahrhunderte war es die nordöstliche Grenze des altukrainischen Kijewer-Staates, den man als den Staat des Schwarzmeer-Nordbeckens, hauptsächlich aber des Dnieprbeckens bezeichnen kann. Nach der relativ kurzen Episode des 11. Jahrhunderts, als sich das altukrainische Kijewer-Reich über diese Grenzlinie nach Nordosten in die moskowitischen Länder ausbreitete, kommt diese Grenzlinie im 12. Jahrhundert wiederum zur Geltung, indem sie im 12. Jahrhunderte und noch mehr im 13. zur Grenze zweier, respektive dreier Staatssysteme: des moskowitischen im Nordosten, des in dem Galizisch- lodomerischen Königreiche sich kristallisierten ukrainischen im Südwesten und des weißruthenisch-litauischen im Westen wird.


Seit dem 14. Jahrhunderte läuft in der Linie die Grenze zwischen Litauen — nachher Litauen und Polen einerseits und Russland (Moskowitien) andererseits. Im 13. Jahrhunderte ist das die Grenze zwischen Litauen und der ukrainischen Hetmanenrepublik einerseits und Russland (Moskwitien) andererseits. Erst mit Ende des 18. Jahrhunderts bricht diese geschichtliche Grenzlinie unter dem Druck der russischen Expansion nach Südwesten ein und alle die Länder südwestlich dieser Linie (Ukraine, Weißruthenien, Litauen, Kurland, Krimchanat mit dem Schwarzen Meere, Vorkaukasien, Polen und Bessarabien) geraten in der kurzen Zeit von einigen Dezennien in russische Gewalt. Diese Linie ist auch eine Scheidelinie zwischen dem russisch-esthischen Territorium einerseits und dem baltisch-weiß- ruthenisch-ukrainisch-vorkaukasischen andererseits. — Nordostwärts der Linie leben 76 Millionen der Russen (Moskowiter, Großrussen) und zirka 20 Millionen von den kleineren, nichtrussischen Völkern nordasiatischen Ursprungs, südostwärts 72 Millionen durchweg Nichtrussen, darunter so große Stämme wie Ukrainer (über 30 Millionen), Polen (zirka 11 Millionen), Weißruthenen (bis 8 Millionen) und so national individualisierte Völker wie Deutsche (über 2,3 Millionen), Litauer (über 2,2 Millionen), Leten (bis 2 Millionen), Esthen (1,3 Millionen), Juden (6,6 Millionen), Rumänen (1,3 Millionen), Armenier (1,4 Million), Georgier (bis 2 Millionen) usw. Russland in der Linie zu teilen, das heißt eine ganze Reihe von Völkern emporkommen zu lassen und seinem Vordringen nach Südosten einmal Halt zu gebieten.

Ein ukrainischer Staat mit der Nordostgrenze in der Linie Witebsk- Kursk-Saratow und im Westen an Deutschland und Österreich gelehnt, wäre wirklich eine genug starke und dauernde Barriere Mitteleuropas gegen Russland, indem er ein Nachgebilde so konstanter Staatssysteme wie der altruthenische Kijewer-Staat vom 8. bis 13. Jahrhunderte, oder der litauisch-ruthenische vom 13. bis 16. Jahrhunderte, mit dem polnisch litauischen Nachfolger vom 16. bis 18. Jahrhunderte sein würde. Die Zahl eines derartigen ukrainischen (ruthenischen) Staates würde sich auf zirka 50 Millionen Menschen, davon über 30 Millionen Ukrainer (Ruthenen) und 6 bis 8 Millionen, den Ukrainern am nächsten verwandten Weißruthenen belaufen.

Das geschlossene ukrainische Gebiet bilden die Gouvernements: Cholm, Wolhynien, Kijew, Podolien, Cherson, Katerynoslaw, Tschernyhiw, Poltawa, Charkiw und das Kubanj-Gebiet am Kaukasus, wozu noch die angrenzenden Bezirke der nachbarlichen Gouvernements Grodno, Minsk, Bessarabien, Kursk, Woronesch Samara, Stawropol und des Don-Landes zuzurechnen sind.

Das gesamte geschlossene Gebiet der russischen Ukraine beträgt zirka 775.000 km2, ist also um 234.000 km2 größer als Deutschland und um 100.000 km2 größer als Österreich-Ungarn. Die auf dem Gebiet verstreuten Fremdvölker (Polen zirka 700.000, Deutsche zirka 700.000, Juden zirka 3 Millionen, Russen zirka 3 Millionen, Tataren zirka 500.000, Rumänen zirka 500.000, Bulgaren zirka 200.000 und andere) — die etwaigen Deutschen und Juden ausgenommen — haben keine Widerstandskraft gegen die Ukrainisierung und ukrainisieren sich wirklich schon jetzt, umso mehr werden sie es aber in einem ukrainischen Staate. Dazu sind sie auf dem großen Gebiet der Ukraine zerstreut und bilden keine größeren Sprachinseln, die gegen die Entnationalisierung und das Zusammenschmelzen mit der Bevölkerungsmasse widerstandsfähig wären.

Was die Juden anbelangt, so sind sie alle der ukrainischen Sprache mächtig, indem sie dieselbe nach ihrem Jargon am besten sprechen. Es ist dies ja ihre Vermittlungssprache bei dem Geschäftsverkehr mit der Landesbevölkerung.

Ein besonderes Wort gehört auch den Weißruthenen (fälschlich „Weißrussen“ genannt!) Sie sind ein slawischer Stamm nach der Sprache, den Sitten, der Kultur, den Gebräuchen, der Literaturgeschichte und der politischen Geschichte den Ukrainern (Ruthenen) am nächsten stehend. Seit der geschichtlichen Dämmerung Ende des 18. Jahrhunderts war ihre und der Ukrainer Kultur, Glauben, Literatursprache und Nationalgeschichte gemeinsam, indem sie anfangs (9.—13. Jahrhundert) in dem alten ukrainischen Kijewer Staate, nachher in dem litauisch-ruthenischen (14.—16. Jahrhundert) und zuletzt in dem polnisch-litauischen mit den Ukrainern (Ruthenen) zusammenlebten, dieselbe Literatursprache gebrauchten, der Kijewer Metropolie angehörten, mit den Ukrainern zusammen gegen Polen Aufstände machten und mit den Ukrainern zusammen denselben schrecklichen Druck seitens Russlands zu ertragen hatten. — Die politischen Traditionen und die politischen Sympathien und Antipathien sind bei den Weißruthenen dieselben wie bei den Ukrainern: Der Pole und der Russe sind die National-Feinde der Weißruthenen und werden von ihnen herzlich gehasst. Es gibt dagegen eine rege, auf der Basis der gemeinsamen Tradition und gemeinsamen Interessen gestützte Sympathie bei den Weißruthenen den Ukrainern gegenüber und auch umgekehrt. Zwischen der jungen weiß-ruthenischen Intelligenz und den Ukrainern gab es bis in die letzte Zeit rege Beziehungen, welche die große Ähnlichkeit der Sprache, der Sitten und Volkskultur sehr begünstigten. Die Sprache der Weißruthenen erachtet ein Teil der Slawisten für ein selbständiges slawisches Idiom, für eine Übergangssprache zwischen dem ukrainischen und russischen. Andere dagegen halten es für eine Abart des Ukrainischen, welchem es in der Lexik, im Syntax, Phraseologie und Flexion fast identisch ist und von welchem sie nur durch die Aussprache mancher Laute abweicht.

Die Weißruthenen, welche in der Gesamtzahl von zirka 8 Millionen die Gouvernements Mohylew, Witebsk, Smolensk (südwestliche Hälfte), Minsk (nördlicher Teil), Grodno (nordöstlicher Teil) und Wilna — also den oberen Lauf der Flüsse Dniepr, Düna, Njemen, Narew und Berezyna bewohnen, sind wegen ihrer nicht allzu beträchtlichen Zahl, ihrer unselbständigen geographischen Lage und ihrer schwachen nationalen Entwicklung nicht imstande, ein selbständiges Staatswesen zu bilden. Wie gesagt, sind sie gegen ihre Unterdrücker — Polen und Russen feindlich gesinnt. Aus geographischen und politischen Rücksichten werden sie sich sehr gerne an die Ukraine anschließen. Sie bei Russland zu belassen wäre ein Irrtum, da sie auf ihre eigenen Kräfte angewiesen, der Russifizierung zum Opfer fallen müssten und so die Zahl der Russen in Europa vermehren würden. Dagegen an die Ukraine gelehnt und mit der Möglichkeit der Entwicklung der eigenen Sprache, Schule und Kultur werden sie sich auch zu einem Hemmnis gegen die Fortschritte des Russentums nach Westen herausbilden. Jedenfalls wenn man von der Linie Witebsk, Smolensk, Kursk, Saratow als Grenzscheide zwischen Europa und Russland spricht, so müssen die Weißruthenen in die Rechnung ebenfalls hineingezogen werden.